Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 30.06.2003
Aktenzeichen: 5 Ws 26/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 81 Abs. 1
StPO § 81 Abs. 2
Zu den Voraussetzungen einer Anordnung der Unterbringung zur Beobachtung.
Oberlandesgericht Stuttgart - 5. Strafsenat - Beschluss

5 Ws 26/2003

20 Js 32159/01 StA Stuttgart

vom 30. Juni 2003

in der Strafsache gegen

wegen exhibitionistischer Handlungen,

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 14. April 2003

aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Waiblingen hat den Angeklagten am 12. Februar 2002 wegen eines Vergehens der exhibitionistischen Handlung zu einer dreimonatigen zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts ist der Angeklagte am 09. März 2001 gegen 17.45 Uhr im Treppenhaus des Gebäudes in K. der Zeugin W., einer Hausmitbewohnerin - um sich sexuell zu erregen bzw. zu befriedigen - mit entblößtem Glied, die Hose bis zu den Knöcheln heruntergelassen, gegenübergetreten, wobei er über sein Glied ein rotes Kondom gestreift hatte.

Nachdem der Angeklagte bereits im Jahr 2000 in der geöffneten Wohnungstür seiner Wohnung mit heruntergelassener Hose gestanden und sich einer Hausbewohnerin mit einem über sein Glied gezogenen Kondom gezeigt hatte (das insoweit geführte Ermittlungsverfahren wurde am 05. Dezember 2000 nach Zahlung einer Geldbuße gemäß § 153 a StPO eingestellt), ist der Angeklagte im vorliegenden Verfahren auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft am 02. November 2001 von einem Facharzt für psychotherapeutische Medizin, dem Leiter des Zentrums für Psychiatrie in W., untersucht worden.

Der Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass die Exploration und Befunderhebung unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben und der Tathergangschilderung eine passiv exhibitionistische Tat zeigt, die im Zusammenhang mit der Persönlichkeitsanalyse trotz der Wiederholung keine aktive Durchsetzung sexueller Impulse am Sexualobjekt erkennen lässt. Nach den sachverständigen Ausführungen lassen sich außerdem keinerlei Anhaltspunkte für eine psychotische Grunderkrankung und für ein epileptisches Leiden finden; darüber hinaus sind affektive Störungen von krankhaftem Ausmaß nicht nachweisbar.

Den Angaben des Sachverständigen folgend, der beim Angeklagten von einer intellektuellen Schwachbegabung ausgeht, kam das Amtsgericht zu der Überzeugung, dass sich der Angeklagte zum Tatzeitpunkt nicht in einem die Schuldfähigkeit einschränkenden oder ausschließenden Zustand befunden hat.

Gegen das vorgenannte Urteil des Amtsgerichts Waiblingen hat der Angeklagte Berufung eingelegt. Nachdem der Angeklagte im Berufungsverfahren - erstmals - das Ergebnis einer testpsychologischen Untersuchung vom 20. November 2001 vorgelegt hat, worin aufgrund der festgestellten deutlichen Einschränkungen im intellektuellen Basisbereich der Verdacht auf eine frühkindliche Hirnleistungsstörung geäußert wurde, hat das Landgericht Stuttgart am 12. August 2002 die Einholung eines - weiteren - Sachverständigengutachtens zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten angeordnet und zum Sachverständigen Dr. W., Wi., bestellt. Sollte das Gutachten eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der ihm vorgeworfenen Tat feststellen, ist auch zur Frage einer etwaigen Unterbringung gem. § 63 StGB Stellung zu nehmen. Das Landgericht hat in dem Beschluß außerdem darauf hingewiesen, dass eine "einstweilige Unterbringung" in einem psychiatrischen Krankenhaus geprüft werde, wenn der Angeklagte Vorladungen des Sachverständigen freiwillig keine Folge leisten sollte.

Der Sachverständige, dem die Strafakten zur Einsichtnahme übersandt wurden, hat den Angeklagten daraufhin aufgefordert, zum Zwecke der persönlichen Begutachtung am 14. Oktober 2002 in einem Raum im Landgerichtsgebäude zu erscheinen. Nach Eingang der Vorladung teilte der Angeklagte dem Sachverständigen jedoch mit, dass er den Begutachtungstermin nicht wahrnehme, er werde sich keiner psychiatrischen und/oder testpsychologischen Begutachtung mehr unterziehen. Trotz eines weiteren Hinweises auf die mögliche Anordnung der "vorläufigen Unterbringung" kam der Angeklagte der Einladung des Sachverständigen nicht nach.

Das Landgericht hat deshalb dem Sachverständigen am 3.3.2003 die Absicht mitgeteilt, die "einstweilige Unterbringung" des Angeklagten zum Zwecke der Begutachtung anzuordnen und - im Hinblick auf eine nur kurze Unterbringungszeit - angefragt, in welchem Zeitraum dieser zu der anstehenden Untersuchung zur Verfügung stehen könnte. In einem Telefonat vom 11. März 2003 teilte der Sachverständige dem Landgericht daraufhin mit, er könne die Begutachtung ab Ende des Monats März 2003 durchführen, wobei die Begutachtung "sinnvoll erst nach einer mindestens einwöchigen Unterbringung sei" und er hierfür die Akten benötige.

Nach - telefonischer - Anhörung der Verteidigerin hat das Landgericht durch den angefochtenen Beschluss am 14. April 2003 zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Angeklagten dessen Unterbringung zur Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

II.

Die gegen diesen Beschluss gerichtete, rechtzeitig eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig (§ 81 Abs. 4 Satz 1 StPO) und begründet.

Der angefochtene Beschluss kann keinen Bestand haben, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung gem. § 81 StPO nicht vorliegen.

1. Der Beschluss des Landgerichts leidet bereits an einem durchgreifenden Verfahrensmangel.

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt gemäß § 81 Abs. 1 StPO die vorherige Anhörung eines Sachverständigen über die Unerlässlichkeit der stationären Aufnahme voraus.

a. Den insoweit an die Anhörung eines Sachverständigen zu stellenden Anforderungen ist nur dann genügt, wenn der Sachverständige grundsätzlich nach persönlicher Untersuchung des Betroffenen (aa) ein schriftliches Gutachten erstattet (bb).

aa. Nach dem Wortlaut des § 81 Abs. 1 StPO gebietet die Vorschrift zwar nicht, dass der Anhörung des Sachverständigen eine persönliche Anhörung des Betroffenen durch den Sachverständigen vorausgehen muss. Jedoch besteht in Rechtsprechung und Literatur weitgehend Einigkeit darüber, dass die Stellungnahme nur dann der Vorschrift des § 81 StPO entspricht, wenn sich der Sachverständige zuvor einen persönlichen Eindruck von dem Unterzubringenden verschafft hat (OLG Celle NStZ 91, 599; OLG Karlsruhe StV 84, 369; MDR 84, 72; OLG Düsseldorf StV 98, 638; StV 93, 571; Meyer-Goßner StPO, 46. Aufl., § 81 Rdnr. 11 m.w.N.). Dieser Auffassung folgt auch der Senat. Denn durch die Unterbringung wird das Grundrecht der persönlichen Freiheit des Betroffenen eingeschränkt. Ein solch schwerwiegender Eingriff erfordert neben einer strikten Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch die Feststellung, dass die Unterbringung unerlässlich ist, d.h. ohne sie die psychische Verfassung des Betroffenen nicht beurteilt werden kann (vgl. BVerfG StV 95, 617, 618). Die für diese Feststellungen notwendigen Erkenntnisse wird der Sachverständige in der Regel nicht durch bloßes Aktenstudium, sondern nur dadurch gewinnen können, dass er sich einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft.

bb. Sofern nicht eine richterliche Verhandlung in Anwesenheit sämtlicher Beteiligter stattfindet, hat sich der Sachverständige schriftlich zu äußern, wobei er in seinem Gutachten zu dem Erfordernis der Unterbringung und deren voraussichtlicher Dauer Stellung nehmen muss (OLG Düsseldorf StV 93, 571; OLG Frankfurt StV 86, 51). Eine telefonische Äußerung gegenüber dem Gericht reicht keinesfalls aus (OLG Karlsruhe MDR 84, 72; OLG Düsseldorf a.a.O.; KK-Senge StPO, 4. Aufl., § 81 Rdnr.8; Meyer-Goßner StPO, 46. Aufl., § 81 Rdnr. 12). Telefonische Informationen gegenüber dem Gericht können schon deshalb nicht genügen, weil in diesem Fall der anschließend zu hörende Verteidiger nicht in die Lage versetzt wird, zur Unterbringungsfrage sachgerecht und umfassend Stellung zu nehmen.

b. Die insoweit erforderliche Anhörung wird im vorliegenden Fall nicht dadurch entbehrlich, dass der Angeklagte auch nach Androhung der Unterbringung durch das Gericht der Einladung des vom Gericht bestellten Sachverständigen zur Untersuchung nicht nachkommt. In solchen Fällen besteht grundsätzlich die Möglichkeit, die Vorführung des Angeklagten vor das Gericht zu veranlassen und insoweit den durch § 80 StPO vorgezeichneten Weg zu gehen (vgl. OLG Celle NStZ 1991, 599), um dem Sachverständigen vor der vorgeschriebenen Anhörung die Möglichkeit zu bieten, einen persönlichen Eindruck von der zu begutachtenden Person zu gewinnen. Zwar wird - wenn auch beschränkt auf seltene Ausnahmefälle - die Auffassung vertreten, unter Umständen könne es genügen, wenn sich der Sachverständige seine Meinung aufgrund des Aktenstudiums bilde (vgl. u.a. HansOLG Hamburg MDR 64, 434; OLG Celle NStZ 1989, 242). Diese Frage braucht indes nicht abschließend entschieden zu werden, da aus der Stellungnahme des Sachverständigen - was hier nicht der Fall ist - hervorgehen muss, inwieweit eine derartige Ausnahmesituation vorgelegen hat (OLG Karlsruhe NJW 1973, 573; StV 1984, 369).

Diesen Erfordernissen genügen der Schriftverkehr der Berufungskammer mit dem Sachverständigen und die Äußerung des Sachverständigen im Telefonat mit dem Strafkammervorsitzenden vom 11. März 2003 nicht. Die Formulierung in dem an den Sachverständigen gerichteten Schreiben des Landgerichts vom 03. März 2003, in dem diesem im Hinblick auf die Weigerung des Angeklagten zur Mitwirkung an der Untersuchung die Absicht der Kammer mitgeteilt wurde, die "einstweilige Unterbringung" des Angeklagten zum Zwecke seiner Begutachtung anzuordnen und der Sachverständige vorab um Mitteilung gebeten wurde, in welchem Zeitraum er zu der anstehenden Untersuchung zur Verfügung stehen könnte, legt sogar den Schluss nahe, dass das Landgericht den Sachverständigen zu der eigentlichen Frage über die Unerlässlichkeit der stationären Aufnahme nicht konkret anhören wollte. Ungeachtet dessen liegt jedenfalls keine schriftliche, vielmehr nur eine mündliche Äußerung des Sachverständigen vor, die auf die Notwendigkeit einer Unterbringung des Angeklagten zur Beobachtung und deren voraussichtlicher Dauer nicht detailliert eingeht, nachdem der Sachverständige nur mitteilt, "sinnvoll sei die Begutachtung erst nach einer mindestens einwöchigen Unterbringung".

Mithin sind die an die Anhörung des Sachverständigen zu stellenden Anforderungen nicht erfüllt. Die angefochtene Entscheidung kann deshalb bereits wegen der Nichtbeachtung des vorgeschriebenen Verfahrens keinen Bestand haben.

2. Die erfolgte Anordnung der Unterbringung erweckt auch im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bedenken.

Eine Unterbringung ist nur dann zulässig, wenn diese unerlässlich ist (BVerfG StV 95, 617; StV 2001, 657, 658). Vor einer Anordnung nach § 81 StPO müssen deshalb erst alle anderen Mittel ausgeschöpft sein, um zu einer Beurteilung der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten zu kommen (vgl. Meyer-Goßner StPO, 46. Aufl., § 81 Rdnr. 8 m.w.N.). Eine Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Beobachtung kann dann nicht erfolgen, wenn der Betroffene sich weigert, sie zuzulassen bzw. bei ihr mitzuwirken, soweit die Untersuchung nach ihrer Art die freiwillige Mitwirkung des Betroffenen voraussetzt (vgl. BGH StV 1994, 231). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Exploration erforderlich wäre, diese aber vom Betroffenen verweigert wird und ein Erkenntnisgewinn deshalb nur bei einer Einflussnahme auf die Aussagefreiheit des Betroffenen zu erwarten ist (vgl. OLG Celle StV 1985, 224; StV 1991, 248).

Weder in der angegriffenen Entscheidung noch in der telefonischen Äußerung des Sachverständigen wird dargelegt, dass und warum die Unterbringung des Angeklagten für die Beurteilung seiner Schuldfähigkeit unerlässlich im genannten Sinn sein sollte.

Die Unerlässlichkeit ergibt sich auch nicht von selbst aus dem angestrebten Zweck der Maßnahme. Das Landgericht hat wegen angenommener unvollständiger sachverständiger Feststellungen des Erstgutachters im Hinblick auf die nachträglich vorgelegte testpsychologische Untersuchung mit dem darin geäußerten Verdacht auf frühkindliche Hirnleistungsstörungen ein Zweitgutachten angeordnet. Diese Entscheidung obliegt dem Landgericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht i.S.v. § 244 Abs.2 StPO und ist im Grundsatz nicht zu beanstanden. Weigert sich jedoch der Angeklagte, die weitere Begutachtung zuzulassen bzw. an ihr mitzuwirken, ist die Anordnung der Unterbringung zur Begutachtung nur unerlässlich, wenn anders der Zustand des Betroffenen nicht beurteilt werden kann. Dies ist hier jedoch nicht der Fall, nachdem vorliegend bereits Erkenntnisquellen zum psychischen Zustand des Angeklagten durch die - schriftlichen - Ausführungen des in erster Instanz tätigen Sachverständigen sowie das vom Angeklagten selbst im Berufungsverfahren vorgelegte Protokoll über die testpsychologische Untersuchung vom 20. November 2001 zur Verfügung stehen. Nachvollziehbare Gründe dafür, dass die durch den gerichtserfahrenen Erstgutachter gewonnenen Erkenntnisse für die Erhebung des von der Strafkammer eingeschalteten zweiten Sachverständigen nicht verwertet werden können, sind weder dargetan noch ersichtlich.

Ob die angeordnete Unterbringung zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht (§ 81 Abs. 2 Satz 2 StPO) bedarf mithin keiner endgültigen Entscheidung. Die hinsichtlich der Straferwartung gemäß § 331 StPO im vorliegenden Fall maximal möglichen Sanktionen gegen den Angeklagten sind jedoch weit weniger einschneidend als eine zwangsweise Unterbringung zur Beobachtung. Dies muss umso mehr gelten, als die bisherigen Ermittlungen keine nachvollziehbaren Umstände, jedenfalls soweit sie dem Akteninhalt zu entnehmen sind, ergeben, die die Annahme begründen könnten, es bestünden durchgreifende Bedenken gegen die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten für die ihm zur Last gelegte Tat. Durch die Hinzuziehung eines weiteren Gutachters kann jedenfalls auch ohne Unterbringung des Angeklagten in der anzuberaumenden Hauptverhandlung in ausreichendem Maße geprüft werden, ob Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten begründet sind.

Ende der Entscheidung

Zurück