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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 05.09.2000
Aktenzeichen: 5 Ws 31/2000
Rechtsgebiete: StPO, BO/RA


Vorschriften:

StPO § 142
BO/RA § 3
Die Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger ist nicht schon deshalb unzulässig, weil dessen Sozietätskollege bereits einen derselben Tat Mitbeschuldigten verteidigt. Allein die abstrakte Möglichkeit eines hieraus resultierenden Interessenwiderstreits stellt keinen Hinderungsgrund für eine Bestellung dar; vielmehr muß konkreter Anlaß zu der Besorgnis bestehen, die Verteidigung würde nicht mit vollem Einsatz geführt.

OLG Stuttgart, Beschluß vom 5. September 2000, 5 Ws 31/20000

Zusatz:

Der 1. Strafsenat des OLG Stuttgart hält an seiner im o. g. Beschluß vom 28.06.2000 vertretenen Rechtsauffassung nicht mehr fest.


Oberlandesgericht Stuttgart - 5. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 5 Ws 31/2000 2 KLs 40 Js 31030/00 6 ARs 4/00 LG Stuttgart 40 Js 31030/00 StA Stuttgart

vom 5. September 2000

in der Strafsache gegen

wegen Vergewaltigung im besonders schweren Fall,

Tenor:

1. Auf die Beschwerde des Angeschuldigten K. wird die Verfügung des Vorsitzenden der 6. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart vom 14. Juli 2000 aufgehoben.

2. Dem Angeschuldigten K. wird antragsgemäß Rechtsanwalt N. W. aus H. zum Verteidiger bestellt.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahren und die dem Angeschuldigten K. insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Aus den Gründen:

1. Der Angeschuldigte K. ist angeklagt, gemeinsam mit einem Landsmann am Nachmittag des 17. April 2000 eine damals 16-jährige Schülerin vergewaltigt zu haben (§§ 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2, 25 Abs. 2 StGB).

Schon bei seiner vorläufigen Festnahme erklärte er, Rechtsanwalt N. W. aus H. sei sein Anwalt. Die Polizei setzte jenen am Folgetag von der vorläufigen Festnahme des Angeschuldigten und seiner bevorstehenden Vorführung beim Haftrichter fernmündlich in Kenntnis. Nach Invollzugsetzung des Haftbefehls am 20. April 2000 bat der Angeschuldigte erneut, Rechtsanwalt W. aus H. hiervon zu unterrichten.

Am 2. Mai 2000 zeigte Rechtsanwalt C. W. aus H. an, er verteidige den Mitangeschuldigten J. und beantragte gleichzeitig seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Diese erfolgte durch Beschluß vom 10. Mai 2000.

Rechtsanwalt C. W. ist Sozietätskollege von Rechtsanwalt N. W.. Dieser teilte unter Vorlage einer auf ihn und einen weiteren Sozietätskollegen lautenden schriftlichen Vollmacht dem Amtsgericht Ludwigsburg am 8. Juli 2000 mit, er sei Verteidiger des Angeschuldigten K. und beantrage die Beiordnung als dessen Pflichtverteidiger. Mit weiterem Schriftsatz vom 11. Juli 2000 beantragte er namens seines Mandanten Haftprüfung.

Die Staatsanwaltschaft hatte bereits am 3. Juli 2000 beim Landgericht Stuttgart die Bestellung eines Verteidigers für den Angeschuldigten K. beantragt. Der Vorsitzende der zur Entscheidung über diesen Antrag berufenen Kammer hatte nach vorheriger schriftlicher Anhörung des Angeschuldigten, der sich innerhalb der ihm gesetzten Frist von einer Woche hierzu nicht geäußert hatte, durch Verfügung vom 14. Juli 2000 Rechtsanwalt E. aus S. als Verteidiger bestellt in der irrigen Annahme, der Angeschuldigte K. würde bislang noch nicht verteidigt.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die ausdrücklich im Namen des Angeschuldigten eingelegte Beschwerde, die im wesentlichen damit begründet wird, zum Zeitpunkt der Beiordnung sei Rechtsanwalt N. W. bereits Wahlverteidiger des Angeschuldigten K. gewesen. Nur zu diesem, nicht aber zum gerichtlich bestellten Verteidiger E. bestehe ein Vertrauensverhältnis.

2. Das Rechtsmittel ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Der Begründung der Nichtabhilfeentscheidung der nunmehr mit der Sache befaßten Vorsitzenden ist zu entnehmen, daß sie, gestützt auf zwei kürzlich ergangene Entscheidungen des Oberlandesgerichts Stuttgart (Beschl. v. 31. März 2000, 1 Ws 41/2000 und Beschl. v. 28. Juni 2000, 1 Ws 125/2000), die Auffassung vertritt, die nach § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO zu treffende Auswahlentscheidung sei rechtsfehlerhaft, wenn ein Pflichtverteidiger bestellt werde, dessen Sozietätskollege bereits einen derselben Tat Mitbeschuldigten verteidige; ansonsten sei die Möglichkeit eines Interessenkonflikts nicht auszuschließen.

Der 5. Strafsenat folgt dieser Rechtsauffassung nicht. Nach Meinung des Senats, die von der Generalstaatsanwaltschaft geteilt wird, hindert die lediglich abstrakte Möglichkeit eines solchen Interessenwiderstreits die Bestellung von Sozietätskollegen als Pflichtverteidiger nicht; vielmehr muß konkreter Anlaß zu der Besorgnis bestehen, die Verteidigung würde nicht mit dem von Gesetz und Standesrecht verlangten vollen Einsatz geführt.

Dabei kann § 3 Abs. 2 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BO/RA), wonach das u. a. im Falle der Beratung oder Vertretung einer Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse in § 3 Abs. 1 BO/RA für den einzelnen Anwalt festgelegte Betätigungsverbot sich auch auf die übrigen Mitglieder der Sozietät erstreckt, nicht ausschlaggebender Anknüpfungspunkt sein.

Gegen die Verbindlichkeit dieser berufsständischen Satzungsbestimmung bestehen nicht nur schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken (vgl. z. B. OLG Frankfurt, Strafverteidiger 1999, 199, 201; Lüderssen, Strafverteidiger 1998, 357; Kleine-Cosack, NJW 1999, 1257, 1259), die in einer Zeit zunehmender Spezialisierung im Anwaltsberuf und damit in verstärktem Maße einhergehender Bildung überörtlicher und internationaler Sozietäten, vor allem aber auch im Hinblick auf sich häufende Sozietätswechsel zusätzlich an Gewicht gewinnen. Es wird vielmehr schon bezweifelt, ob § 59 b Abs. 2 Nr. 1. e) BRAO den Satzungsgeber dazu legitimiert, über § 3 Abs. 2 BO/RA die Bestimmung des § 43 a Abs. 4 BRAO dahin zu ergänzen, daß diese neu gestaltete Verbotsnorm, die lediglich den einzelnen Rechtsanwalt betrifft, sich auch auf Sozietäten und sonstige Ausgestaltungen beruflicher Zusammenarbeit erstreckt (vgl. hierzu Kleine-Cosack, a.a.O.).

Soweit der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts in den beiden vorerwähnten Entscheidungen § 3 Abs. 2 BO/RA als Ausdruck einer langen berufsständischen Erfahrung sieht und daraus den Rechtsgedanken eines generellen Verbots der Bestellung von Sozietätskollegen als Pflichtverteidiger ableitet, ist dem entgegenzuhalten, daß der Gesetzgeber bei der Novellierung der BRAO durch das Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 2. September 1994 keinen diesbezüglichen Regelungsbedarf gesehen hat: Mit der Neufassung des § 59 a BRAO wurden erstmals gesetzliche Regeln zu den Formen anwaltlicher Zusammenarbeit auf örtlicher, nationaler und internationaler Ebene geschaffen. In den §§ 45 und 46 BRAO, die jeweils Betätigungsverbote für Rechtsanwälte zum Gegenstand haben, sind ausdrückliche Erstreckungsregelungen auf Sozietäten und andere Formen anwaltlicher Zusammenschlüsse enthalten. Eine solche Erstreckungsregelung fehlt hingegen in der gleichfalls ein Betätigungsverbot enthaltenden Vorschrift des § 43 a Abs. 4 BRAO. Der Umstand, daß die §§ 59 a, 43 a, 45 und 46 BRAO gemeinsam durch die Novelle vom 2. September 1994 neu- bzw. umgestaltet wurden und daß in § 43 a BRAO eine den §§ 45 Abs. 3, 46 Abs. 3 BRAO entsprechende Erstreckungsregelung fehlt, läßt den Schluß als naheliegend erscheinen, daß der Gesetzgeber insoweit keinen Regelungsbedarf gesehen, vielmehr die seitherigen gesetzlichen und standesrechtlichen Bestimmungen als ausreichend erachtet hat.

Unabhängig hiervon spricht aber auch der Vergleich zwischen Wahlverteidiger und bestelltem Verteidiger gegen ein generelles Verbot der Bestellung von Sozietätsmitgliedern als Pflichtverteidiger. Dabei soll nicht verkannt werden, daß insbesondere hinsichtlich der Begründung und der Beendigung des jeweiligen Tätigwerdens gewichtige Unterschiede bestehen: Beide Vorgänge erfolgen beim Pflichtverteidiger nicht wie bei dem Wahlverteidiger nach den Regeln der Privatautonomie; dem Beschuldigten ist vielmehr - gegebenenfalls sogar gegen dessen ausdrücklichen Willen - ein Verteidiger zu bestellen. Diese - vereinzelt auch als Bevormundung des Beschuldigten (so z.B. Weigend, NStZ 1992, 47, 48) bezeichnete - prozessuale Fürsorgepflicht, durch die einerseits den Belangen des Beschuldigten ohne Rücksicht auf dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse, andererseits dem Interesse des Rechtsstaats an einem prozeßordnungsgemäßen Verfahren Rechnung getragen werden soll, ändert indes nichts an der vom Bundesgerichtshof mehrfach betonten prinzipiellen Gleichstellung von Wahlverteidiger und Pflichtverteidiger im Verfahren (vgl. z.B. BGH NStZ 1997, 46, 47; weitere Nachweise bei OLG Frankfurt, NStZ 1999, 199, 201). Bei derselben Sozietät angehörenden Wahlverteidigern hat das Bundesverfassungsgericht die Zurückweisung eines dieser Verteidiger mit der Begründung, sein Sozietätskollege verteidige einen derselben Tat Mitbeschuldigten, als verfassungswidrig angesehen (BVerfGE 43, 79, 89 ff.). Auch der BGH vertritt offensichtlich die Auffassung, die Verteidigung Mitbeschuldigter durch verschiedene derselben Sozietät angehörende Rechtsanwälte sei prinzipiell möglich, sofern jeweils eine Mandatsbeschränkung auf den betreffenden Rechtsanwalt erfolgt sei (BGH NStZ 1994, 490).

Vor diesem Hintergrund kann die Bestellung von Sozietätskollegen als Pflichtverteidiger nicht prinzipiell als rechtsfehlerhaft gewertet werden, denn diese haben im Verfahren die gleichen Rechte und Pflichten wie Wahlverteidiger (KK-Laufhütte, vor § 137, Rdnr. 4 ff.); ebensowenig wie jene unterliegen sie der Überwachung und Kontrolle des Gerichts.

Die Argumentation, der Vorsitzende sei bei der Beurteilung, ob wichtige Gründe einer Bestellung entgegenstehen, überfordert, wenn nicht schon die abstrakte Möglichkeit einer Interessenkollision zur Versagung der Bestellung führe, sondern wenn konkrete Anhaltspunkte verlangt würden, vermag nicht zu überzeugen. Denn zum einen wird in einer Vielzahl von Fällen der auf ein für ihn vorteilhaft verlaufendes Verfahren bedachte Beschuldigte aufkommendes Mißtrauen gegen seinen Pflichtverteidiger artikulieren; zum anderen wird der Gesetz und Standesrecht verpflichtete bestellte Verteidiger das Bestehen einer konkreten Konfliktsituation von sich aus anzeigen. Im übrigen wäre der Vorsitzende bei gewissen Konstellationen bei einem generellen Verbot der Bestellung von Kanzleikollegen als Pflichtverteidiger in womöglich noch stärkerem Maße überfordert als bei der Beurteilung, ob ein konkreter Interessenkonflikt besteht: Die anhaltende Tendenz zu immer größeren Anwaltszusammenschlüssen erschwert einem Vorsitzenden etwa bei überregional oder gar international agierenden Tätergruppen häufig den Überblick, welcher Verteidiger welchen Täter wegen welcher Tat verteidigt und welcher Sozietät die jeweiligen Verteidiger angehören.

Natürlich sind bei Fallkonstellationen der vorliegenden Art Interessenkonflikte nicht auszuschließen. Es darf aber auch nicht verkannt werden, daß es in einer Vielzahl dieser Fälle für den Beschuldigten sogar von Vorteil sein kann, daß sein Verteidiger derselben Kanzlei angehört wie der Verteidiger seines Mitbeschuldigten (Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigungsstrategie, Blockverteidigung etc.). Abgesehen davon sind auch die in einer Sozietät gemeinsam tätigen Anwälte jeder für sich nicht nur standesrechtlichen, sondern auch - zum Teil strafbewehrten (§ 356 StGB) - gesetzlichen Pflichten unterworfen. Sie sind selbständige weisungsunabhängige Organe der Rechtspflege, denen nicht schon bei der bloßen Möglichkeit einer später auftretenden Konfliktsituation mit Mißtrauen begegnet werden darf, sondern bei denen vielmehr ein den gesetzlichen Vorschriften Rechnung tragendes Verhalten vorausgesetzt werden kann.

Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang weiter, daß - abgesehen von den Fällen der Bestellung eines sogenannten Sicherungsverteidigers - die gemäß § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO zu treffende Auswahlentscheidung kein Akt der Willkür ist, sondern in aller Regel dem Anliegen des in die Entscheidung mit eingebundenen Beschuldigten Rechnung trägt. Dieser ist daher - was die von ihm gewünschte Person als Verteidiger betrifft - ohnehin in der Vielzahl der Fälle faktisch in der selben Lage wie bei der eigenverantwortlichen Verteidigerwahl, bei welcher die Zugehörigkeit des Verteidigers des Mitbeschuldigten zur selben Sozietät kein Hindernis bedeutet (s.o.).

Schließlich besteht auch kein Anlaß zu der Befürchtung, ohne generelles Verbot der Bestellung von Sozietätskollegen als Pflichtverteidiger bestünde die Gefahr der Verfahrensverzögerung, im Gegenteil: Beispielsweise hätte es ein Angeklagter bei aus seiner Sicht ungünstigem Prozeßverlauf in der Hand, durch Mandierung eines Sozietätskollegen des seinem Mitangeklagten bestellten Verteidigers als (weiteren) Wahlverteidiger dessen Entpflichtung zu erzwingen. Gleiches hätte auch bei einem immer häufiger zu beobachtenden für den betreffenden Anwalt oft existenzwichtigen Wechsel zu einer (anderen) Sozietät zu geschehen, sofern er oder aber einer seiner nunmehrigen Kanzleikollegen einem derselben Tat Mitbeschuldigten als Pflichtverteidiger bestellt wäre (vgl. hierzu ausführlich Lüderssen, a.a.O.).

Der Senat vertritt deshalb in Übereinstimmung mit der Generalstaatsanwaltschaft die Auffassung, daß nur bei konkreten Hinweisen auf das Bestehen einer Konfliktsituation ein wichtiger Grund im Sinne des § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO für die Nichtbestellung als Pflichtverteidiger vorliegt, sofern der Sozietätskollege bereits einen derselben Tat Mitbeschuldigten verteidigt. Dies ist hier nicht der Fall.

3. Gemäß § 309 Abs. 2 StPO konnte der Senat als Beschwerdegericht in der Sache selbst entscheiden. Er hat wie vom Beschwerdeführer beantragt Rechtsanwalt N. W. aus H. zum Pflichtverteidiger bestellt. Zwar ist dieser nicht im Bezirk des Landgerichts S., sondern des Landgerichts H. zugelassen; er genießt jedoch offensichtlich das besondere Vertrauen des Angeklagten. Das überwiegt seine Gerichtsferne in einem solchen Maße, daß sich das dem Vorsitzenden zustehende Auswahlermessen (§ 142 Abs. 1 Satz 1 und 3 StPO) auf null reduziert (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 142, Rdnr. 11, 12 m.w.N.).

Anmerkung: Der 1. Strafsenat hält an seiner in den o. g. Beschlüssen vertretenen Rechtsauffassung nicht mehr fest.

Ende der Entscheidung

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