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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 28.10.2008
Aktenzeichen: 8 W 438/08
Rechtsgebiete: RVG, BerHG, RVG-VV


Vorschriften:

RVG §§ 45 ff
BerHG § 1
RVG-VV Nr. 2300
RVG-VV Nr. 2503
RVG-VV Nr. 3100
RVG-VV teil 3 Vorbem. 3 Abs. 4
Beim Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Beratungshilfe gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 BerHG und bei Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Zahlungspflichten für die bedürftige Partei kommt die Anrechnung gemäß Teil 3 Vorbem. 3 Abs. 4 RVG-VV einer hälftigen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 RVG-VV nicht in Betracht, sondern lediglich die im Rahmen der Beratungshilfe - fiktiv - entstehende Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 RVG-VV ist anteilig abzuziehen (Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV), selbst wenn Beratungshilfe nicht in Anspruch genommen wurde.
Oberlandesgericht Stuttgart 8. Zivilsenat Beschluss

Geschäftsnummer: 8 W 438/08

28. Oktober 2008

In dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatzes;

hier Vergütungsfestsetzung für den Klägervertreter gem. §§ 45 ff RVG mit den Beteiligten

hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart unter Mitwirkung

des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Dr. Tolk, des Richters am Oberlandesgericht Grüßhaber und der Richterin am Oberlandesgericht Dr. Zeller-Lorenz

beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Beschwerde des Klägervertreters werden der Beschluss des Richters des Landgerichts Tübingen vom 10.10.2008 und der Vergütungsfestsetzungsbeschluss der Kostenbeamtin des Landgerichts Tübingen vom 7.9.2008 dahin abgeändert, dass als Vergütung des Klägervertreters zusätzlich zu den festgesetzten 1.102,30 € weitere 204,32 € gegen die Staatskasse festgesetzt werden

2. Die weitergehende Beschwerde des Klägervertreters wird zurückgewiesen.

3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten im Erinnerungs- und Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Vergütungsfestsetzungsverfahren gemäß § 45 ff. RVG darüber, ob nach Prozesskostenhilfebewilligung für den Kläger ohne Zahlungsbestimmung für seinen Bevollmächtigten eine gemäß § 49 RVG ermäßigte 1,3-Verfahrensgebühr ungekürzt festzusetzen ist oder wegen bereits vorgerichtlicher Tätigkeit des Bevollmächtigten wegen desselben Gegenstands nur gekürzt gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG um eine hälftige vorgerichtliche 1,3-Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV / RVG. Der Kläger hat für die vorgerichtliche Tätigkeit seines Prozessbevollmächtigten keine Beratungshilfe in Anspruch genommen.

Die Kostenbeamtin des Landgerichts hat die in Höhe von 413,40 € zuzüglich Umsatzsteuer geltend gemachte 1,3-Verfahrensgebühr des Klägervertreters um die Hälfte einer in gleicher Höhe zugrunde gelegten Geschäftsgebühr gekürzt und die beantragte Vergütungsfestsetzung gegen die Staatskasse gemäß § 55 RVG im übrigen antragsgemäß vorgenommen.

Der Klägervertreter hat gegen diese Festsetzung wegen der erfolgten Kürzung Rechtsmittel eingelegt, das der Richter des Landgerichts als Erinnerung mit Beschluss vom 10.10.2008 zurückgewiesen hat.

Er ist der Auffassung, die Anrechnung der bei einem Prozessbevollmächtigten entstandenen Geschäftsgebühr sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung der Bestimmung in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG auch im prozesskostenhilferechtlichen Vergütungsfestsetzungsverfahren gemäß § 55 RVG - gegebenenfalls mit gemäß § 49 RVG ermäßigtem Betrag - zwingend. Die gegenteilige Entscheidung des erkennenden Senats vom 15.1.2008 (AZ: 8 WF 5/08; FamRZ 08, 1013) sei durch die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs überholt.

In Anbetracht der Gesetzeslage habe ein von einer bedürftigen Partei konsultierter Rechtsanwalt nur die Möglichkeit, alsbald Klage zu erheben, wenn er als beigeordneter Anwalt volle Prozesskostenhilfe-Gebühren erlangen wolle. Für eine unter Umständen wünschenswerte vorgerichtliche Tätigkeit könne er nur eine pauschale Beratungshilfegebühr erlangen. Die bei vorgerichtlicher Tätigkeit erfolgende Anrechnung einer Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr erfolge unabhängig davon, ob der Mandant die vorgerichtliche Gebühr überhaupt bezahlen könne und müsse.

Mit seiner gegen die Erinnerungsentscheidung des Landgerichts eingelegten Beschwerde verfolgt der Klägervertreter seinen weitergehenden Festsetzungsantrag gegen die Staatskasse weiter.

Er ist der Auffassung, die Anrechnungsbestimmung gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG gelte im Verfahren über die Festsetzung von Prozesskostenhilfe-Gebühren gemäß § 55 RVG überhaupt nicht. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei nicht zu Prozesskostenhilfegebühren ergangen. Die Anrechnung einer Geschäftsgebühr widerspreche bei einer bedürftigen Partei auch § 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO.

Der Richter des Landgerichts hat das Rechtsmittel ohne Abhilfe dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Das Rechtsmittel des Klägervertreters ist gemäß §§ 56 Abs. 2 i. V. m. § 33 Abs. 3 ff. RVG statthaft und auch sonst zulässig; insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.

In der Sache hat das Rechtsmittel überwiegend Erfolg.

1.

Die Anwendbarkeit der Anrechnungsbestimmung in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG wird nach der neuen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung dieser Vorschrift (vgl. insbesondere Beschluss vom 22.1.2008, NJW 08, 1323) in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet.

a) Nach wohl überwiegender Auffassung ist im Fall einer bereits vorgerichtlichen Tätigkeit des im gerichtlichen Verfahren unter Bewilligung von Prozesskostenhilfe beigeordneten Prozessbevollmächtigten auf die ihm im Verhältnis zur Staatskasse zustehende Verfahrensgebühr eine vorgerichtliche Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV / RVG gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG unabhängig davon anzurechnen, ob der Bevollmächtigte eine solche Gebühr bereits von der Partei oder vom Gegner erlangt hat oder überhaupt erlangen kann (LAG Düsseldorf, RVGreport 08, 142; OLG Oldenburg 2. ZS, RVGreport 08, 260; OLG Oldenburg, 13. ZS, FamRZ 08, 1765; OLG Bamberg, Beschluss vom 1.7.2008, AZ: 2 WF 290/08, zitiert nach Juris).

b) Demgegenüber hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 15.1.2008 (FamRZ 08, 1013) noch vor der o. a. neuen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung von Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG die Auffassung vertreten, die Anrechnung einer Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV / RVG widerspreche mit Ausnahme der Anrechnung einer angefallenen Beratungshilfegebühr Sinn und Zweck der Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

c) Der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg hat mit Beschluss vom 23.6.2008 (OVGreport 08, 345) ebenfalls nur die Anrechnung einer Beratungshilfegebühr gemäß Nr. 2503 VV / RVG auf eine nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe von der Staatskasse zu erstattende Verfahrensgebühr als zulässig angesehen, wobei es nicht darauf ankomme, ob Beratungshilfe auch in Anspruch genommen worden ist.

Wenn die Partei bereits vorgerichtlich bedürftig im Sinn von §§ 114 ff ZPO gewesen sei, so könne der Prozessbevollmächtigte für seine vorgerichtliche Tätigkeit von der Partei allenfalls Gebühren in Höhe der pauschalen Beratungshilfegebühr verlangen bzw. noch Beratungshilfe beantragen. Die Anrechnung einer weitergehenden Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr sei dann im Festsetzungsverfahren gemäß § 55 RVG aber nicht gerechtfertigt.

d) Der erkennende Senat hält nach nochmaliger Überprüfung an seiner Auffassung mit der Maßgabe fest, dass auf eine Verfahrensgebühr im Festsetzungsverfahren gemäß § 55 RVG im Regelfall nur eine - gegebenenfalls fiktive - pauschale Beratungshilfegebühr gemäß Nr. 2503 VV/RVG gemäß der dortigen Anmerkung 2 anzurechnen ist.

Soweit die Gegenmeinung demgegenüber grundsätzlich eine höhere, nur gegebenenfalls gemäß § 49 RVG ermäßigte hälftige Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV / RVG auf die prozesskostenhilferechtliche Verfahrensgebühr auch im Verhältnis des beigeordneten Anwalts zur Staatskasse anrechnen will, wird dies dem Umstand nicht gerecht, dass der beigeordnete Rechtsanwalt eine vorgerichtlich möglicherweise entstandene höhere Geschäftsgebühr zumindest in entsprechender Anwendung von § 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO regelmäßig nicht gegenüber seiner Partei geltend machen kann, wenn er diese nicht auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Beratungshilfe hingewiesen hat. Nach Auffassung von Mayer (Gerold / Schmidt, 18. Aufl., RN 33 zu Nr 2503 VV / RVG) entsteht in solchen Fällen schon von vornherein keine Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV / RVG, sondern lediglich eine pauschale Beratungshilfegebühr gemäß Nr. 2503 VV / RVG.

Bei dieser Sachlage entspricht es nach Auffassung des Senats aber weiterhin Sinn und Zweck der prozesskostenhilferechtlichen Regelungen, auch in Anbetracht der Auslegung von Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG nach der neuen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die letztgenannte Vorschrift auf die im gerichtlichen Verfahren angefallene prozesskostenhilferechtliche Verfahrensgebühr nur dergestalt anzuwenden, dass im Regelfall nur eine hälftige Beratungshilfegebühr angerechnet wird.

Mit der Anrechnungsbestimmung in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG soll der von einem Rechtsanwalt für eine vorgerichtliche und anschließend gerichtliche Tätigkeit durch das RVG erweitert begründete Gebührenanspruch begrenzt werden. So wird die 1,3-Regel-Geschäfts- und Verfahrensgebühr insgesamt auf das 1 1/2-fache begrenzt. Würde man die Anrechnungsbestimmung in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV / RVG nach der für Fälle ohne Prozesskostenhilfebewilligung entwickelten neuen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ohne Einschränkung unverändert auch auf den Gebührenerstattungsanspruch des beigeordneten Rechtsanwalts gegen die Staatskasse anwenden, so würde dieser wegen des von ihm für seine vorgerichtliche Tätigkeit nur erzielbaren Anspruchs auf eine pauschale Beratungshilfegebühr bei Streitwerten über 1.500,--€ für eine vorgerichtliche und gerichtliche Tätigkeit insgesamt sogar weniger von der Staatskasse erhalten, als wenn er nur im gerichtlichen Verfahren tätig geworden wäre. Von einer bereits vorgerichtlich bedürftigen Partei kann er einen weitergehenden Gebührenanspruch regelmäßig weder rechtlich noch tatsächlich bezahlt verlangen. Eine solche Auswirkung ist aber nicht Sinn und Zweck der Anrechnungsbestimmung.

Die Staatskasse wird durch einschränkende Auslegung der Anrechnungsbestimmung nicht unangemessen benachteiligt. Diese trägt lediglich dem Umstand Rechnung, dass trotz der vorgerichtlichen Tätigkeit des späteren Prozessbevollmächtigten ein gerichtliches Verfahren nicht vermieden werden konnte.

Für diese Auslegung sprechen auch Gründe der Prozessökonomie, da ein Bevollmächtigter sonst geneigt sein könnte, anstelle der Übernahme einer vorgerichtlichen Tätigkeit alsbald zu klagen, um sich bei einer fehlenden Zahlungsfähigkeit des Mandanten zumindest die ungekürzten Gebühren für das gerichtliche Verfahren zu sichern.

Bei der Anwendung der hier vertretenen Auffassung ist allerdings zu prüfen, ob im Rahmen der vorgerichtlichen Tätigkeit ebenfalls von der Bedürftigkeit des Mandanten auszugehen ist, was aber zumindest bei zeitnaher vorgerichtlicher Tätigkeit des Bevollmächtigten in der Regel der Fall sein wird.

Anzurechnen ist eine hälftige Beratungshilfegebühr gemäß Nr. 2503 VV / RVG auch dann, wenn Beratungshilfe im konkreten Fall nicht in Anspruch genommen wurde, denn vorgerichtliche Gebührenansprüche sind im gerichtlichen Vergütungsfestsetzungsverfahren nicht festsetzbar (BGH a.a.O).

Lediglich wenn Beratungshilfe gegebenenfalls zu versagen gewesen wäre - etwa, weil für Geltendmachung von Unterhalt die Unterstützung durch eine öffentliche Stelle verfügbar gewesen wäre -, muss auch eine solche Anrechnung unterbleiben.

2.

Im vorliegenden Verfahren ist von einer bereits vorgerichtlichen Bedürftigkeit des Klägers auszugehen. Das gerichtliche Verfahren wurde im Februar 2008 eingeleitet. Bereits bei der vorgerichtlichen Zahlungsaufforderung des Beklagten durch den Klägervertreter erzielte der Kläger ausweislich der im Prozesskostenhilfeverfahren vorgelegten Unterlagen lediglich die auch bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das gerichtliche Verfahren zugrunde gelegten geringen Renteneinkünfte.

Danach ist auch im vorliegenden Fall auf die entstandene Verfahrensgebühr lediglich eine hälftige fiktive Beratungsgebühr in Höhe von (netto) 35,-- € anzurechnen, so dass die in Höhe von netto 206,70 € erfolgte Kürzung in Höhe des Differenzbetrages von netto 171,70 € - brutto somit 204,32 € - nicht gerechtfertigt war. Auf die Beschwerde des Klägervertreters war die Festsetzung gegen die Staatskasse deshalb entsprechend zu erhöhen. Das weitergehende Rechtsmittel war zurückzuweisen.

3.

Das Erinnerungs- und Beschwerdeverfahren ist gemäß § 56 Abs. 2 Satz 3 RVG gerichtsgebührenfrei und außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Ende der Entscheidung

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