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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 02.09.2009
Aktenzeichen: OVG 10 S 24.09
Rechtsgebiete: BauGB, BauO Bln


Vorschriften:

BauGB § 19 Abs. 4 Satz 2
BauGB § 23 Abs. 5
BauGB § 31 Abs. 2
BauGB § 212 a Abs. 1
BauO Bln § 6 Abs. 4 Satz 1
BauO Bln § 6 Abs. 4 Satz 2
BauO Bln § 6 Abs. 5 Satz 1
BauO Bln § 63 Abs. 2 Nr. 1 a)
BauO Bln § 63 Abs. 3 Satz 3
Der Widerspruch gegen eine im Verfahren der Genehmigungsfreistellung erteilte (isolierte) Befreiung oder Ausnahme (§ 63 Abs. 2 Nr. 1 a) BauOBln) hat keine aufschiebende Wirkung (§ 212 a Abs. 1 BauGB).
OVG 10 S 24.09

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 10. Senat am 2. September 2009 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. Juni 2009 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsteller mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 3.750,- € festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller ist Eigentümer des Grundstücks K_____straße 27 in Berlin-Zehlendorf. Er wehrt sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen den rückwärtigen Anbau einer Doppelgarage mit Dachterrasse an das Wohnhaus der Beigeladenen auf dem Nachbargrundstück K_____straße 29. Die Grundstücke liegen in einem beplanten Gebiet, für das der Bebauungsplan X-B 7 vom 20. Juni 2006 (GVBl. S. 677) unter anderem eine offene Bauweise mit einer Grundflächenzahl von 0,2 und einer hinteren Baugrenze in einer Tiefe von 20 m festgesetzt hat. Diese wird von der Bestandsbebauung auf dem Grundstück der Beigeladenen bereits um 2,60 m überschritten.

Die Beigeladene hat am 23. Mai 2009 bei dem Antragsgegner Unterlagen zu dem rückwärtigen Anbau zur Genehmigungsfreistellung eingereicht und eine Befreiung für die Überschreitung der hinteren Baugrenze beantragt. Die Garagenzufahrt befindet sich auf der dem Grundstück des Antragstellers abgewandten Nordseite des Grundstücks K_____straße 29. Die Garageneinfahrt ist zum Grundstück K_____straße 31 ausgerichtet. Der mit Brüstung insgesamt 3,50 m hohe rückwärtige Anbau mit der Dachterrasse hält zum Grundstück des Antragstellers einen Abstand von 3 m ein.

Mit drei Bescheiden vom 20. August 2008 hat der Antragsgegner den Garagenanbau mit Dachterrasse (1) als Nebenanlage im Sinne des § 14 BauNVO eingestuft und diese im Wege einer Ermessensentscheidung gemäß § 23 Abs. 5 BauNVO auf der nicht überbaubaren Grundstücksfläche zugelassen (Bescheid Nr. 2008/1609), (2) im Wege der Ausnahmegewährung nach § 19 Abs. 4 Satz 2 BauNVO die Überschreitung der zulässigen Grundflächenzahl von 0,2 auf 0,32 zugelassen (Bescheid Nr. 2008/1610) und (3) eine Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB für die Überbauung der nicht überbaubaren Grundstücksfläche erteilt (Bescheid Nr. 2008/1613). Zugleich teilte der Antragsgegner der Beigeladenen mit Schreiben vom 20. August 2008 (Mitteilung 2008/949) nach § 63 Abs. 3 Satz 3 BauOBln mit, dass mit der Bauausführung begonnen werden könne. Gegen die vorgenannten Bescheide hat der Antragsteller mit Schreiben vom 9. März 2009 Widerspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden worden ist.

Den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht Berlin mit Beschluss vom 5. Juni 2009 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Widerspruch des Antragstellers keine aufschiebende Wirkung zukomme und diese somit nicht - wie beantragt - festgestellt werden könne. Die Erteilung der erforderlichen Befreiungen und Ausnahmen bewirke gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 a) BauOBln die Genehmigungsfreistellung und sei damit eine "bauaufsichtliche Zulassung" im Sinne des § 212 a Abs. 1 BauGB, der die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage entfallen lasse. Aber auch eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers komme nicht in Betracht. Unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide verletzten diese jedenfalls keine Nachbarrechte des Antragstellers, denn dem Bebauungsplan X-B 7 sei hinsichtlich der Festsetzung der Grundflächenzahl und der hinteren Baugrenze kein nachbarschützender Charakter zu entnehmen. Nach der Begründung des Bebauungsplans habe sich der Plangeber bei deren Festsetzung ausschließlich von städtebaulichen Erwägungen leiten lassen. Das Rücksichtnahmegebot sei auch nicht verletzt. Zwar seien schützenswerte Interessen der Beigeladenen für die erteilte Ausnahme und die Befreiung nicht erkennbar. Die Schwelle zu einer qualifizierten Störung, wie sie für die Annahme einer Verletzung des Rücksichtnahmegebotes erforderlich sei, sei jedoch noch nicht überschritten. Hierfür sprächen zum einen die Einhaltung der bauordnungsrechtlich vorgeschriebenen Abstandsflächen durch den Anbau und zum anderen die Höhe der Terrasse, die keine übermäßigen Einsichtnahmemöglichkeiten zum Nachbargrundstück gestatte. Die Garagenzufahrt verlaufe auf der von dem Grundstück K_____straße 27 abgewandten Seite, wo sich auch die Garageneinfahrt befinde, und lasse keine unzumutbaren Lärmeinwirkungen für den Antragsteller befürchten. Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet.

Nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO muss die Beschwerde die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Die Prüfung des Oberverwaltungsgerichts ist nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die von dem Beschwerdeführer fristgemäß dargelegten Gründe beschränkt.

Die von dem Antragsteller mit der Beschwerdebegründung vom 2. Juli 2009 dargelegten Gründe rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses.

1. Soweit der Antragsteller im vorliegenden Fall die Feststellung der aufschiebenden Wirkung beantragt hat, kann dem nicht entsprochen werden, weil die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gemäß § 212 a Abs. 1 BauGB kraft Gesetzes entfallen ist. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass es sich bei der streitgegenständlichen isolierten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB in Verbindung mit § 63 Abs. 2 Nr. 1 a) BauOBln um eine bauaufsichtliche Zulassung im Sinne des § 212 a Abs. 1 BauGB handelt und demnach der Widerspruch des Antragstellers keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Die Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB stellt eine bauaufsichtliche Zulassung des Vorhabens dar, weil sie wegen der gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 a) BauOBln bestehenden Genehmigungsfreiheit des im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans liegenden Vorhabens der Beigeladenen die einzige formelle Schranke für den Beginn der Bauausführung beseitigt. Sie stellt inhaltlich eine Art Restbestand der ansonsten im Verfahren der Genehmigungsfreistellung nicht mehr erforderlichen Baugenehmigung dar (vgl. OVG Saar, Beschluss vom 5. Juli 2007, BRS 71 Nr. 173; VGH BW, Beschluss vom 9. Mai 2006, BRS 70 Nr. 180; BayVGH, Beschluss vom 15. Dezember 1999 - 26 ZS 99.820 - und Beschluss vom 15. Mai 2000, BRS 63 Nr. 199; Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 11. Aufl. 2009, § 212 a RNr. 1; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Auflage 2008, RNr. 1282).

Die zum Teil in der Rechtsprechung (vgl. OVG NW, Beschluss vom 29. Mai 2008, NVwZ-RR 2008, 757) vertretene restriktive Auslegung des § 212 a Abs. 1 BauGB, auf die sich der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung bezieht und die den Begriff der "bauaufsichtlichen Zulassung eines Vorhabens" in § 212 a Abs. 1 BauGB nur auf präventive Kontrollentscheidungen zur Freigabe eines Bauvorhabens beschränken und nicht auf die in der Reichweite ihres Prüfungsumfangs reduzierten Abweichungsentscheidungen der Behörde erstrecken will, zumal sie die Rechtsposition des auf eine Abweichung angewiesenen Bauherrn als deutlich schwächer ansieht und ihm deshalb grundsätzlich ein Abwarten des Klageverfahrens zumuten will, überzeugt nicht. Die durch das Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz vom 17. Mai 1990 (BGBl. I S. 926) eingeführte Vorschrift des § 10 Abs. 2 BauGB-MaßnahmenG bezog den Wegfall des Suspensiveffekts im Falle von Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten zwar noch auf "die bauaufsichtliche Genehmigung eines Vorhabens", sie ist bei der Überführung in das Baugesetzbuch am 1. Januar 1998, mit der eine Rechtsangleichung verfolgt wurde und Investitionen in Bauvorhaben, die zugleich der Schaffung von Arbeitsplätzen dienen, erleichtert werden sollten (vgl. BT-Drs. 13/7589, S. 30), jedoch auf die "bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens" erstreckt und damit erweitert und nicht beschränkt worden. Dies dürfte zugleich in Anpassung an die inzwischen in den Landesbauordnungen gewandelten Verfahrensvorschriften geschehen sein, die letztlich das vergleichbare Ziel der Verfahrensvereinfachung und damit -beschleunigung verfolgten. Mit dieser tendenziell gemeinsamen Intention wäre es nicht zu vereinbaren, gerade die im Interesse der Verfahrensbeschleunigung der Genehmigungsfreistellung unterfallenden Vorhaben dem Suspensiveffekt nachbarlicher Rechtsbehelfe auszusetzen. Schließlich soll der praktische Vorteil des § 212 a Abs. 1 BauGB für den Bauherrn darin liegen, dass er von den unmittelbaren Auswirkungen der Anfechtung, insbesondere bei unzulässigen oder offensichtlich unbegründeten Rechtsbehelfen, abgeschirmt wird, und ihn die aufschiebende Wirkung erst erreicht, wenn sie im behördlichen oder gerichtlichen Aussetzungsverfahren angeordnet worden ist (vgl. Finckelnburg/Dombert/Külpmann, a. a. O.).

2. Soweit sich der Antragsteller dagegen wendet, dass das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss einen nachbarschützenden Charakter der Festsetzung der Grundflächenzahl von 0,2 und der hinteren Baugrenze in einer Tiefe von 20 m im Bebauungsplan X-B 7 verneint hat, greift seine Beschwerdebegründung nicht durch.

Zu den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung gehören sowohl die Grundflächenzahl (§ 19 BauNVO) als auch die überbaubare Grundstücksfläche (§ 23 BauNVO). Diese haben grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Juni 1995, NVwZ 1996, 170). Dem Grundsatz, dass bauplanungsrechtliche Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung keinen nachbarschützenden Charakter haben, steht jedoch nicht entgegen, dass sich ausnahmsweise aus der Entstehungsgeschichte oder der Begründung eines Bebauungsplans oder auch anderen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung etwas anderes ergeben kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 1986, NVwZ 1987, 409; OVG NW, Urteil vom 22. August 2005, BRS 69 Nr. 91). Dies setzt voraus, dass der Plangeber mit den planerischen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzungen nicht nur städtebauliche Ziele verfolgt, sondern erkennbar auch den Schutz der Nachbarn im Blick hat. Hierfür ist der Begründung zu dem Bebauungsplan X-B 7 jedoch nichts zu entnehmen. Auch nur konkludente Aussagen des Plangebers zu einem hiermit beabsichtigten Nachbarschutz bestehen nicht.

Erklärtes Ziel des Bebauungsplans ist es (nur), Änderungen des ortsbildtypischen Gebietscharakters Einhalt zu gebieten und diesen zu bewahren (vgl. Begründung I 1.). Der Antragsteller weist zwar zu Recht darauf hin, dass die Art und Weise, wie der Plangeber bei der Festsetzung der hinteren Baugrenze differenziert auf die Bestandsverhältnisse in dem Baublock zwischen K_____straße, F_____straße, G_____straße und S_____straße eingegangen ist, auf eine sorgfältig bedachte Planung und gezielte Vorgehensweise schließen lässt. Denn teilweise hat er die Baugrenze - wie im Falle der meisten Grundstücke im Baublock zwischen der K_____straße, der S_____straße und der G_____straße - in einer Tiefe von 20 m "durchgezogen", teilweise - wie im Falle des Denkmals K_____straße 21 - unterbrochen und teilweise die in diesem Baublock bestehende Hinterlandbebauung - wie im Falle des Grundstücks G_____straße 42 - eng umfahren. Diese differenzierte Baugrenze deutet nach der Begründung des Bebauungsplans darauf hin, dass es sich um einen noch intakten Baublock handelt, bei dem der Bestandsschutz der Gebäude gewahrt, aber "eine Vergrößerung der bebaubaren Grundfläche" ..."ausgeschlossen werden" soll (vgl. Begründung I 4.2). Besondere Erwähnung findet in der Begründung unter den mit dem Bebauungsplan "künftig zu unterbindenden wesentlichen Fehlentwicklungen und Gebietsverfremdungen" (vgl. Begründung I 1.) auch noch die "Beeinträchtigung der ortstypischen Freiflächenstruktur durch Zunahme baulicher Nebenanlagen (Garagen, Stellplatzanlagen mit den dafür notwendigen Zu- und Abfahrten) und Verdrängung von gärtnerischen angelegten Grünflächen", die "nicht gänzlich ohne präjudizierende Wirkung auf die Zulässigkeitsbeurteilungen von Vorhaben bleiben" würde (vgl. Begründung I 1.). Diese bauplanerischen Zielsetzungen bestehen unverändert seit der ersten Auslegung des Bebauungsplanentwurfs, wie die zugehörige Begründung vom 30. August 1996 (Bl. 134 LO X-B 7 nördliche Goethestraße) erkennen lässt. Um so unverständlicher ist es, dass der Antragsgegner eben diese Art von Veränderungen, die er seit dem Inkrafttreten des Bebauungsplans X-B 7 am 7. Juli 2006 wirksam unterbinden kann, durch Befreiungen wiederum zulässt, und den Bebauungsplan damit aufgrund der Vorbildwirkung selbst untergräbt. Dessen ungeachtet bestehen jedoch aufgrund der ausschließlich städtebaulichen Begründung des Bebauungsplans sowie aus den übrigen Planaufstellungsvorgängen keine Anhaltspunkte für die Annahme einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung in dem Bebauungsplan X-B 7. Die örtlichen Verhältnisse, insbesondere eine zu hohe Wohndichte (vgl. hierzu OVG Bremen, Urteil vom 20. Februar 1996, BRS 58 Nr. 173), legen eine solche Funktion der hinteren Baugrenze im vorliegenden Fall jedenfalls nicht nahe.

3. Auch die mit Bescheid vom 20. August 2008 (Nr. 2008/1613) gem. § 23 Abs. 5 BauNVO erteilte Befreiung von der im Bebauungsplan X-B 7 festgesetzten nicht überbaubaren Grundstücksfläche durch Nebenanlagen zur Errichtung der streitgegenständlichen Garage mit Dachterrasse verstößt nicht gegen Nachbarrechte des Antragstellers. Zwar spricht viel dafür, dass der Antragsgegner schon bei der mit Bescheid vom 20. August 2008 (Nr. 2008/1609) getroffenen Ermessensentscheidung gemäß § 23 Abs. 5 BauNVO zur Einstufung der Terrasse als Nebenanlage einer Fehlannahme unterlag, da eine Dachterrasse auf einer begehbar gemachten, an das Haupthaus angebauten Nebenanlage zur Wohnnutzung und damit zur Hauptnutzung zählt (vgl. ThürOVG, Urteil vom 26. Februar 2006, BRS 65 Nr. 130). Dies gilt insbesondere wenn sie durch die bauliche Verbindung mit dem Wohnhaus, an dass sie nahezu über die gesamte Breite angebaut worden ist und von dem aus sie betreten werden kann, in die Hauptnutzung integriert und damit dessen Bestandteil geworden ist. Diese bauliche und funktionelle Verbindung zwischen dem Wohnhaus und der Dachterrasse nimmt dieser die Eigenschaft als Nebenanlage, weil dies nur bauliche Anlagen sein können, die nicht zugleich Bestandteil des Hauptgebäudes sind (vgl. OVG Bln, Urteil vom 1. Dezember 2004, BRS 67 Nr. 69). Welche Auswirkungen dies auf die mit Bescheid vom 20. August 2008 erteilte Ausnahme von der festgesetzten Grundflächenzahl (§ 19 Abs. 4 Satz 2 BauNVO) hat, kann dahinstehen. Denn letztlich kommt es hierauf nicht an. Auch bedarf es keiner Klärung, welches der nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 - 3 BauGB alternativ zu erfüllenden Tatbestandsmerkmale hier Grundlage für die Befreiungsentscheidung des Antragsgegners gewesen und erfüllt sein könnte, denn jedenfalls ist nicht erkennbar, dass nachbarliche Interessen durch die Befreiungsentscheidung verletzt worden sein könnten.

§ 31 Abs. 2 BauGB ist bei Befreiungen zwar insoweit nachbarschützend, als diese Vorschrift das Ermessen der Behörde dahingehend bindet, dass die Abweichung "unter Würdigung der nachbarlichen Interessen" mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss. Diese Würdigung der nachbarlichen Interessen ist auch dann geboten, wenn die betreffenden Festsetzungen selbst - wie oben festgestellt - nicht dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind, denn mit der Befreiung wird an die Stelle der festgesetzten eine konkrete andere bebauungsrechtliche Ordnung gesetzt und damit ein anderer Interessenausgleich vorgenommen. Ob eine Befreiung die Rechte eines Nachbarn verletzt, ist unter Berücksichtigung der Interessenbewertung des § 31 Abs. 2 BauGB in entsprechender Anwendung der Maßstäbe zu beantworten, die von der Rechtsprechung zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme entwickelt worden sind. Hierbei ist im Zusammenhang mit der erforderlichen "Qualifizierung und Individualisierung" der schutzwürdigen Interessen auch zu prüfen, ob die durch die Befreiung eintretenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was einem Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist. Die Schwelle der Unzumutbarkeit wird jedenfalls nicht schon durch bloße Lästigkeiten überschritten. Erforderlich ist vielmehr eine qualifizierte Störung (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 1986, NVwZ 1987, 409; OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 17. Juli 2007 - OVG 2 S 54.07 -; Beschluss vom 1. September 2009 - OVG 10 S 19.09 -).

Für eine solche qualifizierte Störung und Unzumutbarkeit der Beeinträchtigung der nachbarlichen Belange des Antragstellers durch die infolge der Befreiungsentscheidung ermöglichte Errichtung des streitgegenständlichen Garagenanbaus mit Dachterrasse bestehen keine Anhaltspunkte. In der Regel ist die Einhaltung der nach dem Bauordnungsrecht erforderlichen Abstandsflächen ein zuverlässiger Indikator dafür, dass für eine Beeinträchtigung der nachbarlichen Belange durch ein Vorhaben bezüglich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie der Einsichtnahmemöglichkeiten kein Raum ist. Das Abstandsflächenrecht stellt in Bezug auf diese Belange eine Konkretisierung des Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme dar und ist insoweit mit diesem verzahnt (vgl. Wilke/Dageförde/Knuth/Meyer/Broy-Bülow, BauOBln, 6. Aufl. 2008, § 6 RNr. 66 m. w. N.). Im vorliegenden Fall hält der streitgegenständliche Baukörper das vorgeschriebene Mindestmaß der Abstandsfläche von 3 m ein. Dies ist den sich aus dem Lageplan und den Höhenangaben zur Dachterrasse mit Brüstung (3,50 m) zu der dem Antragsteller zugewandten Südseite des Baukörpers hinter der Baugrenze des Grundstücks Kleiststraße 29 in der entsprechenden Schnittzeichnung und dem sich daraus nach § 6 Abs. 5 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 und 2 BauOBln errechnenden Abstandsflächenmindestmaß von 3 m zu entnehmen.

Dieser Rückschluss aus dem Abstandsflächenrecht auf eine mögliche Verletzung von Nachbarrechten ist unter Umständen dann nicht möglich, wenn die Rechte des Nachbarn durch Einwirkungen beeinträchtigt werden, gegen die das Abstandsflächenrecht keinen Schutz gewährt oder die über den abstandsflächenrechtlichen Schutzbereich und die sich daraus ergebende gesetzgeberische Wertung hinausgehen. In besonders gelagerten Fällen kann somit ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme zur Unzulässigkeit eines Bauvorhabens führen, obwohl es die abstandsflächenrechtlichen Vorschriften nicht verletzt (vgl. grundsätzlich: BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1999, BRS 62 Nr. 102 sowie zusammenfassend unter Anführung von Fallbeispielen: NdsOVG, Beschluss vom 15. Januar 2007, BRS 71 Nr. 88 und vom 18. Februar 2009, BauR 2009, 954; zu unzumutbaren Einsichtnahmemöglichkeiten von einem über 30 m hohen Aussichtsturm neben einem Wohnhaus: OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 10. März 2006 - OVGE 10 S 5.05 -, OVGE 27,53). Die von der Rechtsprechung entschiedenen Fälle machen jedoch deutlich, dass es für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes nicht genügt, wenn ein Vorhaben die Situation für den Nachbar nachteilig verändert. Vielmehr beschränkt sich dies auf Extremfälle, die der Schaffung einer "Hinterhofsituation" vergleichbar sind und dem Nachbargrundstück gleichsam die "Luft zum Atmen nehmen" oder - wie in dem vom Senat entschiedenen Fall (Beschluss vom 10. März 2006, a. a. O.) - ein Nachbargrundstück aus großer Höhe und nahezu jedem Blickwinkel den Einsichtnahmemöglichkeiten Dritter ausgesetzt ist. Ebenso, wenn in einer Reihenhauszeile erstmals im Bereich des Obergeschosses einer Art Aussichtsplattform geschaffen wird, bei der das nachbarliche Schlafzimmerfenster "zum Greifen nahe" ist (1 m Entfernung) und dem Nachbarn nicht mehr wenigstens ein Mindestmaß an privater Wohnsphäre verbleibt (vgl. OVG NW, Urteil vom 22. August 2005, BRS 69 Nr. 91). Mit diesen Situationen ist die im vorliegenden Fall zu erwartende nachteilige Veränderung für das Grundstück des Antragstellers durch den streitgegenständlichen Anbau jedoch nicht vergleichbar. Die Dachterrasse ist zwar mit über 100 m² ungewöhnlich groß, die von dem Antragsteller erwartete vermehrte Nutzung für Veranstaltungen mit vielen Personen und die damit verbundenen Lärmbelästigungen beruhen auf bloßen Vermutungen. Inwieweit in die spezielle Aufteilung der Dachterrasse (das nach Angaben des Antragsgegners in der Beschwerdeerwiderung eingelassene Wasserbecken auf der Südseite der Terrasse) die Nutzung mehr zu deren Mitte oder sogar mehr zum Grundstück K_____straße 31 hin verlagern würde, kann dahinstehen, zumal sie baulich jederzeit wieder veränderbar wäre. Die von dem Antragsteller eingereichten Fotos vermitteln zwar insgesamt die für den Antragsteller eingetretene ungünstigere bauliche Situation, können aber an der rechtlichen Bewertung nichts ändern.

Die von der Situierung der Garage hinter der Baugrenze und damit im hinteren Bereich des Grundstücks K_____straße 29 zu erwartenden Lärmbelästigungen dürften den Antragsteller kaum tangieren. Denn die Zufahrt zu der Garage befindet sich auf der nördlichen Seite des Grundstücks K_____straße 29, so dass sie von dem Wohnhaus der Beigeladenen abgeschirmt wird. Zudem ist die Einfahrt in die Garage zu der nördlichen Grundstücksgrenze der Beigeladenen ausgerichtet und kann allenfalls vom Nachbargrundstück K_____straße 31 wahrgenommen werden, dessen Nießbraucherin dem Vorhaben zugestimmt hat, wobei der Antragsteller deren Belange ohnehin nicht geltend machen könnte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG, wobei das Gericht der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung folgt. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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