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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 09.05.2008
Aktenzeichen: OVG 2 M 17.08
Rechtsgebiete: AufenthG, VwGO, ZPO


Vorschriften:

AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 1
VwGO § 166
ZPO § 114
ZPO § 114 Satz 1
ZPO § 121
ZPO § 170 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 2 M 17.08

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 2. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Korbmacher und die Richter am Oberverwaltungsgericht Hahn und Dr. Jobs am 9. Mai 2008 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 26. Februar 2008 wird geändert. Den Klägerinnen wird Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug bewilligt und ihnen Rechtsanwalt J_____ beigeordnet.

Gründe:

Die Klägerinnen zu 1. und 2. sind fünf- und siebenjährige Kinder, welche die Staatsangehörigkeit der Dominikanischen Republik besitzen und sich dort bei Verwandten aufhalten. Ihr Vater ist unbekannt. Die Kinder begehren den Nachzug zu ihrer in Hamburg lebenden, allein personensorgeberechtigten Mutter, der Klägerin zu 3., welche ebenfalls die dominikanische Staatsangehörigkeit besitzt. Sie hat als Ehegattin eines Deutschen eine gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Die Klägerin zu 3. und ihr deutscher Ehegatte haben seit dem 22. März 2007 einen gemeinsamen Sohn, der deutscher Staatsangehöriger ist.

Die Beschwerde der Klägerinnen ist begründet. Die Klägerinnen haben nach § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 ZPO einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Rechtsanwalts für das erstinstanzliche Verfahren. Entgegen der Bewertung des Verwaltungsgerichts bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung im Verfahren der ersten Instanz hinreichend Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Die Prüfung der Erfolgsaussichten nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (BVerfG, Beschluss vom 19. Februar 2008, NJW 2008, 1060 m.w.N.). Dem entsprechend sieht § 114 ZPO die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits dann vor, wenn nur hinreichende Erfolgsaussichten für den beabsichtigten Rechtsstreit bestehen, ohne dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss. Dies bedeutet zugleich, dass Prozesskostenhilfe verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, aber fern liegend ist (BVerfG, Beschluss vom 7. April 2000, NJW 2000, 1936).

In Anwendung dieser Vorgaben kann nicht festgestellt werden, dass ein Erfolg in der Hauptsache hier fern liegt; vielmehr bestehen unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens hinreichende Erfolgsaussichten für die Klage der minderjährigen Kinder auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Nachzugs zu ihrer Mutter (vgl. dazu § 32 Abs. 3 AufenthG).

Vom Ausgangspunkt geht zwar das Verwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass der Lebensunterhalt der Kinder nicht gesichert ist, weil die Klägerin zu 3., wie auch deren Ehemann, Leistungen nach dem SGB II beziehen und daher nicht in der Lage sind, den Lebensunterhalt der Familie ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu bestreiten.

Abweichend von der Bewertung des Verwaltungsgerichts bestehen hier aber möglicherweise besondere, atypische Umstände, die es ausnahmsweise erlauben, von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen. Die Worte "in der Regel" im System der Rechtsgrundlagen für Aufenthaltstitel beziehen sich auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheidet. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2007, AuAS 2008, 28). Ein derartiger Ausnahmefall kann etwa vorliegenden, wenn der Versagung der Aufenthaltserlaubnis höherrangiges Recht entgegensteht, insbesondere die Versagung mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar ist. Als solche Wertentscheidung kommt insbesondere Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG in Betracht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. März 1999, InfAuslR 1999, 332; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. November 2006, InfAuslR 2007, 67). Die darin enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, entspricht einem Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei Entscheidungen über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen zu im Bundesgebiet lebender Personen angemessen berücksichtigen (vgl. näher u.a. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Dezember 2005 - BVerfGK 7, 49 und vom 23. Januar 2006, InfAuslR 2006, 320).

Unter Berücksichtigung dessen liegt es hier nicht fern, dass der begehrte Kindernachzug der Klägerinnen zu 1. und 2. zu ihrer Mutter durch atypische Umstände gekennzeichnet ist, die so bedeutsam sind, dass es ausnahmsweise geboten sein könnte, von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen, wobei insoweit eine abschließende Prüfung nicht Aufgabe des summarischen Verfahrens der Prozesskostenhilfe ist, sondern dem beim Verwaltungsgericht anhängigen Klageverfahren vorbehalten bleiben muss.

Bedeutsam ist hier der Umstand, dass bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren der minderjährigen Klägerinnen zu 1. und 2. nicht nur deren Bindung an die berechtigterweise im Bundesgebiet lebende Mutter im Rahmen einer Eltern-Kind-Beziehung zu berücksichtigen ist, sondern darüber hinaus auch die familiäre Bindung der Mutter an den hier lebenden deutschen Ehemann sowie an den am 22. März 2007 geborenen gemeinsamen Sohn mit deutscher Staatsangehörigkeit, die nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes nicht beabsichtigen, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und in die Dominikanische Republik auszuwandern. Die bestehende Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Klägerin zu 3. mit ihrem Sohn deutscher Staatsangehörigkeit kann daher nach summarischer Prüfung nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind aber nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind - wie hier - deutscher Staatsangehörigkeit ist und ihm wegen der Beziehung zu einem anderen Elternteil das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Dezember 2005 - BVerfGK 7, 49 und vom 23. Januar 2006, InfAuslR 2006, 320). Angesichts dessen erscheint es möglich, dass es hier ausnahmsweise geboten ist, den öffentlichen Belang, den Kindernachzug von einer gesicherten wirtschaftlichen Grundlage abhängig zu machen, zurücktreten zu lassen und damit von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen, weil sonst die Versagung der Aufenthaltserlaubnis der Klägerinnen zu 1. und 2. mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zum Schutz der Familie in Kollision stehen dürfte. Die Klägerin zu 3. wäre dann nämlich gezwungen, zur Fortsetzung der familiären Bindung an ihren Sohn deutscher Staatsangehörigkeit die durch Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistete im Interesse der Kinder liegende Elternverantwortung zu Gunsten der Klägerinnen zu 1. und 2. aufzugeben. Die Folge wäre eine endgültige oder jedenfalls mehr als vorübergehende Trennung der Mutter von ihren Töchtern, die derzeit in der Dominikanischen Republik leben. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt der fünf- und siebenjährigen Kinder zur allein sorgeberechtigten Mutter deren Persönlichkeitsentwicklung dient und sie die Mutter brauchen, zumal der Vater der Kinder nicht bekannt ist und damit tatsächlich keine Elternverantwortung wahrnimmt.

Eine andere Bewertung ergibt sich bei summarischer Prüfung auch nicht aus den Ausführungen des Verwaltungsgerichts und des Beklagten, wonach die Klägerin zu 3. bereits im Oktober 2005 den Entschluss gefasst habe, die beiden Töchter in der Obhut von Verwandten in der Dominikanischen Republik zurückzulassen und mit dem Ehemann in der Bundesrepublik Deutschland zu leben, woraus folge, dass eine (tief greifende) tatsächliche Mutter-Kind-Beziehung nicht mehr bestehe. Zwar ist zutreffend, dass die ausländerrechtliche Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG sich nicht schon auf Grund formal-rechtlicher familiärer Bindungen entfaltet. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Aus dem Beschwerdevorbringen geht aber hinreichend hervor, dass die Klägerin zu 3. ihren Töchtern weiterhin tatsächlich verbunden ist. Sie legt nachvollziehbar dar, dass ihr Entschluss, im Oktober 2005 mit dem Ehemann ins Bundesgebiet einzureisen und die Klägerinnen zu 1. und 2. in der Obhut der Mutter zurückzulassen, lediglich eine "Übergangslösung" gewesen sei, die ihren Grund darin gehabt habe, dass den Töchtern ein Visum nicht erteilt wurde. Angesichts dessen kann bei summarischer Prüfung ein tatsächlicher und dauerhafter Abbruch der Mutter-Kind-Beziehung im Prozesskostenhilfeverfahren nicht festgestellt werden.

Der Bewertung des Senats, dass hier möglicherweise von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen ist, steht auch die Erwägung des Verwaltungsgerichts nicht entgegen, dass ernstliche Zweifel daran bestünden, dass die Klägerinnen zu 1. und 2. im Falle ihrer Einreise in einer dauerhaften und stabilen Familiensituation mit ihrer Mutter leben könnten. Das Verwaltungsgericht stützt sich dabei auf einen in der Ausländerakte befindlichen Vermerk, wonach der Ehemann der Klägerin zu 3. wegen Vergewaltigung eine dreieinhalbjährige Freiheitsstrafe verbüßt habe und im Jahr 2006 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen des Verdachts des Eingehens einer Scheinehe sowie des Verdachts der "Körperverletzung/Freiheitsberaubung/Nötigung" zum Nachteil der Klägerin zu 3. geführt wurde. Soweit das Verwaltungsgericht damit bei der aufenthaltsrechtlichen Entscheidung, die den Umgang mit den Kindern berührt, der Sache nach auf das Wohl des Kindes abstellt, kann nach dem derzeitigen Stand der Sachverhaltsaufklärung im Prozesskostenhilfeverfahren, das Rechtsschutz zugänglich machen will, nicht gesichert festgestellt werden, dass der Kindernachzug zur Mutter den Belangen der Kinder widerspricht. Die Klägerinnen haben glaubhaft gemacht, dass das angesprochene Ermittlungsverfahren gegen den Ehemann mangels genügender Anhaltspunkte zur Erhebung der öffentlichen Klage am 11. April 2006 von der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Auch der Umstand, dass der Ehemann in der Vergangenheit eine Freiheitsstrafe wegen des Delikts der Vergewaltigung verbüßt hat, lässt für sich ohne nähere Ermittlungen zu den Einzelheiten der Tat und dem Verhalten des Ehemannes während und nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe nicht den hinreichend sicheren Schluss zu, dass der Kindernachzug zur Mutter im Hinblick auf deren Ehemann und dessen künftiges Verhalten aus Gründen des Kindeswohls zu versagen ist, zumal der Aufenthalt der Klägerin zu 3. nicht dauerhaft an die eheliche Lebensgemeinschaft gekoppelt ist (vgl. § 31 AufenthG). Es liefe demnach dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn den unbemittelten Klägerinnen Prozesskostenhilfe verweigert würde, obwohl zur Feststellung der tatsächlichen Belange der Kinder eine weitere Sachverhaltsaufklärung und ggf. Beweisaufnahme im Hauptsacheverfahren ernsthaft in Betracht kommt.

Die Klägerinnen haben auch ausreichend dargelegt, dass sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen können.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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