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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 16.02.2007
Aktenzeichen: OVG 3 N 106.06
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO, AufenthG


Vorschriften:

VwGO § 166
ZPO § 114 Satz 1
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 9
AufenthG § 9 Abs. 2 Satz 6
AufenthG § 26 Abs. 3
AufenthG § 26 Abs. 4
AufenthG § 29 Abs. 3
AufenthG § 32 Abs. 3
AufenthG § 32 Abs. 4
AufenthG § 32 Abs. 4 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 3 N 106.06

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 3. Senat durch die Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Fitzner-Steinmann sowie die Richter am Oberverwaltungsgericht Burchards und Dr. Peters am 16. Februar 2007 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren zweiter Instanz wird abgelehnt.

Der Antrag der Kläger, die Berufung gegen das ihnen am 12. April 2006 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zuzulassen, wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Antragsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Der Wert des Antragsgegenstandes wird auf 10 000 € festgesetzt.

Gründe:

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren zweiter Instanz ist abzulehnen, weil es der beabsichtigten Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen (II.) an der nach §§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO erforderlichen Erfolgsaussicht fehlt.

II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.

Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Die Kläger zeigen keine gewichtigen Gesichtspunkte auf, die für den Erfolg einer Berufung sprechen.

Den Klägern steht der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung von Visa zum Zwecke des Kindernachzuges nicht zu. Dies gilt auch bei Berücksichtigung des von ihnen fristgerecht (§ 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO) geltend gemachten Umstandes, dass ihrem Vater, der an einer HIV-Infektion leidet, zwischenzeitlich eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erteilt worden ist. Dabei geht der Senat - nachdem das Verwaltungsgericht dies unterstellt hat - im gegenwärtigen Verfahrensstadium davon aus, dass Herr O_____ der allein sorgeberechtigte Vater der Kläger ist.

Zwar sind nunmehr die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 AufenthG erfüllt, so dass es auf die vom Verwaltungsgericht erörterten allgemeinen Voraussetzungen des § 29 Abs. 3 AufenthG für den Familiennachzug zu Ausländern nicht mehr ankommt. Dem Begehren der Kläger steht jedoch entgegen, dass ihr Lebensunterhalt nicht gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Von der Einhaltung dieser Regelerteilungsvoraussetzung kann im Falle der Kläger nicht nach behördlichem Ermessen abgesehen werden. Dies ist nur dann zulässig, wenn der Ausländer, zu dem der Nachzug erfolgen soll, im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG ist (vgl. § 29 Abs. 2 AufenthG), was für den Vater der Kläger nicht zutrifft.

Ein Ausnahmefall, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erlauben würde, liegt entgegen der Auffassung der Kläger nicht vor. Ein solcher Ausnahmefall ist dadurch gekennzeichnet, dass ein atypischer Sachverhalt gegeben ist, der sich von der Menge gleichliegender Fälle durch besondere Umstände unterscheidet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht des der Regelerteilungsvoraussetzung zugrunde liegenden öffentlichen Interesses beseitigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. August 1996, BVerwGE 102, 12 zu § 7 Abs. 2 AuslG; Bäuerle in: GK-AufenthG, Stand: Januar 2007, Rz. 27 zu § 5 m.w.N.). Bei der Beurteilung, ob im Einzelfall ein solcher atypischer Sachverhalt vorliegt, ist der jeweilige Regelerteilungsgrund zu berücksichtigen (Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Auflage 2005, § 2 Rz. 85; Bäuerle, a.a.O.). Die in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG normierte Regelerteilungsvoraussetzung dient dem Zweck, die öffentlichen Haushalte davor zu bewahren, den Lebensunterhalt von Ausländern mit öffentlichen Mitteln sichern zu müssen. Sie gehört deshalb nach dem Konzept des Gesetzgebers zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (vgl. die Begründung zum Entwurf des Zuwanderungsgesetzes, BT-Drs. 15/420, S. 70; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2006, InfAuslR 2006, 277, 278; OVG Berlin, Beschluss vom 3. März 2005 - OVG 8 S 8.05 -, juris).

Angesichts dieses Regelungszwecks erlaubt die Erkrankung des Vaters der Kläger nicht die Annahme eines Ausnahmefalles. Der Vater der Kläger ist bereits seit mehreren Jahren krankheitsbedingt nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Im Falle des begehrten Nachzuges der Kläger könnte ihr Lebensunterhalt nur durch Inanspruchnahme öffentlicher Mittel sichergestellt werden; Gegenteiliges machen sie mit dem Zulassungsantrag nicht geltend. Dies würde nicht nur zu einer vorübergehenden, sondern angesichts der Erkrankung des Vaters dauerhaften Überbürdung der Kosten ihres Lebensunterhalts auf den Haushalt der Beigeladenen, also zur dauerhaften Inanspruchnahme öffentlicher Mittel führen. Die Annahme eines Ausnahmefalles ist jedoch nicht gerechtfertigt, wenn der Ausländer durch eine dauerhafte Erkrankung an der Aufnahme einer den Lebensunterhalt sichernden Beschäftigung gehindert ist (OVG Berlin, a.a.O.); anderenfalls würde gerade bei einem anhaltenden Ausfall der eigenen Sicherung des Lebensunterhaltes von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen sein. Dies wäre mit dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel nicht zu vereinbaren; typischerweise gewinnen die der Vorschrift zugrunde liegenden öffentlichen Interessen umso mehr an Gewicht, als der Bezug öffentlicher Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dauerhaft oder zumindest unabsehbar erscheint. Auf die Frage, ob der Betreffende unverschuldet erkrankt ist, kommt es insoweit nicht maßgebend an.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich im Hinblick auf die von den Klägern herangezogene Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG kein Wertungswiderspruch. Nach dieser Vorschrift wird bei der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis von der Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhaltes abgesehen, wenn der Ausländer diese Voraussetzung wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann. Eine solche Erleichterung im Zusammenhang mit der Verfestigung eines rechtmäßigen Aufenthalts (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) hat der Gesetzgeber nur für den Fall der Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG, nicht aber für den hier in Rede stehenden Fall des Familiennachzuges zu einem erkrankungsbedingt nicht erwerbstätigen Ausländer vorgesehen.

Ein atypischer Sachverhalt liegt auch nicht deswegen vor, weil die Versagung der Visa mit höherrangigem Recht nicht vereinbar wäre (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 26. März 1999, NVwZ-RR 1999, 610; OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O., S. 279). Aus Art. 6 Abs. 1 GG, auf den sich die Kläger mit ihrem Zulassungsantrag berufen, lässt sich ein grundrechtlicher Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks Nachzugs zu im Bundesgebiet lebenden ausländischen Angehörigen nicht begründen und es ist auch im Lichte dieses Grundrechts nicht zu beanstanden, wenn der Familiennachzug vom Bestehen einer gesicherten wirtschaftlichen Grundlage abhängig gemacht wird (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987, BVerfGE 76, 1, 47, 53). Ein Ausnahmefall ist auch nicht angesichts der im Zulassungsantrag geäußerten Befürchtung, die Kläger würden im Falle der Visumversagung ihren Vater nie mehr wiedersehen können, nicht anzunehmen. Der Vater der Kläger hält sich bereits seit dem Mai 1992 im Bundesgebiet auf. Er hat folglich die familiäre Lebensgemeinschaft mit den Klägern zu einem Zeitpunkt aufgegeben, als diese neun Monate bzw. knapp drei Jahre alt waren. Eine Vater-Kind-Beziehung, in die die Versagung der Visa eingreifen könnte, hat mithin während des weit überwiegenden Teils des Lebens der Kläger, nicht bestanden. Soweit der Kontakt in der Vergangenheit durch mehr oder weniger sporadische Telefonate und finanzielle Leistungen in wechselnder Höhe gestaltet wurde, bleibt dies unverändert auch zukünftig möglich. Schließlich verfügen die Kläger in ihrem Heimatland auch über familiären Rückhalt, sind also nicht völlig auf sich allein gestellt, mag auch die Betreuung und Versorgung durch einen Cousin ihres Vaters nur widerwillig und nicht immer zufriedenstellend geleistet werden. Dass die Kläger, gemessen an den allgemeinen Verhältnissen in ihrem Heimatland, in unterdurchschnittlichen oder gar verwahrlosten Verhältnissen lebten, ist weder vom Verwaltungsgericht festgestellt noch mit dem Zulassungsantrag dargelegt.

Die Richtigkeit des angefochtenen Urteils ist auch im Hinblick auf § 32 Abs. 4 AufenthG nicht ernstlich zweifelhaft. Auch bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 AufenthG setzt die Erteilung einer auf diese Vorschrift gestützten Aufenthaltserlaubnis die Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung (u.a.) des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG voraus. Daran fehlt es, wie vorstehend dargelegt. Im Übrigen kann entgegen der Auffassung der Kläger nicht davon ausgegangen werden, dass das in § 32 Abs. 4 Satz 1 AufenthG eingeräumte Ermessen dahin reduziert wäre, dass jede andere Entscheidung als diejenige, ihnen die begehrten Visa zu erteilen, rechtswidrig wäre. Das Verwaltungsgericht hat, wenn auch im Zusammenhang mit § 29 Abs. 3 AufenthG, auf die von der Beigeladenen geltend gemachten geringen Integrationsaussichten der Kläger im Bundesgebiet und die Möglichkeit, ihnen eine bessere Versorgung im Heimatland zu gewährleisten, verwiesen. Zu diesen Kindeswohlerwägungen verhält sich der Zulassungsantrag nicht und er legt auch nicht dar, dass die genannten Umstände im Rahmen der nach § 32 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung nicht berücksichtigungsfähig wären.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über den Wert des Antragsgegenstandes beruht auf §§ 47 Abs. 1 und Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 124 a Abs. 5 Satz 4, 152 VwGO; § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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