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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 30.09.2005
Aktenzeichen: OVG 5 M 25.05
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO, VwVfG


Vorschriften:

VwGO § 86 Abs. 1
VwGO § 166
ZPO § 114
ZPO § 121
VwVfG § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2
VwVfG § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN-BRANDENBURG BESCHLUSS

OVG 5 M 25.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Wolnicki, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Ehricke und den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Raabe am 30. September 2005 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 18. März 2005 geändert. Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren bewilligt und die zu ihrer Vertretung bereite Rechtsanwältin Dr. D. S. beigeordnet.

Gründe:

Die Beschwerde der Klägerin ist begründet. Sie hat nach § 166 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - in Verbindung mit § 114 und § 121 der Zivilprozessordnung - ZPO - einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für das erstinstanzliche Verfahren. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet im Verfahren der ersten Instanz hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig.

Für das Bestehen einer hinreichenden Aussicht auf Erfolg genügt es, wenn eine gewisse Erfolgsaussicht besteht, wenn also der Ausgang des Verfahrens offen ist und ein Obsiegen ebenso in Betracht kommt wie ein Unterliegen. Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist insbesondere zu bejahen, wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil eines Klägers ausgeht (BVerfG, Beschlüsse vom 30. September 2003 - 1 BvR 2072/02 -, NJW-RR 2004, 61; 14. April 2003 - 1 BvR 1998/02 -, Juris; 20. Februar 2002 - 1 BvR 1450/00 -, NJW-RR 2002, 1069; 7. Mai 1997 - 1 BvR 296/94 -, NJW 1997, 2745, 2746; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1986 - 2 BvR 25/86 -, Juris).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Aus § 86 Abs. 1 VwGO ergibt sich eine umfassende Verpflichtung, jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juli 1977 - III C 17.74 -, Juris). Die Intensität und Reichweite der damit geforderten Bemühungen lassen sich dahin umschreiben, dass das Gericht allen bei einer verständigen Würdigung ernsthaften, diskutablen Möglichkeiten des Geschehens einschließlich jeder ernstlichen Möglichkeit einer Abweichung von dem nach den Umständen an sich zu erwartenden Geschehensablauf oder von dem sich verfestigenden Bild nachzugehen hat ("Sich-Aufdrängen" einer Aufklärungsmaßnahme). Als die gerichtliche Aufklärungspflicht limitierend wirkt der Umstand, dass dem Gericht die Möglichkeit eines abweichenden Sachverhalts oder der Existenz eines zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse tauglichen Mittels oder dessen spezielle Eigenschaft als mögliches Beweismittel nicht bekannt und auch nicht erkennbar ist (vgl. Darwin, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: September 2004, § 86 Rn. 61 ff. m. w. Nachw.).

Die Klägerin hat Beweis durch Vernehmung von Zeugen und eine Parteivernehmung für ihre Behauptung angeboten, in ihrer Familie sei nie darüber gesprochen worden, dass Vorfahren aus der Türkei stammen könnten. Eine Vernehmung der von ihr benannten Zeugen und ggf. die von ihr angeregte Parteivernehmung könnten Aufschluss darüber ergeben, ob die Klägerin Kenntnis von ihren türkischen Wurzeln gehabt hat, und damit Aufschluss über die Frage, ob sie bei der Beantragung ihrer Einbürgerung arglistig getäuscht hat. Eine Beweisaufnahme kommt ungeachtet der in dem angefochtenen Beschluss geäußerten Überzeugung der Kammer des Verwaltungsgerichts, sie halte es für ausgeschlossen, dass die Klägerin bis zu ihrem 27. Lebensjahr von dem türkischen Hintergrund ihrer Familie nichts gewusst habe, in Betracht. Das Gericht darf von einer Beweisaufnahme nicht deshalb absehen, weil es vom Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache überzeugt ist oder den Sachverhalt bereits für geklärt hält (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. April 1991 - 3 C 73.89 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 229 m. w. Nachw.). Die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil die in Betracht zu ziehende Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der Klägerin ausgehen wird. Es liegen keine konkreten nachvollziehbaren Anhaltspunkte für eine solche Prognose über den Ausgang einer Beweisaufnahme vor. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe sich verfahrensangepasst geäußert, lässt eine negative Vorhersage über das Ergebnis einer Beweisaufnahme nicht mit der erforderlichen großen Wahrscheinlichkeit zu.

Einer mit Rücksicht auf die in Betracht zu ziehende Beweisaufnahme erfolgenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe steht im Ergebnis auch nicht entgegen, dass der Beklagte ergänzend geltend gemacht hat, die Klägerin habe ihre Einbürgerung jedenfalls durch in wesentlicher Hinsicht unrichtige und unvollständige Angaben erwirkt (§ 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VwVfG), auch lägen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG vor. Durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist lediglich geklärt, dass die Rücknahme der Einbürgerung jedenfalls bei einer durch bewusste Täuschung erwirkten Einbürgerung möglich ist (BVerwG, Urteile vom 3. Juni 2003 - 1 C 19.02 -, Juris und 9. September 2003 - 1 C 6.03 -, Juris). Da eine hinreichende Aussicht auf Erfolg i. S. v. § 114 ZPO auch zu bejahen ist, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (BVerfG, Beschlüsse vom 30. September 2003 - 1 BvR 2072/02 -, NJW-RR 2004, 61; 5. Februar 2003 - 1 BvR 1526/02 -, NJW 2003, 1857, 1858; 10. Dezember 2001 - 1 BvR 1803/97 -, NJW-RR 2002, 793 f.; 2. Februar 1993 - 1 BvR 1697/91 -, NJW-RR 1993, 1090; 13. März 1990 - 2 BvR 94/88 -, NJW 1991, 413, 414; 30. Oktober 1991 - 1 BvR 1386/91 -, NJW 1992, 889), muss vorliegend Prozesskostenhilfe entsprechend auch bewilligt werden, wenn man als zutreffend unterstellen wollte, die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG lägen vor, und insoweit annehmen wollte, dass es auf den Vorsatz der Klägerin nicht ankommt.

Es bedarf vor dem geschilderten Hintergrund keiner Entscheidung, ob die Gewährung von Prozesskostenhilfe auch deshalb gerechtfertigt ist, weil im Hinblick auf die erfolglose Anforderung eines Personenstandsregisterauszugs über die Familie H. U. unklar ist, ob die Klägerin die türkische Staatsangehörigkeit besaß, als sie die Einbürgerung beantragte.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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