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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 14.10.2009
Aktenzeichen: OVG 6 S 22.09
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO, SGB VIII, SGB X


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 146 Abs. 4
VwGO § 166
ZPO § 119 Abs. 1 Satz 2
SGB VIII § 42
SGB X § 45
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN-BRANDENBURG BESCHLUSS

OVG 6 S 22.09

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 6. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Schultz-Ewert, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Scheerhorn und den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Schreier am 14. Oktober 2009 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 31. Juli 2009 geändert: Der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens unter Beiordnung von Rechtsanwältin Annette Fölster, Wilhelm-Stolze-Straße 19, 10249 Berlin, bewilligt.

Gründe:

I. Die Beschwerde des Antragsgegners ist begründet.

Nach dem im Beschwerdeverfahren maßgebenden Prüfungsstoff (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) hat das Verwaltungsgericht zu Unrecht die aufschiebende Wirkung der Klage VG 18 K 210.09 gegen den Bescheid der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung vom 13. Juli 2009 wiederhergestellt. Gegenstand des Bescheides ist die Rücknahme der auf der Grundlage von § 42 SGB VIII erfolgten Inobhutnahme des nach eigenen Angaben aus Guinea stammenden, 15 Jahre alten Antragstellers nach § 45 SGB X, weil dieser nach Ansicht des Antragsgegners das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat.

1. Im Rahmen der bei Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung, deren Ausgang sich regelmäßig maßgeblich nach den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren richtet, ist das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen sei, weil sich nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen lasse, dass die Rücknahme der Inobhutnahme durch den angefochtenen Bescheid rechtswidrig sei. Die Rücknahme war vielmehr auch nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren grundsätzlich lediglich summarischen, also nach Aktenlage möglichen, aber auch ausreichenden Prüfung rechtmäßig.

Rechtsgrundlage der Rücknahme ist § 45 Abs. 1 SGB X. Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese Voraussetzungen liegen vor.

a) Die auf § 42 Abs. 1 SGB VIII gestützte Inobhutnahme, die der Antragsgegner hier am 1. Juli 2009 vorgenommen hat, ist ein begünstigender Verwaltungsakt (vgl. Beschluss des Senats vom 12. Mai 2009 - OVG 6 S 8.09/OVG 6 M 10.09 -, juris). Er setzt für seine Rechtmäßigkeit u.a. voraus, dass die in Obhut genommene Person das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Daran fehlt es, denn nach den vorliegenden Erkenntnissen hatte der Antragsteller im Zeitpunkt seiner Inobhutnahme das 18. Lebensjahr bereits vollendet.

aa) Für diese Annahme sprechen schon die eigenen Angaben des Antragstellers. Danach wurde er im Alter von 10 oder 11 Jahren eingeschult und hat die Schule bis zur 6. Klasse, also bis zu seinem 16. oder 17. Lebensjahr besucht. Da er sich nicht mehr daran erinnern kann, wie lange das Ende des Schulbesuchs zeitlich zurückliegt, kann - insoweit im Einklang mit dem Verwaltungsgericht - gefolgert werden, dass dies bereits längere Zeit her ist. Damit ist aber nicht nur seine Behauptung, er sei erst 15 Jahre alt, widerlegt, sondern es liegt auch der Schluss nahe, dass der Antragsteller das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat. Dieser Eindruck wird durch das im Verwaltungsvorgang befindliche Lichtbild des Antragstellers verstärkt und durch die Feststellungen der Sozialarbeiterinnen des Antragsgegners bestätigt, die sich gesprächsweise einen persönlichen Eindruck von ihm verschafft haben. Sie haben dabei ausgeprägte Stirn- und Halsfalten, tiefe Nasenraumfalten und eine durchgehend tiefe Stimmlage des Antragstellers festgestellt.

bb) Weiter wird die Annahme, dass der Antragsteller bei seiner Inobhutnahme bereits das 18. Lebensjahr vollendet hatte, wesentlich durch die unbestrittenen tatsächlichen Feststellungen im Gutachten des Zahnarztes Dr. S_____ vom 7. Juli 2009 gestützt. Dr. S_____hat den Antragsteller persönlich untersucht und dabei festgestellt, dass bei diesem alle vier Weisheitszähne vorhanden, tief zerstört bzw. kariös und seit mindestens zwei Jahren in der Mundhöhle sind; ferner sind mehrere Zähne extrahiert und ein Zahn überkront. Seine Schlussfolgerung, der Antragsteller sei mit sehr großer Wahrscheinlichkeit 22 Jahre alt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber deutlich älter als 18 Jahre, ist - zumal vor dem Hintergrund allgemeiner, in diese Richtung weisenden Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen - ohne weiteres nachvollziehbar. Es bedarf insoweit auch nicht der weiteren Befragung des Gutachters oder ergänzender Aufklärungsmaßnahmen.

Soweit das Verwaltungsgericht an einen Hinweis des Antragstellers anknüpft, wonach in Teilen Schwarzafrikas der Durchbruch der Weisheitszähne durchschnittlich mit 14 Jahren erfolge, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Aus dem Zusammenhang der Darstellung in dem vom Antragsteller zitierten Beitrag "Altersschätzung bei Kindern und Jugendlichen - Grundsatzfragen -" von Marré/Hetzer ergibt sich, dass dort mit dem Begriff "Durchbruch" die Penetration der Mundschleimhaut durch die Zahnkrone lediglich eines der sog. Weisheitszähne gemeint sein dürfte. Daraus lässt sich aber - anders als das Vorbringen des Antragstellers offenbar suggerieren will - nicht folgern, dass bei Schwarzafrikanern im Durchschnitt im Alter von 14 Jahren alle vier Weisheitszähne bereits vollständig durchgebrochen sind und die Kauebene erreicht haben. Bei Auswertung der aktenkundigen Erkenntnismittel ergibt sich hinsichtlich der Altersbestimmung durch Untersuchung der Eruption und des Entwicklungsstandes der Weisheitszähne vielmehr ein anderes Bild. Zwar setzen Durchbruch und Wachstum der Weisheitszähne bei Schwarzafrikanern deutlich früher ein bzw. sind deutlich früher abgeschlossen, als etwa bei Mitteleuropäern. Die verschiedenen Studien zur Altersbestimmung durch Ermittlung des Durchbruchs und Entwicklungsstandes der dritten Molaren (sog. Weisheitszähne) weisen jedoch jeweils unterschiedliche Ergebnisse auf. In einer Studie von Otuyemi u.a. aus dem Jahr 1997 wird festgestellt, dass der Durchbruch der Weisheitszähne bei Jungen aus Schwarzafrika im Alter von 14 Jahren und bei Mädchen im Alter von 13 Jahren begann. Alle vier Weisheitszähne waren danach jedoch erst im Durchschnittsalter von 17,5 Jahren durchgebrochen. Der Anteil der 14jährigen, die bereits alle Weisheitszähne aufwiesen, betrug dagegen lediglich 1,1% der insgesamt 1071 Probanden (Quelle: C. Peschke, Untersuchungen zum zeitlichen Verlauf der Weisheitszahneruption einer europiden Population, Diss. HU Berlin, 2007, S. 54 f.; Marré/Hetzer, a.a.O., S. 44) - eine im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigbare Größenordnung. Das jüngste Durchschnittsalter wurde im Rahmen einer 1960 von Chagula durchgeführten Studie an 990 männlichen Ugandern im Alter von 6 bis 26 Jahren ermittelt. Danach beträgt die Wahrscheinlichkeit des Durchbruchs aller dritten Molaren im Alter von 14 Jahren 1/10, im Alter von 16 Jahren 1/2, im Alter von 18 Jahren 3/5 und im Alter von 21 Jahren 4/5 (Quelle: C. Peschke, a.a.O., S. 53). Andere Studien gelangen zu deutlich abweichenden Ergebnissen. Eine von Hassanali im Jahre 1985 an 1343 Kenianern aus Nairobi durchgeführte Studie ergab, dass erst im Alter von 18,5 Jahren die Wahrscheinlichkeit, dass alle dritten Molaren durchgebrochen waren, bei 50% lag (Quelle: Peschke, a.a.O., S. 56 f.; Marré/Hetzer, a.a.O., S. 45). Nach einer Studie von Ajmani aus dem Jahr 1986 konnte an den Probanden (1238 Nordnigerianer im Alter zwischen 11 und 23 Jahren) erst mit 18 (weiblich) bzw. 18,5 Jahren (männlich) der Durchbruch der Weisheitszähne festgestellt werden (Quelle: C. Peschke, a.a.O., S. 54; Marré/Hetzer, a.a.O., S. 45). Geht man davon aus, dass es im günstigsten Fall mindestens ein Jahr dauert (Olze spricht in seinem Gutachten vom 1. September 2008 sogar von einem Zeitraum zwischen zwei und vier Jahren, Bl. 58 der Streitakte), bis ein Weisheitszahn von seinem initialen Durchbruch bis zur Kauebene gewachsen ist, lässt sich - trotz aller in Rechnung zu stellenden Unwägbarkeiten - aus diesen Studien in der gebotenen Gesamtschau folgern, dass statistisch gesehen eine ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, dass ein Schwarzafrikaner, dessen vier Weisheitszähne vollständig durchgebrochen sind, also die Kauebene erreicht haben, das 18. Lebensjahr vollendet hat.

Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnisse ist der Antragsteller deutlich älter als 18 Jahre, denn seine Weisheitszähne befinden sich seit mindestens zwei Jahren in seiner Mundhöhle. Dieser Feststellung des Dr. S_____ ist er nicht entgegengetreten. Insbesondere behauptet er selbst keinen Zeitpunkt des Durchbruchs seiner Weisheitszähne, der einen anderen Schluss nahe legte. Da er sich nach dem von Dr. S_____beschriebenen tatsächlichen Zustand seiner Zähne (Extraktion und Überkronung) offensichtlich bereits früher in zahnärztliche Behandlung begeben hatte, erscheint es auch nicht fernliegend anzunehmen, dass er insoweit nähere Angaben machen könnte.

Die gegen das Gutachten des Dr. S_____ vom Antragsteller angeführten wissenschaftlichen und methodischen Bedenken sind vor diesem Hintergrund nicht entscheidungserheblich.

b) Die weiteren Voraussetzungen für die Rücknahme der Inobhutnahme des Antragstellers lagen ebenfalls vor. Insbesondere ist es ihm verwehrt, sich gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X auf Vertrauen in die Fortgeltung der Inobhutnahme zu berufen. Ein Vertrauen, das er insoweit gehabt haben mag, wäre jedenfalls nicht schutzwürdig, weil die Inobhutnahme auf mindestens grob fahrlässigen, in wesentlicher Beziehung unrichtigen Angaben des Antragstellers beruht (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X).

Die Rücknahme der Inobhutnahme durch den angefochtenen Bescheid erfolgte - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - nicht ermessensfehlerhaft. Zwar enthält der Bescheid keine ausdrücklichen Ermessenserwägungen. Das war angesichts der konkreten Sachlage aber auch nicht erforderlich. Es sind keinerlei Gesichtspunkte erkennbar oder geltend gemacht, die man zur Aufrechterhaltung der erst am 1. Juli 2009 erfolgten Inobhutnahme durch den Bescheid vom 13. Juli 2009 hätte anführen können. Vielmehr lag bei dem gegebenen Sachstand die Rücknahme der Inobhutnahme nahe.

2. Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, scheidet ein Vorrang des privaten Aussetzungsinteresses des Antragstellers aus. Es besteht ein besonderes Interesse am sofortigen Vollzug der Maßnahme, das der Antragsgegner im angefochtenen Bescheid den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO entsprechend begründet hat. Er hat insoweit nachvollziehbar dargelegt, dass die Clearing-Stelle, durch die die Inobhutnahme erfolgt, infolge der starken Nachfrage überlaufen ist und der sofortige Ausschluss des Antragstellers zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Inobhutnahme-Einrichtung des Antragsgegners erforderlich ist.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 188 Satz 2 VwGO).

II. Dem über keinerlei Einkommen verfügenden Antragsteller war Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens gemäß § 166 VwGO in Verbindung mit § 114, § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu bewilligen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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