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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 15.03.2006
Aktenzeichen: OVG 8 S 123.05
Rechtsgebiete: FreizügG/EU, AuslG, AufenthG


Vorschriften:

FreizügG/EU § 1
FreizügG/EU § 2 Abs. 1
FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 6
FreizügG/EU § 5 Abs. 2
FreizügG/EU § 6
FreizügG/EU § 6 Abs. 1
FreizügG/EU § 7 Abs. 1 Satz 1
FreizügG/EU § 11 Abs. 1 Satz 1
FreizügG/EU § 11 Abs. 2
AuslG § 8 Abs. 2 Satz 1
AuslG §§ 45 ff
AufenthG § 12
AufenthG § 102 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 8 S 123.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 8. Senat durch die Richter am Oberverwaltungsgericht und sowie die Richterin am Verwaltungsgericht am 15. März 2006 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2 500 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Der mehrfach vorbestrafte und mit bestandskräftigem Bescheid vom 11. November 2003 ausgewiesene Antragsteller, ein französischer Staatsangehöriger, begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen seine (erneute) Abschiebung aus der Bundesrepublik Deutschland. Er wurde am 2. November 2004 nach Frankreich abgeschoben, reiste erneut in das Bundesgebiet ein und wurde zur Verbüßung einer noch offenen (Rest-) Haftstrafe festgenommen.

Mit Bescheid vom 13. Juni 2005 drohte die Ausländerbehörde ihm die erneute Abschiebung an, die am 24. Oktober 2005 vorgesehen war. Dagegen hat der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz mit der Begründung nachgesucht, er genieße Freizügigkeit, sei krankenversichert und nehme keine öffentlichen Leistungen in Anspruch.

Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsgegner mit Beschluss vom 28. Oktober 2005 im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt, den Antragsteller abzuschieben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Bei summarischer Prüfung sei davon auszugehen, dass seine Abschiebung derzeit aufgrund des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht rechtmäßig möglich sei. Unionsbürger seien danach nur ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde zuvor unanfechtbar festgestellt habe, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht bestehe. Eine solche Feststellung sei hier nicht getroffen worden. Sie ergebe sich auch nicht aus der bestandskräftigen früheren Ausweisung. Ebenso wenig ergäben sich aus ihr nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU am 1. Januar 2005 fortgeltende rechtliche Wirkungen. Es fehle nämlich, anders als im Aufenthaltsgesetz, an einer dafür erforderlichen Übergangsregelung. Aus allgemeinen Grundsätzen ergebe sich nichts anders. Der Begründung des Freizügigkeitsgesetzes/EU lasse sich kein positiver Hinweis für die Fortgeltung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung des Antragstellers entnehmen, obwohl dem Gesetzgeber kaum entgangen sein dürfte, dass es dazu entsprechender Übergangsregelungen bedurft hätte. Aus der Begründung des Zuwanderungsgesetzes ergebe sich allerdings, dass der Gesetzgeber durch die Neufassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger einer Gesamtrevision mit dem Ziel einer Stärkung ihrer Rechtsstellung, namentlich eines verbesserten Schutzes vor Aufenthaltsbeendigung für einen erweiterten Personenkreis unterzogen habe. Damit sei es vereinbar, dass Unionsbürgern das Einreise- und Aufenthaltsrecht nur noch nach dem speziell dafür vorgesehenen Feststellungsverfahren und nicht mehr durch auf alter Rechtslage beruhender Ausweisung und Abschiebung genommen werden dürfe.

Dagegen hat der Antragsgegner Beschwerde eingelegt.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet, denn der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Das Beschwerdevorbringen, das Inhalt und Umfang der oberverwaltungsgerichtlichen Überprüfung des angefochtenen Beschlusses bestimmt (§ 146 Abs. 4 VwGO), rechtfertigt nicht dessen begehrte Aufhebung.

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus §§ 1, 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 Freizügigkeitsgesetz/EU vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S.1950). Danach steht jedem Unionsbürger zunächst unabhängig davon, ob er die materiellrechtlichen Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung (§§ 2 Abs. 2 und 4 Satz 1 FreizügG/EU für nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen) erfüllt, das Recht zur Einreise und zum Aufenthalt zu. Dies ergibt sich aus § 5 Abs. 2 FreizügG/EU, wonach die zuständige Ausländerbehörde verlangen "kann", dass die Voraussetzungen des Rechts innerhalb angemessener Fristen glaubhaft gemacht werden. Hinzu kommt, dass nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz nur Anwendung findet, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt hat.

Eine Feststellung des Antragsgegners über das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU für den Antragsteller liegt hier nicht vor. Der Antragsteller ist demnach noch nicht ausreisepflichtig, so dass er einstweilen nicht abgeschoben werden darf. Nach § 7 Abs. 1 Sätze 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger nämlich erst ausreisepflichtig, wenn die Feststellung, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht, unanfechtbar ist.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners darf der Antragsteller derzeit auch nicht aufgrund der bestandskräftigen Ausweisung vom 11. November 2003 erneut abgeschoben werden. Bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung geht der Senat davon aus, dass die auf der Grundlage des Ausländergesetzes ergangene Ausweisung und die frühere Abschiebung nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU keine dem § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG entsprechende Wirkungen mehr entfalten.

§ 102 Abs. 1 AufenthG, wonach die vor dem 1. Januar 2005 getroffenen ausländerrechtlichen Maßnahmen, darunter auch Ausweisungen und Abschiebungen, einschließlich ihrer Folgen wirksam bleiben, ist hier nicht anwendbar, da die Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (noch) nicht festgestellt hat (vgl. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU). Eine dem § 102 Abs. 1 AufenthG entsprechende Regelung enthält das Freizügigkeitsgesetz nicht. Dies legt im Wege eines Umkehrschlusses die Annahme nahe, dass die auf der Grundlage des Ausländergesetzes und des bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Aufenthaltsgesetzes/EWG gegenüber einem Unionsbürger ausgesprochene Ausweisung und eine frühere Abschiebung ab dem 1. Januar 2005 keine Wirkungen mehr entfalten (so schon im Ergebnis Senatsbeschl. v. 18. Oktober 2005 - OVG 8 S 39.05 - ;vgl. auch HessVGH, Beschl. vom 29. Dezember 2004 - 12 TG 3212/04 - InfAuslR 2005, 130, der davon spricht, die Ausweisungsverfügung habe "ihre Rechtsgrundlage verloren"; wie hier Gutmann, InfAuslR 2005, 125/126). Die allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätze zur Bestandskraft von Verwaltungsakten hindern den Gesetzgeber nicht, deren Wirkungen zeitlich zu beschränken. Das ist hier geschehen, indem in § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU die in § 102 Abs. 1 AufenthG enthaltene und für erforderlich gehaltene Regelung zur Fortgeltung ausländerrechtlicher Maßnahmen, darunter Ausweisungen und Abschiebungen, für Unionsbürger nicht für entsprechend anwendbar erklärt wurde. Dass der Gesetzgeber für das Aufenthaltsgesetz nicht aber für das Freizügigkeitsgesetz/EU eine solche Fortgeltungsregelung für erforderlich gehalten hat, lässt nicht den Schluss zu, es habe ihrer im Hinblick auf die allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätze zur Bestandskraft nicht bedurft. Denn Gleiches müsste dann für § 102 Abs. 1 AufenthG gelten. Dass der Gesetzgeber dort aber eine überflüssige Regelung treffen wollte, kann nicht angenommen werden.

Die Ausweisung des Antragstellers nach altem Recht kann auch nicht als Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. § 6 Abs. 1 FreizügG/EU anerkannt werden (so aber Lüdke, InfAuslR 2005, 177 [178]). Den vom Antragsgegner in diesem Kontext im Falle der Nichtfortgeltung der Wirkungen einer altrechtlichen, unter Beachtung des § 12 AufenthG/EWG im Anschluss an das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. März 2005 ( - 3 Bf 294/04 - zitiert nach Juris, S. 15 ff.) konstatierten Wertungswiderspruch zwischen § 12 AufenthG/EWG und § 6 FreizügG/EU gibt es nicht. Denn der Gesetzgeber wollte mit dem Freizügigkeitsgesetz eine Gesamtrevision des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger in Deutschland durchführen (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes, BT-Drs. 15/420 S. 101). Diese beschränkt sich nicht auf eine redaktionelle Zusammenfassung der Regelungen zum Aufenthaltsrecht, sondern das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger und ihrer Angehörigen ist auch inhaltlich umgestaltet und vor allem gestärkt worden, indem die Regelungen der Aufenthaltsbeendigung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs präzisiert wurden und ein über die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben noch weiter als bisher hinausgehender Schutz vor Aufenthaltsbeendigung für einen erweiterten Personenkreis geschaffen wurde. Die materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine Ausweisung nach § 12 AufenthG/EWG i.V.m. den früher noch anwendbaren §§ 45 ff AuslG sind daher mit den erhöhten und zum Teil auch andersartigen Anforderungen des § 6 FreizügG/EU nur bedingt vergleichbar. Zudem ist der Gesetzgeber bei der Neuregelung einer Rechtsmaterie nicht an Wertungen gebunden, die früheren gesetzlichen Bestimmungen zu Grunde lagen.

Selbst wenn man dem nicht folgte, sondern zum Ergebnis käme, dass die altrechtliche Ausweisung und Abschiebung des Antragstellers noch Wirkungen zeitigt, die zu ihrer Beseitigung eines Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens oder eines Antrages zur Befristung ihrer Wirkungen bedürften, dann wäre ihm jedenfalls einstweilen das derzeit bestehende Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU vorläufig zur Durchführung eines entsprechenden Wiederaufgreifens- bzw. Befristungsverfahrens zu sichern (vgl. Senatsbeschl. v. 18. Oktober 2005, a. a. O., Beschlussabdruck S. 6).

Der Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben. Der Antragsteller hat die Dringlichkeit glaubhaft gemacht; der Antragsgegner beabsichtigt, ihn abzuschieben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes - GKG -.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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