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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Urteil verkündet am 11.02.2003
Aktenzeichen: OVG 2 B 16.99
Rechtsgebiete: BauO Bln, BO 58, BauNVO


Vorschriften:

BauO Bln § 59
BauO Bln § 6 Abs. 5
BO 58 § 7 Nr. 14
BO 58 § 8 Nr. 1 a
BO 58 § 8 Nr. 2
BO 58 § 7 Nr. 5
BauNVO § 15 Abs. 1
1. Die Versagung nachbarlicher Abwehrrechte bei wechselseitiger Abstandflächenunterschreitung setzt eine quantitativ und qualitativ wertende Betrachtung voraus.

2. Zur Rechtsnatur des Vorbescheids und der Frage des "richtigen" Drittrechtsschutzes gegen einen Vorbescheid und/oder die Baugenehmigung.


OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Aktenzeichen OVG 2 B 16.99

In der Verwaltungsstreitsache

Verkündet am 11. Februar 2003

hat der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Februar 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Freitag, den Richter am Oberverwaltungsgericht Liermann und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Dr. Broy-Bülow sowie die ehrenamtlichen Richter Fürstenberg und Gaede

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. April 1999 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufung einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen werden den Klägern auferlegt.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks in Berlin. Das Grundstück ist mit einem fünfgeschossigen Wohnhaus mit Seitenflügel und Quergebäude bis zu einer Tiefe von 40,70 m bebaut. Die Rückseite des Quergebäudes weist in allen Geschossen Fenster auf und ist dem Blockinnenbereich zwischen den Straßen in östlicher Richtung zugewandt. Über die Tiefe des Quergebäudes hinaus grenzt südwestlich ein frei stehender Seitenflügel des Grundstücks an, der weit bis in den Blockinnenbereich hineinragt. Der gesamte Baublock ist durch den Baunutzungsplan von 1958/60 als allgemeines Wohngebiet, Baustufe V/3 ausgewiesen. Zulässig sind fünf Vollgeschosse, eine GRZ von 0,3, eine GFZ von 1,5 und eine Bebauungstiefe von 13m.

Durch Teilung des straßenseitig mit einem fünfgeschossigen Wohnhaus bebauten Grundstücks entstand zwischen den im spitzen Winkel zueinander stehenden rückwärtigen Brandwänden der Grundstücke im Blockinnenbereich ein fächerförmig geschnittenes neues Grundstück). Dieses wurde von den Beigeladenen in dem Bereich zwischen den Brandwänden der Quergebäude mit einem sechsgeschossigen Wohngebäude mit 17 Wohnungen und einem kreissegmentförmigen Grundriss bebaut. Der Baukörper ist ca. 18 m hoch und liegt ca. 26 m vom, ca. 74 m von der und ca. 40 m von der entfernt.

Für die Errichtung des Gebäudes wurde den Beigeladenen noch vor der Grundstücksteilung der Vorbescheid vom 10. Mai 1994 erteilt, mit dem die Voraussetzungen für eine bauplanungsrechtliche und bauordnungsrechtliche Befreiung von der vorgeschriebenen Grundflächen-, Geschossflächen- und Geschosszahl sowie von der erforderlichen Tiefe der Abstandflächen bejaht wurden; ebenso für die Zulassung der Überschreitung der vorgeschriebenen Bebauungstiefe im Wege der Ausnahme. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Kläger wurde von dem Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 1996 zurückgewiesen.

Mit Bescheiden vom 1. November 1994 erteilte der Beklagte den Beigeladenen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Wohngebäudes mit 17 Wohnungen auf dem Grundstück sowie eine bauordnungsrechtliche Befreiung zur Unterschreitung der erforderlichen Tiefe der Abstandflächen. Hierzu erläuterte der Beklagte, dass durch die zwischenzeitlich erfolgte Teilung des Grundstücks eine veränderte bauplanungsrechtliche Situation entstanden sei, und es deshalb keiner bauplanungsrechtlichen Befreiung für die beantragte Bebauung des neuen Grundstücks mehr bedürfe. Die bauordnungsrechtliche Befreiung für die Nichteinhaltung der Tiefe der Abstandflächen sei aufgrund der besonderen Form und Lage des Baugrundstücks erforderlich, die eine Bebauung völlig ohne Verletzung der Abstandflächenvorschriften nicht zulasse. Aufgrund der nördlich versetzten Lage des Neubaus werde die Belichtung und Besonnung des Grundstücks der Kläger jedoch nicht negativ verändert. Die Bebauungstiefenüberschreitung sei gerechtfertigt, weil das Wohnbauvorhaben dem Abbau der Wohnungsnot in Berlin diene und deshalb im Interesse des Allgemeinwohls liege. Der Widerspruch der Kläger wurde mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 1996 zurückgewiesen.

Die nachfolgende Anfechtungsklage haben die Kläger nur gegen den Baugenehmigungs- und Befreiungsbescheid vom 1. November 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. April 1996 gerichtet.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 28. April 1999 abgewiesen.

Die Kläger könnten sich nicht auf eine Verletzung ihrer Nachbarrechte berufen. Schon der von ihnen mit der Klage nicht angefochtene Vorbescheid vom 10. Mai 1994 entfalte Bindungswirkung hinsichtlich der zugelassenen Abweichungen von den Festsetzungen des Baunutzungsplans von 1958 und von den bauordnungsrechtlichen Abstandflächenvorschriften. Überdies seien die bauplanungsrechtlichen Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung und der Bebauungstiefe nicht nachbarschützend und ein konkreter Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht feststellbar. Gegen die Nichteinhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandflächenvorschriften stehe den Klägern kein Abwehrrecht zu, weil die Bebauung ihres Grundstücks selbst die erforderlichen Abstandflächen zum Grundstück der Beigeladenen nicht einhalte, sondern dessen Flächen in noch weit stärkerem Maße in Anspruch nehme.

Hiergegen richtet sich die mit Beschluss vom 30. September 1999 zugelassene Berufung.

Die Kläger machen geltend, dass der Vorbescheid vom 10. Mai 1994 sie nicht binde, weil er durch die Baugenehmigung inhaltlich überholt worden und dadurch erledigt sei, zumal die zwischenzeitliche Grundstücksteilung zu veränderten planungsrechtlichen Anforderungen geführt habe.

Für die Überschreitung der Bebauungstiefe habe keine Ausnahme erteilt werden dürfen. Eine eventuelle Wohnungsknappheit in Berlin könne nicht als Argument für die Bebauung des Blockinnenbereichs herhalten, zumal durch deren Vorbildwirkung eine zusammenhängende Grünzone als Ruhebereich zerstört werde. Der Neubau führe zudem zu einer erheblichen Wohnwertverschlechterung, denn der Ausblick vom Quergebäude werde eingeengt und beeinträchtigt.

Den Klägern sei es nicht verwehrt, Nachbarschutz für sich in Anspruch zu nehmen, denn die Abstandflächen des Gebäudes würden lediglich unbebaute Flächen des Grundstücks der Beigeladenen überdecken, während die Abstandflächen des Neubaus auf bebaute Flächen ihres Grundstücks fielen. Dies sei ein qualitativer Unterschied, der eine Berufung auf nachbarliche Abwehrrechte trotz gegenseitiger Flächeninanspruchnahmen nicht ausschließe.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. April 1999 zu ändern und die Baugenehmigung und Befreiung des Bezirksamts Neukölln von Berlin vom 1. November 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. April 1996 aufzuheben.

Der Beklagte und die Beigeladenen beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Vorbescheid habe sich mit der Erteilung der Baugenehmigung nicht erledigt. Die Kläger hätten diesen anfechten müssen, um dessen Bindungswirkung abzuwenden. Das Gebot der Rücksichtnahme sei aufgrund der versetzten Bauweise des Neubaus im Verhältnis zum Wohngebäude der Kläger nicht verletzt. Die Abstandflächenüberdeckungen durch das Gebäude der Kläger überträfen die durch den Neubau der Beigeladenen um ein Vielfaches. Hierbei sei es unerheblich, dass deren Abstandflächen "nur" auf unbebaute Teile des Grundstücks der Beigeladenen fielen, so dass eine Berufung auf nachbarliche Abwehrrechte ausgeschlossen sei.

Der Senat hat die Örtlichkeiten in Augenschein genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf das Terminsprotokoll sowie auf die Akten des Gerichts und die zugehörigen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg. Den Klägern stehen keine nachbarlichen Abwehrrechte gegen die angefochtene Baugenehmigung und Befreiung des Bezirksamts von Berlin vom 1. November 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. April 1996 zu.

Es spricht manches dafür, dass den geltend gemachten nachbarlichen Abwehrrechten schon die Bestandskraft des Vorbescheids vom 10. Mai 1994 entgegensteht, dessen Gegenstand die von den Klägern beanstandeten Abweichungen des Neubaus von dem Bauplanungs- und Bauordnungsrecht waren. Zur Abwendung der Bindungswirkungen des Vorbescheids erscheint es dem Senat nicht ausreichend, nur gegen die Baugenehmigung und die Befreiung Anfechtungsklage zu erheben, ohne zugleich auch den Vorbescheid anzufechten (vgl. auch OVG Nds., Beschluss vom 30. März 2002, BauR 1999, S. 1163, 1164). Der Vorbescheid (§ 59 BauO Bln) ist ein feststellender Verwaltungsakt mit befristeter Dauerwirkung. Als vorweggenommener Teil der Baugenehmigung entfaltet er während seiner Geltungsdauer Bindungswirkung für die Entscheidung über einen nachfolgend für ein im Wesentlichen identisches Bauvorhaben gestellten Bauantrag, auch wenn sich die Sach- oder Rechtslage zwischenzeitlich geändert haben sollte (vgl. Urteil des Senats vom 16. Juli 1990, OVGE 18, 265, 267, 274 Wilke/Dageförde/Knuth/Meyer, BauO Bln, 5. Aufl. 1999, § 59 Rdnr. 11, 12 m.w.N.). Er dient verfahrensökonomischen Zwecken, indem durch ihn eine vorgezogene verbindliche Klärung der grundsätzlichen Genehmigungsfähigkeit eines Bauvorhabens oder zumindest wichtiger Teilaspekte der Planung erfolgen soll, die nachfolgend Bestand beansprucht. Infolgedessen muss die Behörde - solange der Vorbescheid wirksam, nicht zurückgenommen, widerrufen oder der Bauantrag nicht erst nach Ablauf der Geltungsdauer gestellt worden ist - die im Vorbescheid getroffenen bindenden Feststellungen in die Baugenehmigung übernehmen und zu deren Bestandteil machen, ohne hierüber erneut zu entscheiden, denn über das Bauvorhaben ist im Umfang der darin getroffenen Feststellungen bereits abschließend entschieden worden (vgl. Urteil des Senats vom 26. August 1998, NVwZ-RR 1999, S. 231; OVG NW, Beschluss vom 9. Dezember 1996, NVwZ 1997, S. 1006, 1007 m.w.N.). Diese Wirkungen entfaltet der Vorbescheid im Verhältnis Bauherr / Baubehörde selbst dann, wenn er aufgrund eines Nachbarwiderspruchs bei der Erteilung der Baugenehmigung noch nicht bestandskräftig geworden sein sollte, weil dadurch seine Wirksamkeit nicht berührt wird (vgl. OVG NW, a.a.O., S. 1007). Darüber hinaus erledigt sich ein Vorbescheid nicht mit dem Erlass der Baugenehmigung und wird mit ihr nicht gegenstandslos (so die ausdrückliche Klarstellung BVerwG, Urteil vom 9. Februar 1995, NVwZ 1995, S. 894, 895 zu BVerwG, Urteil vom 17. März 1989, BRS 49 Nr. 168), sondern führt eine weiterbestehende eigene Existenz, so dass er während seiner Geltungsdauer auch noch Grundlage für einen nachfolgenden, veränderten Baugenehmigungsantrag sein könnte (vgl. Wilke/Dageförde/Knuth/Meyer, a.a.O., Rdnr. 18). Die vom Drittwiderspruch unbeeinflusste Wirkung im Verhältnis Bauherr/ Behörde und die fortdauernde Eignung des Vorbescheids als Grundlage für weitere Baugenehmigungsanträge legt es nach Auffassung des Senats nahe, auf das Erfordernis einer zusätzlichen Anfechtung des Vorbescheids deshalb zu verzichten, weil die Zulässigkeit des Vorhabens Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle in dem Anfechtungsprozess des Nachbarn gegen die Baugenehmigung und Befreiung ist. Vom Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 17. März 1989, BRS 49 Nr. 168) wird dies bei einer solchen Konstellation allerdings als ausreichend angesehen und der Baugenehmigung der Charakter eines Zweitbescheids zugemessen, soweit Inhaltsgleichheit mit den Regelungen des Vorbescheids besteht. Das rechtliche "Schicksal" des Vorbescheids ist nach dieser Rechtsprechung für die Rechtsstellung des Nachbarn ohne Bedeutung und Drittrechtsschutz allein über die Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung und die Befreiung zu erlangen.

Die in der Rechtsprechung (vgl. weitere Nachweise hierzu bei Wilke/ Dageförde/Knuth/Meyer, a.a.O., § 59 Rdnrn. 13-15 m.w.N.) umstrittene Frage des bei noch nicht bestandskräftigem Vorbescheid "richtigen" Drittrechtsschutzes (Anfechtung nur der Baugenehmigung oder auch des Vorbescheids) bedarf hier jedoch letztlich keiner Entscheidung, weil sich die Kläger auch dann im Ergebnis nicht auf nachbarliche Abwehrrechte berufen können, wenn ihnen - auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - nicht schon die Bindungswirkung des Vorbescheids vom 10. Mai 1994 entgegengehalten werden könnte.

Die Genehmigung der Vollgeschossüberschreitung von fünf auf sechs war nach der Teilung des Grundstücks gemäß § 7 Nr. 14 BO 58 zulässig, weil das Gebäude nunmehr die vorgeschriebene Geschossflächenzahl von 1,5 einhielt. Für die mit der Baugenehmigung als erteilt geltende (§ 62 Abs. 1 Satz 2 BauO Bln) Ausnahme von dem gemäß § 8 Nr. 1 a BO 58 für allgemeine Wohngebiete mit geschlossener Bauweise geltenden Bebauungstiefenmaß von 13 m im Umfang des Siebenfachen sind von dem Beklagten jedoch keine städtebaulichen Gründe im Sinne des § 8 Nr. 2 BO 58 angeführt worden.

Das Argument des Wohnungsmangels in Berlin vermag eine solche Überschreitung der Bebauungstiefe nicht zu rechtfertigen. Hierbei handelt es sich um einen Allgemeinbelang, der weder auf grundstücksbezogenen noch auf blockbezogenen städtebaulichen Besonderheiten beruht und in einer beliebigen Vielzahl von Fällen Anwendung finden könnte. Durch die Altbebauung, die seinerzeit bis weit außerhalb des Bebauungstiefenmaßes errichtet worden ist, ist das Prinzip der Freihaltung des Blockinnenbereichs (vgl. hierzu: v. Feldmann/Knuth, Berliner PlanungsR, 1998, Rdnr. 2002) nicht in zurechenbarer Weise aufgegeben worden, da dies noch weit vor Inkrafttreten des Baunutzungsplans von 1958/60 geschah. Mit der Fortführung einer planwidrigen Bebauung bestünde aber die Gefahr, dass sich eine weitere bauliche Entwicklung abweichend von den bauplanungsrechtlichen Festsetzungen vollzieht, die zur Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans von 1958/60 und damit der für den Baublock geltenden Regelungen über die Bebauungstiefe führen könnte (vgl. hierzu Normenkontrollurteil des Senats vom 6. September 2002 - OVG 2 A 13.99 - UA S. 13 m.w.N.; s.a. Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand: August 2002, § 23 BauNVO Rdnr. 39). Die Zulassung einer weiteren Bebauung im Blockinnenbereich hätte deshalb nur durch eine städtebauliche Ausnahmesituation gerechtfertigt sein können, die im vorliegenden Fall allenfalls durch die stadtbildliche Abrundung des Zwickels zwischen den im spitzen Winkel zueinander stehenden, fensterlosen Brandwandreihen gegeben sein könnte, dessen städtebaulicher Wert für die ansonsten noch verbliebene Grünzone im Blockinnenbereich aufgrund dieser ungünstigen Lage eher gering einzustufen sein dürfte.

Die Frage braucht jedoch nicht abschließend vom Senat entschieden zu werden, weil selbst eine städtebaulich nicht zu rechtfertigende Überschreitung der Bebauungstiefe als solche noch nicht zu einer Nachbarrechtsverletzung der Kläger führt. Im Gegensatz zu den Vorschriften über die Art der baulichen Nutzung, deren Nichteinhaltung durch eine gebietsfremde Nutzung den Anspruch des Nachbarn auf Aufrechterhaltung der typischen Baugebietsprägung verletzt, ohne dass es noch des zusätzlichen Nachweises eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 BauNVO in Form einer real spürbaren Beeinträchtigung im Einzelfall bedarf (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Mai 2002, BauR 2002, S. 1499 im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 16. September 1993, BVerwGE 94, 151, 161), sind die Vorschriften über die überbaubare Grundstücksfläche - ebenso wie die Vorschriften über das Maß der baulichen Nutzung - nicht nachbarschützend. Hier bedarf es für die Annahme einer Verletzung von Nachbarrechten zusätzlich der Feststellung einer spürbaren Beeinträchtigung im Einzelfall, d.h. des Verstoßes gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme, wie es in § 15 Abs. 1 BauNVO zum Ausdruck kommt, und im Wege einer Abwägung der nachbarlichen Interessen vor unzumutbaren Beeinträchtigungen schützt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Juni 1995, ZfBR 95, S. 329 = BRS 57 Nr. 209; Beschluss vom 19. Oktober 1995, BRS 57 Nr. 219 sowie für das übergeleitete Planungsrecht - § 7 Nr. 5 BO 58/§ 15 Abs. 1 BauNVO 68 - im Falle der Überschreitung der Bebauungstiefe vgl. Urteil des Senats vom 18. Mai 1984, OVGE 17 Nr. 16).

Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil des Senats vom 18. Mai 1984, OVGE 17 Nr. 16) kommt eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots im Zusammenhang mit einer Überschreitung der Bebauungstiefe in Betracht, wenn durch das hinzutretende Gebäude die Aussicht blockiert, der Licht- und Sonneneinfall verkürzt und eine Art Hinterhofsituation entstanden ist. Das Wohngebäude auf dem Grundstück liegt jedoch nördlich versetzt zu dem Quergebäude, so dass jedenfalls durch dieses Gebäude und seine Lage keine unzumutbaren Beeinträchtigungen hinsichtlich der Belichtung, Belüftung und Besonnung entstanden sind (vgl. auch Beschluss des Senats vom 26. Mai 1992, GE 1992, S. 1279). Zwar spricht eine Nichteinhaltung der Abstandflächenvorschriften in der Regel für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots, weil die Abstandflächen in Bezug auf diese Belange eine Konkretisierung des Gebots der nachbarlichen Rücksichtnahme darstellen (vgl. Beschluss des Senats vom 29. März 1996, OVGE 22, 24 = BRS 58 Nr. 169 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ist das Grundstück der Kläger davon jedoch nur in geringem Umfang tangiert. Soweit es zu Einschränkungen bei der Besonnung und Belichtung des Quergebäudes kommt, liegt das in erster Linie an dem vorkragenden Seitenflügel des benachbarten Grundstücks Friedelstraße 27, der mit seiner rückwärtigen Brandwand in südöstlicher Richtung eine Art Riegel bildet. Der nördlich versetzt gelegene Neubau der Beigeladenen ist dagegen nicht die eigentliche Ursache hierfür.

Auch unter dem Aspekt der erdrückenden oder einengenden Wirkung (siehe Überblick über die Lit. U. Rspr. hierzu von Schauwienold/Jaeger, BauR 2001, S. 889) ist keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots feststellbar. Zwar stellt der Neubau eine gewisse Parallele zu dem Seitenflügel dar und verstärkt dessen einengende Wirkung, indem nunmehr eine Art "Scheuklappensituation" für den Blick aus dem Quergebäude der Kläger entstanden ist. Der Seitenflügel stellt jedoch in Verbindung mit dem zuvor vorhandenen Brandwandzwickel, der bereits das Gefühl des Abgeriegelt- und Eingemauertseins vermittelt haben dürfte, eine erhebliche Vorbelastung dar. Bei einer konkret situativen Abwägung der vor und nach dem Neubau entstandenen Wohnverhältnisse kann deshalb eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die Genehmigung des Neubaus außerhalb der zulässigen Bebauungstiefe nicht angenommen werden. Wegen der Nichteinhaltung der Abstandflächenvorschriften können sich die Kläger ebenfalls nicht mit Erfolg auf nachbarliche Abwehrrechte berufen. Auch wenn die Regelung des § 6 Abs. 5 und 6 BauO Bln über die Tiefe der einzuhaltenden Abstandflächen in vollem Umfang nachbarschützend sind (vgl. Urteil des Senats vom 22. Mai 1992, OVGE 20, 238, 249, 250 = BRS 54 Nr. 97; Beschluss vom 6. September 1994, OVGE 21,98 = BRS 56 Nr. 173) und dem Nachbarn grundsätzlich bei jedem Verstoß hiergegen ein Abwehrrecht zusteht, unabhängig davon, ob durch die Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandflächen auch eine tatsächliche Beeinträchtigung bewirkt wird (vgl. Urteil des Senats vom 22. Mai 1992, a.a.O. S. 250, 252), gilt dies jedoch nicht, wenn die Berufung auf Nachbarrechte wegen eines sich aus dem Nachbarverhältnis ergebenden Verstoßes des Rechtsschutzbegehrens gegen Treu und Glauben rechtsmissbräuchlich wäre (vgl. Urteil des Senats vom 22. Mai 1992, a.a.O., S. 253). Dies ist der Fall, wenn der rechtsschutzsuchende Nachbar die erforderliche Tiefe der Abstandfläche seinerseits nicht einhält. Denn aus dem System nachbarlicher Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten folgt, dass derjenige, der mit der Bebauung seines Grundstücks Abstandflächen in einem Maß in Anspruch nimmt, das den bauordnungsrechtlichen Bestimmungen über die einzuhaltenden Abstände widerspricht, nicht beanspruchen kann, dass der benachbarte Grundstückseigentümer diese Vorschriften einhält und damit im größeren Umfang die erforderlichen Abstände wahrt. Hierbei ist es unerheblich, ob das betreffende Gebäude seinerzeit in Übereinstimmung mit den geltenden Bauvorschriften errichtet worden ist oder Bestandsschutz genießt (vgl. Urteil des Senats vom 6. September 1994 - OVGE 21, 98 = BRS 56 Nr. 173).

Allerdings muss die wechselseitige Verletzung der Abstandsflächenvorschriften annähernd vergleichbar sein. Hierbei ist keine zentimetergenaue quantitative Entsprechung gefordert, sondern eine wertende Betrachtung in Bezug auf die Qualität der mit der Verletzung der Abstandflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigungen anzustellen (Himmelsrichtung, Besonnung, Emissionen, vgl. OVG Nds., Beschluss vom 30. März 1999, BauR 1999, S. 1163, 1166; OVG NW, Urteil vom 24. April 2001, BRS 64 Nr. 188 = BauR 2002, S. 295).

Im vorliegenden Fall sind die auf das Grundstück der Beigeladenen fallenden Abstandflächen durch das Quergebäude der Kläger mit insgesamt 146 m2 nicht nur quantitativ höher (7fach) als im umgekehrten Falle die Abstandflächenüberdeckungen durch den Neubau der Beigeladenen (21 m2), sondern haben auch qualitativ ein höheres Gewicht. Denn dadurch wird den Freiflächen auf dem Grundstück der Beigeladenen aufgrund der südwestlichen Lage des Quergebäudes teilweise die Besonnung genommen. Dies ist aufgrund der nördlichen Lage des Gebäudes der Beigeladenen im umgekehrten Fall nicht so. Soweit der bebaute Teil des Grundstücks der Kläger von einer Überdeckung durch die Abstandflächen des Neubaus der Beigeladenen tangiert ist (nördliche Ecke von knapp 9 m2), ist dieser Bereich Teil eines fensterlosen Brandwandüberstands und deshalb bei qualitativer Wertung eher gering betroffen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 2 VwGO.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO vorgesehenen Gründe vorliegt.

Ende der Entscheidung

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