Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 16.08.2005
Aktenzeichen: OVG 3 N 156.03
Rechtsgebiete: AuslG, VwGO


Vorschriften:

AuslG §§ 45 ff.
AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 1
AuslG § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AuslG § 48 Abs. 1 Satz 2
VwGO § 124 a Abs. 4 Satz 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 3 N 156.03

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 3. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg durch die Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Fitzner-Steinmann sowie die Richter am Oberverwaltungsgericht Burchards und Dr. Peters am 16. August 2005 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. Juni 2003 zuzulassen, wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens.

Der Wert des Antragsgegenstandes wird auf 4 000 € festgesetzt.

Gründe:

Der Antrag bleibt ohne Erfolg. Dabei lässt der Senat offen, ob der Antrag überhaupt (noch) zulässig ist, nachdem der Kläger ausweislich der Ausländerakte seit dem 22. November 2004 unbekannt verzogen ist. Dem ist nicht näher nachzugehen, da der Antrag aus anderen Gründen zurückzuweisen ist.

1. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Der Kläger zeigt keine gewichtigen Anhaltspunkte auf, die gegen die Richtigkeit des Urteils sprechen.

a) Der Kläger hält die Auffassung des Verwaltungsgerichts für unzutreffend, er genieße wegen einer zwischenzeitlichen Ausreise und der dann erst nach Eintritt der Volljährigkeit erfolgten Wiedereinreise nicht den besonderen Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG. Der Wortlaut der Regelung sei eindeutig und spreche für eine Anwendung zu seinen Gunsten. Auch nach Sinn und Zweck der Vorschrift sei maßgeblich, dass er erstmalig als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist und somit jedenfalls zum Teil hier noch als Minderjähriger sozialisiert worden sei, so dass er deswegen den besonderen Ausweisungsschutz genieße.

Daraus ergeben sich ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht. Der Kläger ist erstmals als Asylbewerber im Dezember 1985 und damit als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist; dabei geht der Senat zu Gunsten des Klägers entgegen der hierzu vom Beklagten nachvollziehbar geäußerten Bedenken von dem in der erstinstanzlich vorgelegten Geburtsurkunde ausgewiesenen Geburtsdatum - 4. März 1968 - aus. Der Kläger ist am 19. April 1986 ausgereist. Danach hielt er sich erneut als Asylbewerber in der Zeit vom 27. Juli 1986 bis zum 28. November 1986 im Bundesgebiet auf. Erst an die am 14. Oktober 1988 erfolgte neuerliche Einreise hat sich ein Daueraufenthalt des Klägers angeschlossen, in dessen Verlauf ihm die unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist. Bei dieser letzten Einreise war der Kläger bereits volljährig (§ 2 BGB, § 68 Abs. 3 Satz 1 AuslG).

Damit kommt ihm der besondere Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG nicht zugute. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer, der eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist, nur aus schwer wiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Mit dieser Regelung verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die Ausländer der zweiten und folgenden Generationen den Aufenthaltsberechtigten gleichzustellen, sobald ihr Aufenthalt verfestigt ist (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drs. 11/6321, S. 73). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Einreise im Wege des Familiennachzuges erfolgt ist (BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2002, NVwZ 2002, 1512, 1513). Der im Bundesgebiet geborene oder als Minderjähriger eingereiste Ausländer soll vielmehr unabhängig vom Einreisezweck auf Grund seiner verfestigten Position und der in höherem Maße bestehenden tatsächlichen Integration in die deutschen Lebensverhältnisse gegenüber einer Ausweisung besonders geschützt werden (BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2002, a.a.O.); dies zeigt auch die nach den zitierten Gesetzesmaterialien beabsichtigte Gleichstellung mit den aufenthaltsberechtigten Ausländern. Dahinter steht die Überlegung, dass der im Bundesgebiet geborene oder als Minderjähriger eingereiste Ausländer dem Staat seiner Staatsangehörigkeit in besonderem Maße entfremdet ist und eine Ausweisung ihn daher härter trifft als diejenigen Ausländer, die in ihrem Herkunftsstaat aufgewachsen sind. Dieser Schutzgedanke wird ersichtlich in denjenigen Fällen verfehlt, in denen ein im Bundesgebiet geborener oder als Minderjähriger eingereister Ausländer das Bundesgebiet nach kurzem Aufenthalt, also ohne dass eine nennenswerte Integration stattgefunden hat, verlässt und erst als Volljähriger wieder einreist. Grundsätzlich erforderlich ist daher für § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG eine Kontinuität des Aufenthalts des Ausländers seit seiner Geburt im Bundesgebiet oder seit seiner letzten Einreise als Minderjähriger (so auch VGH Mannheim, Urteil vom 12. Mai 2000, EZAR 035 Nr. 28; Beschluss vom 23. Juni 2004 - 11 S 1370.04 -, juris; Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, 1991, S. 257; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand September 2001, Rz. 7 zu § 48 AuslG; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, 7. Teil, Rz. 295; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 11. Juni 1996, NVwZ 1997, 298; a.A.: Vormeier in: GK-AuslR, Stand: September 2004, Rz. 17 zu § 48 AuslG; Wegner in: Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, Stand: Dezember 2004, Rzn 13 f. zu § 48 AuslG). Ob dies auch dann gilt, wenn eine Aufenthaltsverfestigung infolge von Voraufenthalten als Minderjähriger eingetreten ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 11. Juni 1996, a.a.O.), bedarf aus Anlass des vorliegenden Verfahrens keiner Entscheidung; für eine solche Aufenthaltsverfestigung durch die jeweils nur kurzfristige Anwesenheit des Klägers im Bundesgebiet in den Jahren 1985/1986 ist nichts ersichtlich und substanziiert auch nichts vorgebracht.

Die hier vorgenommene, an Sinn und Zweck orientierte Auslegung des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG ist nicht etwa deswegen unzulässig, wie der Kläger unter Hinweis auf Vormeier (a.a.O.) meint, weil sie gegen den Wortlaut der Vorschrift verstieße. Dem Kläger ist zwar einzuräumen, dass eine Gesetzesauslegung am klaren Wortlaut der in Betracht stehenden Norm ihre Grenze findet (BVerfG, NJW 1994, 2475). Der Wortlaut des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG ist jedoch nicht in einer seine Auslegungsfähigkeit hindernden Weise eindeutig (so i.E. auch VGH Mannheim, Urteil vom 12. Mai 2000, a.a.O.). Die hierfür erforderliche Eindeutigkeit des Wortlautes wäre etwa bei der Formulierung "bereits einmal als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist war" bzw. "sich bereits einmal als Minderjähriger im Bundesgebiet aufgehalten hat" oder vergleichbaren Wendungen gegeben, die der Gesetzgeber gerade nicht gewählt hat.

b) Der in diesem Zusammenhang von dem Kläger weiter geltend gemachte Zulassungsgrund der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegt ebenfalls nicht vor. Das Vorbringen des Klägers zu diesem Zulassungsgrund rechtfertigt, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, nicht die Annahme, die Erfolgsaussichten der Berufung seien wegen der aufgezeigten besonderen Schwierigkeiten offen (vgl. dazu OVG Berlin, Beschluss vom 13. Juli 2004 - OVG 8 N 150.03 -, juris; OVG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 8. Mai 2002, LKV 2003, 91).

2. Das Verwaltungsgericht hat weiter ausgeführt, auch bei Zubilligung besonderen Ausweisungsschutzes wäre die dann nur zulässige Regelausweisung mangels eines Ausnahmefalles nicht rechtswidrig. Die hiergegen vom Kläger geltend gemachten Richtigkeitszweifel führen nicht zur Zulassung der Berufung. Wenn das Verwaltungsgericht seine Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt hat, ist die Zulassung der Berufung nur gerechtfertigt, wenn für jeden der tragenden Gesichtspunkte ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt. Denn anderenfalls könnte der gerügte Begründungsteil hinweggedacht werden, ohne dass der Bestand der Entscheidung dadurch beeinflusst wäre, weil sie von dem nicht oder erfolglos angegegriffenen Begründungsteil getragen wird (Beschluss des Senats vom 3. August 2005 - OVG 3 N 80.04 -).

So liegt es auch hier. Bei den vom Kläger beanstandeten Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Rechtmäßigkeit einer Regelausweisung handelt es sich um Hilfserwägungen, auf die allein das Urteil nicht gestützt ist. Es beruht vielmehr primär und selbstständig tragend auf der Annahme, dem Kläger stehe besonderer Ausweisungsschutz im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG gegen die auf § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG gestützte Ist-Ausweisung nicht zu. Gegen diesen Begründungsteil hat der Kläger, wie oben unter 1. dargelegt, einen durchgreifenden Berufungszulassungsgrund nicht vorgebracht. Damit können die Hilfserwägungen hinweggedacht werden, ohne dass das Urteil zugleich seine Grundlage verlöre.

3. Die Zulassung der Berufung ist auch nicht im Hinblick auf die geltend gemachten Richtigkeitszweifel gegenüber der Feststellung des Verwaltungsgerichts gerechtfertigt, die Ausweisung des Klägers scheitere nicht an Art. 8 EMRK. Der Kläger macht in diesem Zusammenhang geltend, in der - unzutreffenden - Auslegung des Verwaltungsgerichts begründe der Umstand, dass er mit einer Libanesin verheiratet sei und dass aus der Ehe drei Kinder hervorgegangen seien, keinen Ausnahmefall, in dem von der Ausweisung abzusehen wäre. Seine familiäre Lebensgemeinschaft - er übe das Sorgerecht für tatsächlich vier Kinder gemeinsam mit der Mutter aus - stehe unter dem Schutz des Art. 8 EMRK und des Art. 6 GG. Wenn diese familiäre Lebensgemeinschaft nach Auffassung des Verwaltungsgerichts bei der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall vorliege, keine Rolle spiele, sei den Vorgaben des Art. 6 GG und Art. 8 EMRK dadurch Rechnung zu tragen, dass diese Normen unabhängig von §§ 45 ff. AuslG einen eigenständigen Ausweisungschutz, mithin die Rechtswidrigkeit der Ausweisung, begründeten.

Mit diesen Ausführungen knüpft der Kläger allein an die Hilfserwägungen des Verwaltungsgerichts zur Rechtmäßigkeit einer etwaigen Regelausweisung an, so dass er hiermit bereits aus den oben unter 2. genannten Gründen ohne Erfolg bleiben muss. Aber auch unabhängig davon könnte sein Vorbringen nicht zur Zulassung der Berufung führen.

Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für Eingriffe in die in Art. 8 Abs. 1 EMRK aufgeführten Rechte sei gewahrt; nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts enthalte das Ausländergesetz mit der Unterscheidung von Ist-, Regel- und Kann-Ausweisung ein differenziertes Regelwerk von Ausweisungs- und Schutzgründen sowie sonstigen Kautelen, Vorbehalten und Einschränkungen, das dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung trage. Hiermit setzt sich der Zulassungsantrag nicht auseinander.

Der Kläger hat im Übrigen auch nicht in der nach § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO gebotenen Weise dargelegt, dass die Ausweisung im Lichte des Art. 8 EMRK rechtswidrig oder ihm aus der genannten Vorschrift ein neben den diesbezüglichen Regelungen des Ausländergesetzes eigenständiger Ausweisungsschutz zuzubilligen wäre. Sein Hinweis darauf, dass er die elterliche Sorge für seine vier Kinder innehabe und gemeinsam mit der Mutter ausübe, genügt dafür nicht. Eine Ausweisung ist nicht schlechthin unzulässig, wenn der von ihr Betroffene mit einem im Bundesgebiet lebenden Partner verheiratet ist oder wenn er das Sorgerecht für im Bundesgebiet lebende Kinder ausübt. Der mit einer Ausweisung einhergehende Eingriff in das unter dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK stehende Privat- und Familienleben ist vielmehr zulässig, wenn die Maßnahme im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig ist. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK die Natur und Schwere der in Rede stehenden Straftat, die Dauer des Aufenthaltes des Ausländers im ausweisenden Staat, der Zeitraum, der zwischen der Begehung der Straftat und der aufenthaltsbeendenden Maßnahme vergangen ist, sowie das Verhalten des Ausländers während dieser Zeit und darüber hinaus die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die Familiensituation des Ausländers wie auch die Schwierigkeiten, welche - ggf. - für seinen Ehepartner und die Kinder im Heimatstaat zu erwarten sind, in Betracht zu ziehen (Urteil vom 2. August 2001 - Boultif ./. Schweiz -, InfAuslR 2001, 476, 478; Urteil vom 10. Juli 2003 - Benhebba ./. Frankreich -, InfAuslR 2004, 182; Urteil vom 15. Juli 2003 - Mokrani ./. Frankreich -, InfAuslR 2004, 183). Die familiäre Situation des Ausländers ist damit nur ein unter mehreren in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellendes Kriterium. Ihr kommt nicht von vornherein das ausschlaggebende Gewicht zu. Dass in seiner familiären Situation Besonderheiten gegeben wären, die insoweit eine andere Einschätzung rechtfertigen könnten, legt der Kläger nicht dar. Dies gilt auch für den von ihm herangezogenen Art. 6 GG, dessen Schutzauswirkungen im Übrigen in das System der Ausweisungsvorschriften eingearbeitet sind und der schon aus diesem Grunde einer Ist-Ausweisung nicht entgegensteht.

4. Soweit der Kläger schließlich den Zulassungsgrund der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten auch hinsichtlich der Fragen in Anspruch nimmt, ob das Verwaltungsgericht zu Lasten des Ausländers auch dann durchentscheiden könne, wenn die Behörde sich mit der Frage, ob "ein Regelfall des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG gegeben" sei, nicht befasst habe, und ob vorliegend ein Regelfall wegen des langjährigen Aufenthalts, der familiären Bindungen und seiner Straffreiheit im Übrigen gegeben sei, bezieht sich dies auf die Hilfserwägungen des Verwaltungsgerichts und rechtfertigt die Zulassung der Berufung aus den oben unter 2. genannten Gründen nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über den Wert des Antragsgegenstandes beruht auf § 72 Nr. 1 GKG i.V.m. §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 1 und 3 GKG a.F.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 124 a Abs. 5 Satz 4, 152 Abs. 1 VwGO, § 72 Nr. 1 GKG i.V.m. § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG a.F.).

Ende der Entscheidung

Zurück