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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 25.11.2003
Aktenzeichen: OVG 6 N 55.03
Rechtsgebiete: BSHG, VwGO, SchwbG, SGB IX


Vorschriften:

BSHG § 5
BSHG § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
VwGO § 94
VwGO § 124 Abs. 2
VwGO § 124 a Abs. 4 Satz 1
VwGO § 124 a Abs. 4 Satz 4
VwGO § 124 a Abs. 5
SchwbG § 4 Abs. 5
SGB IX § 69 Abs. 5
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 6 N 55.03

Beschluss

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin am 25. November 2003 beschlossen:

Tenor:

Die Anträge des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 31. März 2003 zuzulassen sowie ihm Prozesskostenhilfe in Form der Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten für das Verfahren zweiter Instanz zu bewilligen, werden abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe:

Das Versorgungsamt Berlin hat den 1964 geborenen Kläger durch Bescheid vom 2. November 1996 als schwer behindert mit dem Grad der Behinderung von 70 anerkannt; die Feststellung des Merkzeichens G hat das Versorgungsamt abgelehnt. Um diese Feststellung streitet der Kläger in einem sozialgerichtlichen Verfahren.

Mit Bescheid vom 27. Mai 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 1998 lehnte der Beklagte die im Mai 1998 vom Kläger beantragte Bewilligung eines Mehrbedarfs im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG ab. Die darauf gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht Berlin mit Urteil vom 31. März 2003 abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt: Es könne dahinstehen, ob der Kläger - wie § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG fordere - erwerbsunfähig sei; jedenfalls besitze er nicht den nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG ebenfalls erforderlichen Behindertenausweis mit dem Merkzeichen G. Auch wenn dieses Merkzeichen aufgrund des sozialgerichtlichen Verfahrens rückwirkend zuerkannt werden sollte, so würde das sozialhilferechtlich für die Vergangenheit keine Auswirkungen haben. Hätte der Gesetzgeber etwas anderes gewollt, so würde er - in Kenntnis der Praxis der Versorgungsämter - nicht auf den Besitz des Ausweises, sondern auf die - rückwirkende - Zuerkennung des Merkmals abgestellt haben.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit dem Antrag, die Berufung zuzulassen. Zugleich beantragt er Prozesskostenhilfe für das Verfahren zweiter Instanz.

Der Antrag nach § 124 a Abs. 4 Satz 1 VwGO kann keinen Erfolg haben, weil der Kläger innerhalb der Frist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO keine Gründe im Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO dargetan hat, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen. Die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung bestehen nicht.

Der Kläger räumt ein, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand ein Anspruch auf den beantragten Mehrbedarf nicht festgestellt werden kann, weil er nicht über einen Schwerbehindertenausweis mit Anerkennung des Merkzeichens G im Sinne von § 4 Abs. 5 SchwbG - nunmehr § 69 Abs. 5 SGB IX - verfügte und verfügt. Er meint lediglich, das Verwaltungsgericht hätte noch nicht entscheiden dürfen, denn das auf Anerkennung dieses Merkmals gerichtete Verfahren vor dem Landessozialgericht - L 11 SB 5/03 - sei vorgreiflich, weil dort eine rückwirkende Anerkennung des Merkmals für die Zeit ab Antragstellung bei dem Versorgungsamt in Betracht komme. Er führt aus, das Verwaltungsgericht hätte deshalb das Verfahren VG 17 A 550.98 nach § 94 VwGO bis zum Abschluss des vorgreiflichen sozialgerichtlichen Verfahrens aussetzen müssen.

Das überzeugt nicht. Das Verwaltungsgericht hat mit Recht erläutert, dass es nach dem Wortlaut des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG seit der Fassung durch das Sozialhilfereformgesetz vom 23. Juli 1996 - BGBl. I S. 1088 - für den Mehrbedarf darauf ankommt, dass der Hilfesuchende einen Ausweis mit dem Merkzeichen G besitzt. Daran fehlt es hier unstreitig. Es genügt nicht, dass ein Hilfesuchender einen solchen Ausweis beantragt hat und dass eine rückwirkende Bewilligung in Betracht kommt. Die sozialhilferechtliche Unbeachtlichkeit einer nachträglichen Bewilligung des Merkzeichens G für einen bereits abgeschlossenen Zeitraum lässt sich zwar den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen; die entsprechende Regelung ist erst auf Vorschlag des Vermittlungsausschusses und damit ohne Begründung in das Änderungsgesetz aufgenommen worden (BTDrs. 13/4687, S. 2). Die Auslegung ergibt sich jedoch aus dem eindeutigen Wortlaut der Bestimmung. Dieser stellt nicht darauf ab, ob die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens G vorliegen und geltend gemacht worden sind. Wäre das Gesetz entsprechend formuliert worden, so müsste, wenn sich die Voraussetzungen des Merkzeichens trotz rechtzeitiger Geltendmachung und Darlegung erst nach Ablauf eines Bewilligungszeitraums für Hilfe zum Lebensunterhalt abschließend klären lassen, das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkmals G auch noch im Nachhinein berücksichtigt werden. Der Wortlaut der Bestimmung stellt jedoch eindeutig auf den Besitz eines Ausweises mit dem Merkzeichen G, also auf das Innehaben im Bewilligungszeitraum ab (vgl. auch die bereits vom Verwaltungsgericht zitierte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 16. Juli 2001, FEVS 53, 445 = br 2003, 90 sowie Schellhorn, Kommentar zum BSHG, 16. Aufl. § 23 Rdnr. 13 und Fichtner, Kommentar zum BSHG, 2. Aufl. § 23 Rdnr. 9; anderer Ansicht: Hofmann in LPK-BSHG § 23 Rdnr. 8 und 9 unter Hinweis auf bayerische Richtlinien).

Diese Auslegung verletzt - anders als der Kläger meint - auch nicht sozialhilferechtliche Grundsätze. Denn Sozialhilfe ist nach Wesen, Sinn und Zweck Hilfe in gegenwärtiger Not. Auf Hilfe für die Vergangenheit besteht nur in besonders begründeten Ausnahmefällen Anspruch (BVerwGE 99, 149, 156 m.w.N.). Der Lebensunterhalt, dessen Bestreitung auch der Mehrbedarfszuschlag dient, bedarf für die Vergangenheit keiner Sicherung mehr. Eine etwa bestehende Notlage aus der Vergangenheit lässt sich nicht durch Leistungen in der Gegenwart beseitigen. Besitzt der Hilfesuchende den Ausweis mit der Anerkennung des Merkzeichens G erst nach Ablauf des Zeitraums, für den Hilfebedürftigkeit nach § 5 BSHG bekannt und Hilfe zu gewähren war, so kann das - auch bei rückwirkender Anerkennung des Merkzeichens - für den vergangenen Zeitraum einen Mehrbedarfszuschlag bei der Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BSHG nicht mehr rechtfertigen.

Aus den vorgenannten Gründen kommt der Frage, ob bei rückwirkender Anerkennung des Merkzeichens G für die Vergangenheit ein Mehrbedarfszuschlag zu gewähren ist, auch keine grundsätzliche Bedeutung zu (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 BSHG).

Da die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht vorliegen, war der Antrag nach § 124 a Abs. 5 VwGO mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO abzulehnen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1, § 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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