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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 18.06.2003
Aktenzeichen: OVG 6 S 35.03
Rechtsgebiete: Gesetz zur Errichtung einer Stiftung


Vorschriften:

Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" § 2 Abs. 1
Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" § 11 Abs. 3
1. Die eklatante Verletzung völkerrechtlicher Regeln über die Behandlung von Kriegsgefangenen hat nicht dazu geführt, dass Soldaten der sowjetischen Roten Armee im Zweiten Weltkrieg nach ihrer Gefangennahme den Kriegsgefangenenstatus verloren haben.

2. Die Einbeziehung der in Konzentrationslager verschleppten Kriegsgefangenen in den Kreis der Leistungsberechtigten nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Stiftungsgesetz hat rechtlich nicht zur Folge, dass auch solchen ehemaligen Kriegsgefangenen eine Leistungsberechtigung zuerkannt werden muss, die in anderen Haftstätten und Lagern gefangen gehalten wurden.


OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN BESCHLUSS

Aktenzeichen: OVG 6 S 35.03

in der Verwaltungsstreitsache

hat der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 18. Juni 2003 durch den Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Kipp, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Silberkuhl, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Korbmacher sowie die ehrenamtliche Richterin Schroeder und den ehrenamtlichen Richter Holzhey

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. Februar 2003 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 3 834,69 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsteller sind armenische Staatsangehörige. Sie sind heute 82 bzw. 79 Jahre alt und waren während des Zweiten Weltkrieges Soldaten der sowjetischen Roten Armee. Die Antragsteller gerieten im August 1941 bzw. Oktober 1943 als Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft, wurden zunächst in Kriegsgefangenenlagern auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion inhaftiert und dann nach Deutschland verbracht, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. Im April und Mai 1945 wurden sie von amerikanischen bzw. britischen Truppen befreit.

Die Antragsteller streben Entschädigungsleistungen nach dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" vom 2. August 2000 (BGBl. I S. 1263) - Stiftungsgesetz - an, dessen Zweck darin besteht, über Partnerorganisationen Finanzmittel zur Gewährung von Leistungen an ehemalige Zwangsarbeiter und von anderem Unrecht aus der Zeit des Nationalsozialismus Betroffene bereitzustellen (§ 2 Abs. 1 Stiftungsgesetz). Mit Schreiben vom 11. Oktober 2002 lehnte die Stiftung für Verständigung und Aussöhnung der Russischen Föderation als für die Antragsteller im Grundsatz zuständige Institution die Anträge der Antragsteller auf Leistungen nach dem Stiftungsgesetz mit der Begründung ab, diese seien in der Zeit ihrer Zwangsarbeit Kriegsgefangene gewesen und deshalb gemäß § 11 Abs. 3 Stiftungsgesetz nicht leistungsberechtigt. Den hiergegen erhobenen Einspruch lehnte der Beschwerdeausschuss der russischen Stiftungsorganisation mit Schreiben vom 22. Oktober 2002 ab.

Daraufhin haben die Antragsteller im November 2002 Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht Berlin gestellt. Die gegen das Bundesministerium der Finanzen als Rechtsaufsichtsbehörde und gegen die Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gerichteten Anträge verfolgen das Ziel, entweder durch rechtsaufsichtliches Einschreiten der Antragsgegnerin zu 1. oder durch Beschlussfassungen der Antragsgegnerin zu 2. eine Entscheidung dahin zu erreichen, dass die Antragsteller in den Kreis der Leistungsberechtigten nach dem Stiftungsgesetz einbezogen werden.

Die Antragsteller haben die Zulässigkeit ihres Vorgehens in Deutschland damit begründet, dass alle maßgeblichen Entscheidungen für die Zuerkennung von Leistungen nach dem Stiftungsgesetz von der Bundesstiftung in Deutschland bzw. von der übergeordneten Rechtsaufsichtsbehörde getroffen würden. In der Sache müsse angesichts der historischen Fakten, die eine fortdauernde Missachtung des Völkerrechts belegten, davon ausgegangen werden, dass der Kriegsgefangenenstatus unmittelbar nach der Gefangennahme durch die Wehrmacht wieder aufgegeben worden sei. Fortan habe nicht ihr Soldatenstatus, sondern der ideologisch bedingte Wille zur Vernichtung im Vordergrund gestanden. Im Übrigen habe die Bundesstiftung selbst im August 2001 beschlossen, diejenigen Kriegsgefangenen, die in Konzentrationslager verbracht worden seien, in den Kreis der Leistungsberechtigten nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Stiftungsgesetz einzubeziehen. Sie aber seien keineswegs besser behandelt worden als Gefangene in Konzentrationslagern. Folglich könnten sie ihre Gleichstellung gegenüber der genannten Gruppe beanspruchen.

Mit Beschluss vom 28. Februar 2003 hat das Verwaltungsgericht die Anträge zurückgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Anträge seien bereits unzulässig. Angesichts der Konstruktion des Stiftungsgesetzes seien Rechtsbeziehungen zwischen den Antragstellern und den Antragsgegnerinnen nicht zu Stande gekommen. Für die Anträge fehle es folglich an der Antragsbefugnis. Rechtliche Verpflichtungen hätten durch das Stiftungsgesetz ausdrücklich nicht begründet werden sollen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Antragsteller, mit der diese ihr einstweiliges Rechtsschutzbegehren weiterverfolgen und vertiefen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Streitakten verwiesen. Diese waren - soweit wesentlich - Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

1. Der Senat geht für seine Entscheidung von der Zulässigkeit der Beschwerde aus. Diese ist allerdings nicht unzweifelhaft, weil die Antragsteller zwar zunächst innerhalb der Beschwerdeeinlegungsfrist Beschwerde erhoben, dann jedoch mit ihrem Beschwerdebegründungsschriftsatz vom 28. März 2003 sinngemäß den Antrag gestellt haben, die Beschwerde gegen den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Beschlusses und wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Danach könnte es im Sinne des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO an einem hinreichend bestimmten Antrag für das Beschwerdeverfahren fehlen. Der Senat lässt die sich daraus ergebenden Bedenken jedoch dahinstehen.

2. Für die Entscheidung über die Beschwerde bleibt gleichfalls offen, ob die Anträge der Antragsteller zulässig sind. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO lässt eine solche Vorgehensweise des Senats zu. Nach dieser Vorschrift prüft das Oberverwaltungsgericht nur die mit der Beschwerde gegen die erstinstanzliche Entscheidung dargelegten Gründe. Da das Verwaltungsgericht seine Auffassung allein auf eine Unzulässigkeit der Anträge gestützt hat, würde dies bei zunächst allein am Wortlaut orientierter Auslegung der Vorschrift zur Folge haben, dass der Senat nur diejenigen Gesichtspunkte aus der Beschwerdebegründung zu untersuchen hätte, die sich auf die Frage der Zulässigkeit der Anträge beziehen. Davon wird jedoch abgesehen. Der Senat könnte nämlich der Beschwerde nur dann stattgeben und die begehrte einstweilige Anordnung erlassen, wenn der vorläufige Rechtsschutzantrag zulässig und in der Sache begründet wäre. Ergibt sich hingegen, dass die einstweilige Anordnung in jedem Fall deswegen nicht erlassen werden kann, weil den Antragstellern in der Sache kein Anspruch zusteht, so kann dahinstehen, ob das Verwaltungsgericht mit seiner Ansicht von der Unzulässigkeit der Anträge Recht hat und ob es den Antragstellern mit der Beschwerde gelungen ist, dagegen durchgreifende Bedenken darzutun. Diesem, den Revisionsvorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung in § 144 Abs. 4 VwGO entlehnten Rechtsgedanken entspricht die Überzeugungsbildung des Senats (vgl. zur Prüfungskompetenz auch OVG Münster, Beschluss vom 18. März 2002 - 7 B 315.02 - [NVwZ 2002, S. 1390]).

3. Der Misserfolg der Beschwerde beruht jedenfalls auf der Unbegründetheit der Anträge. Den Antragstellern steht ein Anordnungsanspruch nicht zur Seite. Sie können nach den Vorschriften des Stiftungsgesetzes ihre Einbeziehung in den Kreis der Leistungsberechtigten nicht beanspruchen.

a) Gemäß § 11 Abs. 3 Stiftungsgesetz begründet Kriegsgefangenschaft keine Leistungsberechtigung. Dass diese parlamentarisch-gesetzliche Festlegung ihrerseits gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in Artikel 3 Abs. 1 GG verstieße, kann der Senat nicht feststellen. Für die Regelung des § 11 Abs. 3 Stiftungsgesetz kann nämlich angeführt werden, dass für die Ungleichbehandlung von zur Zwangsarbeit herangezogenen Kriegsgefangenen und von Zwangsarbeitern mit zivilem Status im Völkerrecht angesiedelte Differenzierungsmerkmale von solchem Gewicht bestehen, die ungleiche Rechtsfolgen rechtfertigen (vgl. zu diesem Maßstab BVerfGE 88, 97). Das Völkerrecht gewährt den Kriegsgefangenen einen im Einzelnen festgelegten Schutzstatus. Es sieht vor, dass Verletzungen der dadurch bestimmten völkerrechtlichen Regeln völkerrechtlich und zwischenstaatlich ausgeglichen werden. Die Antragsgegnerinnen haben im Verfahren darauf hingewiesen, dass ein solcher Ausgleich mit der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten abschließend erreicht worden sei. § 11 Abs. 3 Stiftungsgesetz ist deshalb der Entscheidung als verfassungsgemäßes Recht zugrunde zu legen.

b) Die Antragsteller können sich nicht mit Erfolg darauf berufen, sie hätten den Kriegsgefangenenstatus bereits unmittelbar nach ihrer Gefangennahme oder aber zu einem späteren Zeitpunkt während ihrer Gefangenschaft wieder verloren. Dabei besteht kein Zweifel daran, dass die Behandlung insbesondere der sowjetischen Kriegsgefangenen durch Organisationen und Dienststellen des nationalsozialistischen Deutschen Reichs unter fortdauernden, tiefgreifenden und offensichtlichen Verstößen gegen völkerrechtliche Festlegungen erfolgt ist. Daraus kann und darf indessen nicht geschlossen werden, dass den Antragstellern nach ihrer Gefangennahme infolge der menschenrechtswidrigen Behandlung der Kriegsgefangenenstatus wieder aberkannt worden wäre. So irreparabel katastrophal die Verletzung der völkerrechtlich verbrieften Rechte der Antragsteller waren, konnte sie nicht zur Folge haben, dass diese Rechte von vornherein nicht mehr galten. Völkerrechtliche Regeln können nicht deswegen gegenstandslos werden, weil ein an sie gebundener Staat sie eklatant missachtet. Die Antragsteller waren folglich während ihrer Gefangenschaft Kriegsgefangene und unterfallen deshalb - jedenfalls im Grundsatz - dem Ausschluss aus der Leistungsberechtigung des Stiftungsgesetzes in § 11 Abs. 3 Stiftungsgesetz.

c) Die Antragsteller können schließlich gestützt auf die Entscheidung des Vorstandes der Bundesstiftung aus dem August 2001 auch ihre Gleichstellung mit den Kriegsgefangenen nicht verlangen, die in ein Konzentrationslager verschleppt worden sind. Die Einbeziehung dieser Gefangenen in den Kreis der Leistungsberechtigten nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Stiftungsgesetz beruht, wie sich aus der den Antragstellern bekannten Begründung für die Entscheidung des Stiftungsvorstandes ergibt, nicht auf der Einschätzung der Bundesstiftung, diese Menschen seien noch grausamer und schlimmer behandelt worden als andere Gefangene. Ausschlaggebend war vielmehr die Erkenntnis der verantwortlichen Organe der Bundesstiftung, für die Verbringung in Konzentrationslager seien besondere NS-ideologisch motivierte Diskriminierungen und Misshandlungen ausschlaggebend gewesen, so dass die Haft in einem Konzentrationslager nicht mehr als allgemeines Kriegsschicksal angesehen werden könne. Auch wenn über die Richtigkeit dieser These gestritten werden mag, ist damit erneut vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Artikel 3 Abs. 1 GG ein Differenzierungsmerkmal angesprochen, das keinesfalls als willkürlich und darüber hinaus als von einem die Differenzierung tragenden Gewicht angesehen werden muss. Dann aber ist der dem Stiftungsvorstand obliegende Gestaltungs- und Ermessensspielraum gewahrt, den auch das Gericht als eine nur rechtliche Kontrollinstanz beachten muss.

4. Danach hat das Verwaltungsgericht den Antragstellern im Ergebnis zu Recht auch Prozesskostenhilfe versagt. Zwar mag darüber gestritten werden, ob dem Vorgehen der Antragsteller in Bezug auf die Zulässigkeit der Anträge eine hinreichende Erfolgsaussicht beizumessen gewesen wäre; dies gilt jedoch nicht für das Bestehen eines Anordnungsanspruchs in der Sache. Insoweit kann auch bei Anwendung eines durchaus reduzierten Maßstabes eine hinreichende Erfolgsaussicht für das Verfahren nicht bejaht werden.

5. Soweit die Antragsteller erstmals im Beschwerdeverfahren hilfsweise die Bildung einer Rückstellung für etwaige finanzielle Leistungen gefordert haben, kann auch dem nicht entsprochen werden. Eine darauf gerichtete einstweilige Anordnung hätte jedenfalls eine Überzeugungsbildung des Senats dahin vorausgesetzt, dass das Bestehen eines Leistungsanspruchs der Antragsteller noch eingehender Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren bedarf. Dies ist nicht der Fall.

6. Der Senat verkennt die Tragweite seiner Entscheidung für das Schicksal der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen nicht. Er sieht sich jedoch auch in Respekt vor dem den Antragstellern von Deutschen zugefügten Unrecht und Leid nicht in der Lage, die in § 11 Abs. 3 des Stiftungsgesetzes zum Ausdruck gebrachte Grundentscheidung des deutschen Gesetzgebers in ihr Gegenteil zu verkehren.

7. Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 154 Abs. 2 VwGO, §§ 20 Abs. 3, 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar - § 152 Abs. 1 VwGO.

Ende der Entscheidung

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