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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 19.12.2002
Aktenzeichen: OVG 8 N 155.02
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 124 a Abs. 4 Satz 5
Die Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird nicht dadurch gewahrt, dass erstmals am letzten Tag der Frist eine Begründung bei dem Oberverwaltungsgericht eingereicht wird.

An einem an das Oberverwaltungsgericht gerichteten Begründungsschriftsatz erlangt das Verwaltungsgericht nicht dadurch eine § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO genügende Verfügungsgewalt, dass er bei der gemeinsamen Briefannahmestelle der beiden Gerichte eingereicht wird.


Oberverwaltungsgericht Berlin 8. Senat

OVG 8 N 155.02

In der Verwaltungsstreitsache

Tenor:

wird der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen des Verwaltungsgerichts Berlin vom 27. Juni 2002 zuzulassen, verworfen.

Der Antrag ist unzulässig, weil er nicht fristgerecht begründet worden ist. Mit der Zustellung des Urteils am 11. Juli 2002 begann die Frist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO, wonach innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen sind, aus denen - aus der Sicht der Beklagten - die Berufung zuzulassen ist. Zwar ist am letzten Tag der Begründungsfrist, dem 11. September 2002, ein an das Oberverwaltungsgericht Berlin gerichteter Begründungsschriftsatz eingegangen. Doch hat dieser die Frist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht gewahrt, weil die Begründung (des Zulassungsantrags) nach § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO bei dem Verwaltungsgericht einzureichen, er aber beim Oberverwaltungsgericht eingegangen ist.

Auslegungsbedürftige Unklarheit der Norm besteht hier nicht. Jedenfalls für die - wie hier - erstmalige und einzige Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung, mit der der Rechtsmittelführer die Gründe darlegt, aus denen die Berufung seiner Ansicht nach zuzulassen ist, verlangt das Gesetz eindeutig, dass sie innerhalb der zweimonatigen Frist bei dem Verwaltungsgericht einzureichen ist; die alleinige Einreichung bei dem Oberverwaltungsgericht führt zur Fristversäumung und Unzulässigkeit des Zulassungsantrags (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 20. August 2002 - 5 S 1484/02 -, DVBl. 2002, 1568 [LS 22]; Oberverwaltungsgericht Niedersachsen, Beschluss vom 20. August 2002 - 1 LA 51/02 -, DVBl. 2002, 1568 [LS 24]; Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. September 2002 - 14 A 2568/02 - und Bay. Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 20. September 2002 - 7 ZB 02.1219 -, jeweils zitiert nach Juris sowie - unausgesprochen - Oberverwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 9. Oktober 2002 - OVG 2 N 11.02 -, mit dem Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach fehlerhafter Adressierung durch eine Hilfskraft gewährt wurde; Bader u.a., VwGO, 2. Aufl. 2002, § 124 a Rn. 89).

In Anbetracht der Eindeutigkeit von Wortlaut und systematischem Zusammenhang von § 124 a Abs. 4 Sätze 4 und 5 VwGO gibt es für eine Auslegung mit dem Ergebnis, dass jedenfalls dann, wenn das Verwaltungsgericht - wie hier - den zunächst ohne Begründung gestellten Zulassungsantrag mit den Akten dem Oberverwaltungsgericht vorgelegt und dieses den Beteiligten den Eingang des Antrags und das obergerichtliche Aktenzeichen mitgeteilt hat, die Begründung des Zulassungsantrags (auch) bei dem Oberverwaltungsgericht fristwahrend eingereicht werden kann, keinen Anhalt. Insbesondere der Entstehungsgeschichte lässt sich dafür nichts entnehmen; vielmehr bestätigt sie, dass die Regelung mit Bedacht getroffen wurde. § 124 a Abs. 4 VwGO entspricht § 124 b Abs. 1 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (Deutscher Bundestag, Drucksache 14/6393, Seite 6). Zwar äußerte sich die Entwurfsbegründung nicht zu der hier fraglichen Regelung in Satz 5, wonach die Begründung bei dem Verwaltungsgericht einzureichen ist. Doch schlug der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu dem Entwurf vor, dass die Berufungsbegründung (ebenfalls) bei dem Verwaltungsgericht eingereicht werden sollte. Diesen Vorschlag begründete der Bundesrat damit, dass mit dieser Änderung eine Anpassung an die (Anmerkung: hier einschlägige) Regelung für die Begründung des Berufungszulassungsantrags erreicht werden soll; überdies erscheine es sinnvoll, mit der Aktenübersendung von der ersten in die zweite Instanz bis zum Ablauf auch der Berufungsbegründungsfrist zu warten, da es regelmäßig problemloser sei, den Beteiligten eine etwa zur Vorbereitung der Begründung erforderliche Akteneinsicht bei dem ortsnahen erstinstanzlichen Gericht zu gewähren (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/6854, Seite 5 zu Nr. 13 [§ 124 a Abs. 3 Satz 2 VwGO]). Dem widersprach die Bundesregierung nur mit dem Hinweis darauf, dass die Frist zur Begründung der Berufung (anders als die zur Begründung des Zulassungsantrags) nach § 124 a Abs. 3 Satz 3 VwGO auf rechtzeitigen Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden kann (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/6854, Seite 9 zu Nr. 13).

Der Hinweis der Beklagten auf den allgemein mit der Änderung des Rechtsmittelrechts verfolgten Zweck, das Rechtsmittelverfahren zu beschleunigen, rechtfertigt demgegenüber angesichts des klaren Wortlauts der bundesweit geltenden Norm ebenso wenig eine abweichende Auslegung des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO wie die örtlichen Besonderheiten Berlins (gleiche Anschrift von Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht).

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Regelung lassen sich nicht begründen. Es ist anerkannt, dass selbst die Geltendmachung von Ansprüchen an eine Frist gebunden werden, dass aber der Rechtsweg nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 7. Mai 1991 - 2 BvR 215/90 -, NJW 1991, 2076; Beschluss vom 9. August 1999 - 1 BvR 75/90 -, NVwZ 1999, 1329, und Beschluss vom 17. September 1999 - 1 BvR 1771/91 -, NVwZ 2000, 185 [186]). Das mit Verfassungsrang ausgestattete Prinzip der Rechtssicherheit rechtfertigt es, auch die Zulässigkeit von Rechtsmitteln an die Einhaltung einer Frist zu knüpfen, wie es durch § 124 a Abs. 4 Sätze 1 und 4 VwGO geschehen ist. Die hier maßgebliche Norm des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO dient lediglich der genaueren Bestimmung, unter welchen Voraussetzungen die Frist gewahrt ist. Eine Erschwerung des Zugangs zur Rechtsmittelinstanz ist mit dieser Regelung nicht verbunden. Denn Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht/Verwaltungsgerichtshof sind postalisch mit dem gleichen Aufwand erreichbar. Ob das Obergericht für einzelne Beteiligte wegen seiner örtlichen Nähe leichter zu erreichen wäre, ist für die generelle Beurteilung, ob mit § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO der Zugang zur Rechtsmittelinstanz erschwert wird, unerheblich. Jedenfalls wäre eine etwaige Erschwerung des Zugangs im Einzelfall in Anbetracht der postalischen Möglichkeiten (z. B. Fernkopie), die der persönlichen Abgabe von Schriftsätzen bei dem zuständigen Gericht nahezu gleichstehen, zumutbar. Für die Beurteilung der Folgen der Norm unter dem Gesichtspunkt "Erschwerung des Zugangs zur Rechtsmittelinstanz" ist es unerheblich, ob durch die Verfahrensweise der Gerichte (Abgabe der Akten vor Eingang der Antragsbegründung und Mitteilung des obergerichtlichen Aktenzeichens) eine solche Erschwerung eingetreten sein könnte, wie sie die Beklagte mit den Worten "eine den gesetzgeberischen Intentionen zuwiderlaufende Förmelei und eine bürokratische Verfahrensverzögerung" wohl anklingen lässt. Denn diese Verfahrensweise ist nicht zwingend; eine Weiterleitung der Akten an das Obergericht erst nach Eingang der Begründung des rechtzeitig gestellten Zulassungsantrags, spätestens nach Ablauf der Begründungsfrist wäre unbedenklich, entspräche möglicherweise der Vorstellung des Gesetzgebers eher.

Da § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO dem sachlichen Grund einer Regelung der Rechtsmittelfrist dient, bedarf es für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Norm nicht der Feststellung eines weiteren Zwecks der Regelung. Es hält sich im Rahmen des gesetzgeberischen Gestaltungsraums, dass der Gesetzgeber (anders als bei den §§ 70 Abs. 1, 139 Abs. 1, 147 VwGO) nur das Verwaltungsgericht als zur Fristwahrung geeigneten Empfänger bestimmt hat. Es kommt danach nicht darauf an, ob die Regelung - neben der Konkretisierung der Fristbestimmung - einen "schwer nachvollziehbaren Sinn und Zweck" hat (so Bay. Verwaltungsgerichtshof, a.a.O.) oder ob sie - wofür die Entstehungsgeschichte sprechen könnte - den zusätzlichen Zweck hat, den Beteiligten innerhalb der Begründungsfrist für den Zulassungsantrag eine Akteneinsicht beim ortsnahen Verwaltungsgericht zu ermöglichen (so Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, a.a.O.).

Ohne Erfolg macht die Beklagte geltend, sie habe den an das Oberverwaltungsgericht Berlin adressierten Schriftsatz zur Begründung des Zulassungsantrags tatsächlich bei dem Verwaltungsgericht eingereicht, weil er bei der gemeinsamen Briefannahmestelle der beiden Gerichte eingegangen und damit in den organisatorischen Verfügungsbereich und die Verfügungsgewalt sowohl des Oberverwaltungsgerichts als auch des Verwaltungsgerichts gelangt sei. Für die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines fristwahrenden Schriftstücks ist nämlich entscheidend, dass es innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des betreffenden Gerichts gelangt, womit dasjenige Gericht gemeint ist, an das der Schriftsatz gerichtet ist und das zu einer prozessualen Behandlung verpflichtet ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 15. Dezember 1999 - BVerwG 3 B 36.99 -, Buchholz 310 Nr. 13 zu § 74 VwGO, Seite 8). Der Schriftsatz vom 11. September 2002, mit dem die Beklagte ihren Zulassungsantrag begründet hat, ist aber ausdrücklich unter Angabe des Aktenzeichens des Zulassungsverfahrens an das Oberverwaltungsgericht Berlin (8. Senat) gerichtet.

Über die mithin fehlerhafte Adressierung hilft es nicht hinweg, dass Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht eine gemeinsame Briefannahmestelle unterhalten. Denn durch den Eingang bei dieser Stelle wird nicht eine gemeinsame Verfügungsgewalt beider Gerichte an allen eingegangenen Schriftstücken begründet. Verfügungsgewalt erlangt nur der jeweilige Adressat eines Schriftstücks (vgl. Oberverwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 4. September 1997 - OVG Bs IV 68/97 -, NJW 1998, 696 [697]; Sodan/Ziekow, VwGO, § 74 Rn. 38; Schoch /Schmidt-Aßmann, VwGO, § 124 a Rn. 37; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 60. Aufl. 2002, § 233 Rn. 22 m.w.N. zur zivilrechtlichen Rechtsprechung).

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 Abs. 1 VwGO) war nicht zu erwägen, weil eine unverschuldete Verhinderung auch in Anbetracht der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung nicht in Rede steht.

Die Kosten des Antragsverfahrens werden der Beklagten auferlegt (§ 154 Abs. 2 VwGO).

Der Wert des Antragsgegenstands wird durch gesonderten Beschluss festgesetzt werden.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 124 a Abs. 5 Satz 4, 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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