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Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 13.04.2004
Aktenzeichen: OVG 8 N 59.02
Rechtsgebiete: AuslG 1990, ARB 1/80, EMRK, ENA


Vorschriften:

AuslG 1990 § 47 Abs. 1 Nr. 1
AuslG 1990 § 47 Abs. 3 Satz 1
AuslG 1990 § 48 Abs. 1 Nr. 1
AuslG 1990 § 48 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2
ARB 1/80 Art. 13
ARB 1/80 Art. 14
EMRK Art. 3
EMRK Art. 8
ENA Art. 3 Abs. 3
Eine nach dem Erlass der Ausweisungsverfügung begangene Straftat kann als die spezialpräventive Gefahrenprognose der Ausländerbehörde bestätigender Umstand berücksichtigt werden.
Tatbestand:

Das Landeseinwohneramt Berlin wies den Kläger, einen türkischer Staatsangehörigen, aus, weil er wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren veurteilt worden war. Nach Erlass des Ausweisungsbescheides und Teilverbüßung dieser Freiheitsstrafe wurde der Kläger zu einer weiteren viereinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Das Verwaltungsgericht hat seine gegen die Ausweisung gerichtete Klage abgewiesen.

Das OVG hat den Antrag des Klägers, dagegen die Berufung zuzulassen, abgelehnt.

Gründe:

Die geltend gemachten Zulassungsgründe ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils und eines potenziell erheblichen Verfahrensfehlers (§ 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 5 VwGO) sind nicht gegeben.

Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger durch die gegen ihn wegen versuchten Totschlags verhängte fünfjährige Freiheitsstrafe (rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Berlin vom 15. Dezember 1995) den Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG verwirklicht hat und dass die an sich zwingend vorgeschriebene Ausweisung wegen des dem Kläger zustehenden besonderen Ausweisungsschutzes (§ 48 Abs. 1 Nr. 1 AuslG) zu einer Regelausweisung herabgestuft ist (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG). Zutreffend hat das Verwaltungsgericht seine Entscheidung des Weiteren tragend darauf gestützt, dass auch ein Regelfall anzunehmen ist und der Kläger, ohne dass der Behörde ein zur Ermessensausübung berechtigender und verpflichtender Entscheidungsspielraum eröffnet ist, ausgewiesen werden musste.

Die gegen die Bejahung eines Regelfalls geltend gemachten ernstlichen Richtigkeitszweifel greifen nicht durch.

Für diesen Zulassungsgrund sind zumindest gewichtige Gesichtspunkte erforderlich, die eine dem Kläger günstige Erfolgsprognose erlauben (vgl. Beschluss des Senats vom 19. August 1997 - OVG 8 SN 295.97 - NVwZ 1998, 197). Danach liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung erster Instanz dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird, wenn also ein Erfolg der Angriffe gegen die erstinstanzliche Entscheidung wahrscheinlicher ist als ein Misserfolg (Senatsbeschlüsse vom 15. Juli 1999 - OVG 8 N 10.99 - und vom 29. Juli 1999 - OVG 8 N 33.99 -; HessVGH, InfAuslR 2000, 497; vgl. auch Seibert, NVwZ 1999, 113 [115] mit zahlreichen Nachweisen). Das ist nicht der Fall.

Die Worte "in der Regel", die das Ausländergesetz auch an anderer Stelle verwendet (z.B. in § 7 Abs. 2 AuslG), beziehen sich auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Den Gegensatz bilden Ausnahmefälle. Diese sind durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt (BVerwG, Beschlüsse vom 28. April 1995 - BVerwG 1 B 221.94 -; vom 2. Oktober 1995 - BVerwG 1 B 221.94 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nrn. 6 und 5; Urteil vom 29. Juli 1993 - BVerwG 1 C 25.93 - BVerwGE 94, 35 [43 f.] zu § 7 Abs. 2 AuslG). Bei der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen (BVerwG, Beschluss vom 13. November 1995 - BVerwG 1 B 237.94 - Buchholz 402. 240 § 47 AuslG 1990 Nr. 9; Vormeier, in GK-AuslR, Stand Dezember 1997, § 47 AuslG Rn. 90 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2001 § 47 AuslG Rn. 16; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, 7. Teil, § 40 Rn. 117 ff.). Die Ausländerbehörde soll von einer Ausweisung absehen können, wenn im Einzelfall besondere Umstände gegeben sind, die den Ausländer entlasten oder auf Grund derer die Ausweisung als unangemessene Härte erscheint (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BT-Drs. 11/6321, S. 73). Besondere Umstände können sich aus der für die Ausweisung relevanten Tat oder aus den besonderen persönlichen Verhältnissen des Ausländers (z.B. seinem Werdegang) ergeben, wobei spezial- und generalpräventive Überlegungen von Bedeutung sein können (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, § 47 AuslG Rn. 15; Hailbronner, a.a.O. § 47 AuslG Rn. 15 ff.; HessVGH, Beschluss vom 11. März 1992 - 12 TH 2805.91 - EZAR 032, Nr. 3 [S. 2]). Ein Ausnahmefall liegt ferner vor, wenn die Ausweisung auch unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG höherrangiges Recht verletzt, sie insbesondere mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar ist. Ein Ausnahmefall kann auch im Hinblick auf Art. 3 und 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686, 953/1954 II S. 14) - EMRK - vorliegen. Die Frage, ob ein Ausnahmefall zu bejahen ist, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 29. September 1998, - BVerwG 1 C 8.96 - Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 16 = InfAuslR 1999, 27 m.w.N.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11. Oktober 2000 - 11 S 1206.00 - NVwZ-Beilage I 2/2000, S. 18 [19]).

Die Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung qualifizieren das ausweisungsrelevante Verhalten des Klägers nicht als einen von der Regel abweichenden Ausnahmefall. Die Tat geschah nicht in einer einmaligen Ausnahmesituation (vgl. Vormeier, a.a.O. § 47 AuslG Rn. 91), es handelte sich namentlich nicht um eine aus einer solchen Situation heraus begangene Leidenschaftstat. Das Strafurteil hat die Tat auf Grund sachverständiger Begutachtung des Klägers als "keinesfalls persönlichkeitsfremd" beurteilt und dies durch die Gewalttätigkeiten des Klägers gegenüber seiner früheren zweiten Ehefrau sowie die im Jahre 1993 begangene gefährliche Körperverletzung bestätigt gesehen. Der zur Gewalttätigkeit tendierenden Persönlichkeitsstruktur des Klägers entspricht es, dass er sich geraume Zeit vor der zur Ausweisung führenden Straftat ohnehin schon mit Waffen, nämlich einem Samuraischwert, einem Messer und einem Schlagring ausgestattet hatte. Am Tattag ging der Kläger nach vorheriger verbaler telefonischer Auseinandersetzung mit seinem Schwiegervater und seiner früheren zweiten Ehefrau, die sich wegen der ihr widerfahrenen Misshandlungen seinerzeit schon länger von ihm getrennt hatte und bei ihrer Mutter lebte, durchaus überlegt vor, auch wenn das Strafurteil davon ausgeht, dass er die Tat nicht geplant, sondern den Tatentschluss erst beim Erblicken des Schwiegervaters gefasst hatte. Denn der Kläger hatte sich für eine gewaltsame Auseinandersetzung gerüstet, indem er neben einem Totschläger und dem Schlagring, der sich in seinem Pkw befand, unter dessen Fußmatte ein Küchenmesser mit einer 20,5 cm langen Klinge, der späteren Tatwaffe, versteckte, weil er dieses Messer vor seinem Schwager verbergen wollte. Trotz der Bemühungen seines eigens zur Streitschlichtung hinzugezogenen Schwagers, der den Schlagring in der Hosentasche des Klägers bemerkt und ihm diesen noch auf dem Weg zum Tatort abgenommen hatte, den Streit mit dem Schwiegervater gütlich zu regeln, stürzte sich der Kläger während des Gesprächs zwischen Schwager und Schwiegervater auf diesen und versetzte ihm mit dem Messer zwei Stiche in die Flanke, die den Angegriffenen so schwer verletzten, dass sein Leben nur durch eine schnelle Operation gerettet werden konnte. Das Landgericht hat zwar den wegen Versuchs gemilderten Strafrahmen (zwei Jahre bis elf Jahre und drei Monate) angewendet, sah sich aber nicht in der Lage, einen minder schweren Fall des Totschlags zu bejahen, hat mit fünf Jahren zudem eine Freiheitsstrafe verhängt, deren Dauer die mit zwei Jahren angesetzte Mindeststrafe erheblich überschreitet.

Ein Ausnahmefall kann auch nicht wegen der sonstigen persönlichen Verhältnisse des Klägers bejaht werden.

Der Versuch der Antragsbegründung, die Tat als das mehr oder weniger zwangsläufige Ergebnis eines Familiendramas darzustellen, vermag nicht zu überzeugen. Die in diesem Kontext ins Feld geführte Zwangsverheiratung zur ersten Ehe entspricht der türkischen Tradition, in der der Kläger, der sich seit seinem siebten (so die auf seiner Darstellung beruhende strafgerichtliche Festellung) oder seinem vierten (so die Angabe in der Ausländerakte) Lebensjahr in Deutschland aufhält (davor lebte er bei den Eltern seiner Mutter), hier aufwuchs. Dass es wegen des alsbald nach dieser traditionellen Heirat, die die Verbundenheit der Familie des Klägers mit ihrem Heimatland belegt, geäußerten Wunsches, sich scheiden zu lassen, um seine spätere Ehefrau zu heiraten, zu Auseinandersetzungen des Klägers mit seinen Eltern kam, diese ihn "hinausgeworfen" haben sollen, darf nicht überbewertet werden. Denn im selben Jahr versöhnte sich der Kläger mit seinen Eltern, als diese sich mit der geplanten neuen Heirat einverstanden erklärten. Dass die Kindheit des Klägers durch seinen trinkenden und dem Glücksspiel verfallenen Vater belastet worden ist, rechtfertigt nicht die Annahme eines Ausnahmefalles, denn Straftäter stammen häufig aus belasteten Familien. Dessen angeblich spurloses Verschwinden im Jahre 1994 mag den seinerzeit 23-jährigen Kläger zwar belastet haben, ist aber kein einen Ausnahmefall begründender Umstand, zumal da er damals nach Abbruch einer Lehre als Tankwart schon mehrere Jahre im famillieneigenen Imbiss tätig gewesen ist. Der Kläger war zudem bei Begehung der Tat am 12./13. März 1998 ca. 27 Jahre alt, den familiären Unzuträglichkeiten mithin schon seit einigen Jahren entwachsen. Die Probleme, die er mit seiner zweiten Ehefrau hatte, sind vom Kläger selbst zu verantworten, vor allem auf sein unbeherrschtes, durch seine zu Gewalttätigkeit neigende Persönlichkeitsstruktur geprägtes Verhalten zurückzuführen. Dass dabei auch wirtschaftliche Schwierigkeiten (Verschuldung beider Eheleute) eine Rolle gespielt haben mögen, rechtfertigt keine andere Beurteilung.

Zwar hat der Kläger den überwiegenden Teil seiner Jugend in Deutschland verbracht, seine Sozialisation im Wesentlichen hier erfahren. Dabei spielten jedoch türkische Traditionen und Wertvorstellungen eine ausschlaggebende Rolle. Zudem ist die lange Aufenthaltsdauer Voraussetzung für die Erteilung der besonderen Ausweisungsschutz auslösenden Aufenthaltsberechtigung (vgl. § 27 AuslG). Dieser Umstand kann daher nicht abermals herangezogen werden, um zu Gunsten des Klägers zusätzlich eine Ausnahme von der Regelausweisung zu begründen (Welte, in Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, Stand Mai 2003, § 47 AuslG Rn. 51; Hailbronner, a.a.O. § 47 AuslG Rn. 19).

Ein Ausnahmefall kann auch nicht wegen familiärer Bindungen (Art. 6 GG) des Klägers im Bundesgebiet angenommen werden. Er ist weder verheiratet noch hat er Kinder zu versorgen. Selbst wenn er zurzeit seinen Wohnsitz bei seiner Mutter haben sollte, ist er als im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung vom 22. Oktober 2001 30-jähriger Mann nicht mehr auf deren familiäre Unterstützung lebensnotwendig angewiesen. Geschützt durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG ist zuvörderst die Kleinfamilie als tatsächlich gelebte Verbindung zwischen Eheleuten und ihren minderjährigen Kindern.

Der Kläger beruft sich vergebens zur Begründung eines Ausnahmefalls auf sein einwandfreies Verhalten in der Strafhaft, insbesondere als dort arbeitender Freigänger und darauf, dass er sich einer Langzeittherapie zur Bewältigung seines Persönlichkeitsdefizits unterzogen hat mit der Folge, dass seine Restfreiheitsstrafe durch den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12. Dezember 2001 ab dem 20. Dezember 2001 auf vier Jahre zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Geht man zu Gunsten des Klägers davon aus, dass die nachträgliche Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung als sich bereits vor dem Erlass der Ausweisungsverfügung möglicherweise deutlich abzeichnende Entwicklung bei der Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit berücksichtigt werden kann, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Die für die Annahme eines Ausnahmefalls erforderliche hinreichend sichere Prognose zukünftigen gesetzestreuen Verhaltens kann darauf nicht gestützt werden. Weder die Ausländerbehörde noch das Verwaltungsgericht sind an die Beurteilung des Strafrichters in dem Aussetzungsbeschluss gebunden, es könne gemäß § 57 StGB verantwortet werden, zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen werde. Abgesehen davon, dass das auf Gefahrenabwehr fokussierte Ordnungsrecht angesichts der aus dem bisherigen Verhalten des Klägers resultierenden hohen Gefährlichkeit für höchstrangige Rechtsgüter andere, geringere Anforderungen an die Wiederholungsgefahr stellt (vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185 [190 ff.]) als die in § 57 StGB normierten Voraussetzungen der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung, haben sich die Annahmen des Strafrichters in dem Beschluss vom 12. Dezember 2001 als unzutreffend erwiesen. Die diesem Beschluss zu Grunde liegende Vorstellung, der Kläger habe im Rahmen der therapeutischen Gespräche das Tatgeschehen aufgearbeitet und Strategien zum Abbau der Gewalt entwickelt, ist durch das rechtskräftige Urteil des Landgerichts Berlin vom 27. März 2003 widerlegt, das den Kläger wegen einer am 18. Dezember 2002 begangenen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilen musste. Der Kläger hatte seine Lebensgefährtin, die sich wegen seines Drogenmissbrauchs von ihm trennen wollte, brutal misshandelt und vergewaltigt und damit erneut seine zu Gewalttätigkeiten neigende Persönlichkeitsstruktur offenbart, deren Defizite durch die Langzeittherapie offensichtlich nicht behoben worden sind.

Diese nach dem Erlass der Ausweisungsverfügung beim Kläger eingetretene ungünstige Entwicklung darf als Bestätigung der vom Verwaltungsgericht gebilligten Gefahrenprognose des Beklagten berücksichtigt werden, obgleich eine Ausweisungsverfügung nach der Sach- und Rechtslage zu beurteilen ist, die im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, die hier mit der Ausgangsverfügung identisch ist, bestanden hat (so schon BVerwG, Beschluss vom 30. Oktober 1989 - 1 A 93.89 - InfAuslR 1990, 4 [5] für das AuslG 1965 bestätigt für das AuslG 1990 durch BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 1997 - 1 B 132.97 - zitiert nach Juris).

Zur Begründung eines Ausnahmefalles beruft sich der Kläger auch vergeblich auf Europarecht.

Der Ausweisung des Klägers steht insbesondere Art. 8 EMRK in der Auslegung, die diese Norm in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 13. Juli 1995 (- Nr. 18/1994/465/564 - <Nasri>, InfAuslR 1996, 1 ff.) gefunden hat, nicht entgegen. Danach wurde die Abschiebung eines volljährigen, seit seinem fünften Lebensjahr in Frankreich aufgewachsenen Ausländers, der die Beziehung zu seiner Familie nie hat abreißen lassen und der auf Grund besonderer Umstände auf Unterstützung seiner Familie angewiesen war, als unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens gewertet. In einer vergleichbaren Situation wie der taubstumme, seiner Heimatsprache nicht mächtige Ausländer jenes Verfahrens befindet sich der der türkischen Sprache mächtige Kläger, der sich zudem schon lange von seiner Familie gelöst und mit seiner Ehefrau bzw. später mit seiner Freundin zusammengelebt hat, nicht. Abgesehen davon geht es im vorliegenden Verfahren noch nicht um die Abschiebung, sondern deren Vorstufe, die Ausweisung.

Es kann auch offensichtlich keine Rede davon sein, dass die Ausweisung des Klägers gegen Art. 3 EMRK verstößt, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden darf. Dass der Richter am EGMR Morenilla in seinem abweichenden Votum zu jener Entscheidung (abgedr. in InfAuslR 1996, 4), auf das die Antragsbegründung Bezug nimmt, anders als das Urteil selbst, zu der Auffassung gelangt, die Abschiebung des behinderten und auf seine Familie in besonderem Maße angewiesenen Klägers jenes Verfahrens stelle eine unmenschliche Behandlung dar, rechtfertigt wegen der unterschiedlichen Sachlage in der Person des Klägers nicht die Bejahung einer Verletzung des Art. 3 EMRK.

Der angefochtene Beschluss unterliegt nicht deshalb ernstlichen Richtigkeitszweifeln, weil das Verwaltungsgericht besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen (ENA) verneint hat. Der Ausweisung des Klägers steht der besondere, dem § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG entsprechende europarechtliche Ausweisungsschutz, den Art. 3 Abs. 3 ENA vorsieht, nicht entgegen. Staatsangehörige eines Vertragsstaates, die, wie der Kläger, seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsmäßigen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates haben, dürfen danach nur ausgewiesen werden, wenn der von ihnen begangene Verstoß gegen die öffentliche Ordnung besonders schwer wiegend ist. Die Ausweisung soll nach einem langen ordnungsgemäßen Aufenthalt nur noch ausnahmsweise möglich sein, wenn die maßgebenden Gründe so gewichtig sind, dass die Anwesenheit des Ausländers nicht länger hingenommen werden kann. Das demnach zu verlangende Gewicht des öffentlichen Interesses daran, neuen Störungen vorzubeugen, wirkt sich hinsichtlich des spezialpräventiven Zwecks der Ausweisung auf Art und Maß der vorauszusetzenden Gefahr aus. Der Ausländer muss durch sein Verhalten gezeigt haben, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Bundesgebiet durch ihn zukünftig besonders schwer wiegend gefährdet ist (BVerwG, Urteil vom 11. Juni 1996 - BVerwG 1 C 24.94 - EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 [14]; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, § 45 AuslG Rn. 42; ders., Ausländerrecht in Deutschland 1998, § 38 Rn. 42 jeweils m.w.N.; Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Ausländerrecht, 3. Aufl., Stand Juli 2003, § 48 Rn. 13 a). Die demnach vorzunehmende individuelle Bewertung der Hinnehmbarkeit des weiteren Aufenthalts des Klägers (vgl. Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., 1999 § 45 AuslG Rn. 42) geht zu seinen Ungunsten aus.

Der Kläger hat durch mehrere gravierende Gewalttaten gezeigt, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Bundesgebiet durch ihn auch zukünftig besonders schwer wiegend gefährdet ist (BVerwG, Urteil vom 18. August 1981 - BVerwG 1 C 32.81 - BVerwGE 64, 13 [18 f.] zum besonderen Ausweisungsschutz im deutsch-griechischen Niederlassungs- und Schifffahrtsvertrag, der eine dem Art. 3 Abs. 3 ENA entsprechende Schutzklausel enthält; BVerwG, Urteil vom 11. Juni 1996, a.a.O.; Vormeier, in GK-AuslR, Stand Oktober 1995, § 45 AuslG Rn. 351 m.w.N.), sodass ein besonders schwer wiegender Grund seine Ausweisung erfordert. Die abgeurteilten Straftaten wiegen insgesamt wegen ihres gewalttätigen Charakters und insbesondere der bei den beiden letzten Taten festzustellenden Steigerung der kriminellen Intensität besonders schwer, was bereits in den höheren Freiheitsstrafen zum Ausdruck kommt. Es besteht auf Grund der zu gewalttätigen Ausbrüchen neigenden Persönlichkeitsstruktur des Klägers, die trotz einer einschlägigen Langzeittherapie sich verfestigt hat, eine erhebliche Rückfallgefahr.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht daher auch Schutz nach Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) verneint, denn diese Vorschrift schließt, ihre Anwendbarkeit zu Gunsten des Klägers unterstellt, eine spezialpräventiv motivierte Ausweisung nicht aus (EuGH, Urteil vom 20. Februar 2000 - Rs C-340.97 - InfAuslR 2000, 161).

Ebenso wenig stehen die europarechtlichen Stillhalteklauseln des Art. 13 ARB 1/80 und des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (Zusatzprotokoll) der Anwendung der Ist- und Regelausweisungstatbestände des Ausländergesetzes 1990 auf solche türkischen Staatsangehörigen entgegen, die, wie der Kläger, vor ihrem In-Kraft-Treten in das Bundesgebiet eingereist sind. Ob der Kläger, der sich auf diese Klauseln erst in dem nach Ablauf der Antragsbegründungsfrist eingereichten Schriftsatz vom 22. Mai 2002 berufen hat, diese Überlegungen zulässigerweise als Ergänzung seines bisherigen Vorbringens in das Verfahren einführen durfte, mag dahinstehen. Denn seine auf das Urteil des Bayerischen VGH vom 12. Juli 2000 - 10 B 99.1889 - (InfAuslR 2000, 425) gestützte Annahme ist durch das eine Verletzung der Stillhalteklauseln überzeugend verneinende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2002 (- 1 C 21.00 - BVerwGE 116, 55 ff.) überholt. Dass dieses Urteil eine Verletzung der Stillhalteklausel ausdrücklich nur für Drogendelikte verneint und offen gelassen hat, was in sonstigen Fällen einer Regel-Ausweisung und bei einer Ist-Ausweisung gelten würde (a.a.O. S. 59), zwingt zu keiner anderen Beurteilung. Denn tragend für das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts war, dass Drogendelikte unter der Geltung der Ermessensausweisung nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965 regelmäßig zur Ausweisung führten. Für schwere Gewalttaten, wenn sie, wie hier, gar wiederholt begangen worden sind, war unter der Geltung des § 10 AuslG 1965 ebenfalls regelmäßig die Ausweisung zu verfügen (vgl. Kanein, Ausländerrecht, 4. Aufl. 1988, § 10 AuslG Rn. 53; Hailbroner, Ausländerrecht, Ein Handbuch 1984, Rn. 471 jeweils m.w.N.), sodass auch insoweit keine Schlechterstellung des Klägers festgestellt werden kann.

Die Berufung kann schließlich nicht wegen eines Verfahrensfehlers der Verletzung des rechtlichen Gehörs zugelassen werden.

Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich zu dem für die jeweilige gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt zu äußern, und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es kann zwar im Ergebnis der Verhinderung weiteren entscheidungsrelevanten Vortrags zur Sachlage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen bzw. tatsächlichen Aspekt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte. Allerdings ist zu beachten, dass das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis darauf verpflichtet ist, wie es den Streitstoff zu würdigen gedenkt. Auch wenn die Sachlage umstritten oder problematisch ist, müssen daher die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30. Oktober 1990 - 2 BvR 562.88 - BVerfGE 83, 24 [35] und vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986.91 - BVerfGE 86, 133 [144 f.]; Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640.97 - BVerfGE 98, 218 [263] = NJW 1998, 2515 [2516] jeweils m.w.N.). Der Kläger musste demnach damit rechnen, dass das Verwaltungsgericht die früheren strafrechtlichen Verurteilungen sowie die gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren bei der erforderlichen umfassenden Würdigung seiner Persönlichkeit verwertet, denn diese waren Inhalt der Ausländerakte, in die der Kläger Einsicht nehmen konnte und schon im Verwaltungsverfahren und später auch im erstinstanzlichen Verfahren genommen hat. Er durfte sich nicht darauf verlassen, dass das Verwaltungsgericht bei der gerichtlich umfassend nachzuprüfenden Gefahrenprognose nur den Sachverhalt berücksichtigen würde, der der Ausweisungsverfügung zu Grunde gelegt worden ist, und weitere tatsächliche Umstände, die sich aus der beigezogenen Ausländerakte ergeben, nur nach einem besonderen Hinweis verwerten würde. Es trifft im Übrigen nicht zu, dass der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid das strafrechtliche Vorverhalten des Klägers außer Acht gelassen hat. - Es fehlt darüber hinaus jeder Anhaltspunkt dafür, dass das Verwaltungsgericht nicht zwischen eingestellten Ermittlungsverfahren und strafrechtlichen Verurteilungen unterschieden hätte.

Ende der Entscheidung

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