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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 21.06.2005
Aktenzeichen: OVG 8 S 171.04
Rechtsgebiete: AuslG


Vorschriften:

AuslG § 55 Abs. 2
AuslG § 60 a Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 8 S 171.04

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin durch die Vizepräsidentin des Oberverwaltungsgerichts Xalter und die Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Schrauder und Weber am 21. Juni 2005 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 14. Dezember 2004 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Aufenthalt des Antragstellers zu 1. vorläufig zu dulden.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2 500 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren im Wege einstweiliger Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners, den Aufenthalt des nigerianischen Antragstellers zu 1. wegen der Beziehung zu seinem deutschen Kind, der Antragstellerin zu 2. und dessen deutscher Mutter, der Antragstellerin zu 3., vorläufig zu dulden.

Der Antragsteller zu 1., der nach eigenen Angaben Anfang Januar 2002 ohne erforderliches Visum eingereist war, wurde am 7. Januar 2002 festgenommen und verbrachte die Zeit bis zum 10. September 2002 in Abschiebehaft. Dem Haftrichter, der Ausländerbehörde, dem Sozialamt und dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) gegenüber gab er sich als K. G., geboren am 7. Januar 1980 in Sierra Leone aus. Sein Asylantrag wurde mit Bescheid vom 18. Februar 2002 als offensichtlich unbegründet abgelehnt und ihm die Abschiebung nach Sierra Leone angedroht. Sein dagegen erhobenes vorläufiges Rechtsschutzbegehren blieb erfolglos. Seit Januar 2003 erhielt er unter den von ihm angegebenen falschen Personalien eine wiederholt verlängerte Duldung.

In der Folgezeit wurde der Antragsteller zu 1. unter der unrichtig angegebenen Identität vergeblich bei den Botschaften von Sierra Leone, Nigeria, Ghana und Liberia vorgeführt, um für ihn Heimreisepapiere zu beschaffen. Nachdem bei diesen Ermittlungen der Verdacht aufgekommen war, er könne Nigerianer sein, wurde der Antragsteller zu 1. aufgefordert, einen entsprechenden Passverlängerungsantrag zu stellen. Dies lehnte sein damaliger Verfahrensbevollmächtigter mit Schriftsatz vom 9. Januar 2003 ab, weil der Antragsteller zu 1. sich nicht unzutreffend als nigerianischer Staatsangehörigen ausgeben wolle; zudem existiere kein zu verlängernder Pass.

Mit Schriftsatz vom 19. Mai 2004 ließ der Antragsteller zu 1. eine Aufenthaltsgenehmigung, hilfsweise eine Duldung beantragen und offenbarte seine wahre Identität; er sei im Januar 2001 (gemeint ist wohl 2002) mit einem in seinen nigerianischen Pass eingetragenen Schengenvisum eingereist. Zur Begründung verwies er auf die Beziehung zu der Antragstellerin zu 3., aus der ein Kind, die Antragstellerin zu 2., hervorgegangen sei. Die Vaterschaft habe er anerkannt und zugleich die Sorge für das Kind gemeinsam mit der Antragstellerin zu 3. übernommen. Sie werde von ihm auch tatsächlich mit der Mutter gemeinsam ausgeübt.

Das Landeseinwohneramt Berlin lehnte die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung bzw. einer Duldung mit Bescheid vom 23. September 2004 ab, weil dem Antragsteller zu 1. angesichts seines bisherigen rechtswidrigen Verhaltens, namentlich der Täuschung über seine Identität und der Unterdrückung seines nigerianischen Passes, die zur unrechtmäßigen Erteilung einer Duldung geführt habe, die Ausreise und damit eine ggf. kurzfristige Trennung von seinem Kind zur Durchführung eines Visumsverfahrens zuzumuten sei.

Die Antragsteller haben dagegen Klage erhoben und beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller zu 1. vorläufig ausländerrechtlich zu dulden.

Das Verwaltungsgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 14. Dezember 2004 abgelehnt. Rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung i.S.v. § 55 Abs. 2 AuslG sei nicht gegeben. Die dazu erforderliche Abwägung zwischen den verfassungsrechtlich gemäß Art. 6 Abs. 1 GG schützenswerten Interessen des Antragstellers zu 1. an der ununterbrochenen Aufrechterhaltung seiner familiären Bindungen zu seinem Kind, der Antragstellerin zu 2., und dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der Einreisevorschriften ergebe, dass letzteres überwiege. Es gehe nicht um eine definitive Beendigung des Aufenthaltes des Antragstellers zu 1., sondern nur darum, ihn zur vorübergehenden Ausreise zu zwingen, damit die Sichtvermerksbestimmungen eingehalten würden. Das sei angesichts der Bedeutung der Einreisebestimmungen und des hartnäckigen rechtswidrigen Verhaltens des Antragstellers zu 1. im Anschluss an seine illegale Einreise nicht zu beanstanden.

Die Antragsteller haben gegen diesen Beschluss Beschwerde erhoben, mit der sie ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung weiterverfolgen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Der geltend gemachte Duldungsanspruch ist glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).

Der Abschiebung des auf Grund des Bescheides des BAFl vom 18. Februar 2002 sofort vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellers steht ein Abschiebungshindernis i.S.v. § 60 a Abs. 2 AufenthG entgegen. Nach dieser Bestimmung, die inhaltlich dem § 55 Abs. 2 AuslG entspricht (vgl. dazu § 60 Abs. 11 Satz 3 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BT-Drs. 15/420, S. 24 und deren Begründung auf S. 92, ebenda), wird einem Ausländer eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

Das neue Recht ist seit seinem In-Kraft-Treten am 1. Januar 2005 (Art. 15 Abs. 3, 1. Halbs. des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern - Zuwanderungsgesetz - vom 30. Juli 2004, BGBl. I S. 1950) für den geltend gemachten Anspruch maßgebend. Im Ausländerrecht ist bei Verpflichtungsbegehren insoweit auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen, als es um die Frage geht, ob schon aus Rechtsgründen ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss oder nicht erteilt werden darf. Dies entspricht der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung für Verpflichtungsklagen auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung (BVerwG, Beschluss vom 20. Mai 1985 - 1 B 46.85 - Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 70; Urteil vom 16. Juli 2002 - 1 C 8.02 - DVBl 2003, 76), die auf im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verfolgte Duldungsbegehren zu übertragen ist.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Abschiebung des Antragstellers zu 1. rechtlich unmöglich.

Nicht anders als nach dem bis zum 31. Dezember 2004 maßgebenden Recht ist die Abschiebung rechtlich unmöglich, wenn sie aus rechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden darf, weil ein Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 1 bis 5, 7 i.V.m. § 60 a Abs. 1 AufenthG) oder ein zwingendes Abschiebungshindernis auf Grund vorrangigen Rechts, namentlich der Grundrechte, gegeben ist. Ein zwingendes Abschiebungshindernis liegt insbesondere auch dann vor, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Beziehungen durch Ausreise zu unterbrechen.

Geht man mit den Beteiligten und dem Verwaltungsgericht davon aus, dass zwischen dem Antragsteller zu 1. und seinem ein Jahr alten deutschen Kind, der Antragstellerin zu 2., eine gemäß Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützte familiäre Lebensgemeinschaft besteht, die im Hinblick auf die im Bundesgebiet aufhältliche deutsche Mutter prinzipiell in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet aufrechterhalten werden kann, kommt es für die Beantwortung der Frage, ob dem Antragsteller zu 1. die Ausreise zur Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Visumsverfahren nicht zuzumuten ist, also ein zwingendes rechtliches Abschiebungshindernis vorliegt, darauf an, ob eine Abwägung der Belange der Bundesrepublik Deutschland mit dem Interesse des Antragstellers an einer ununterbrochenen Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft zwischen ihm und seinem Kleinkind nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein Überwiegen der privaten Bleibeinteressen der Antragsteller ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523.99 - NVwZ 2000, 59 [60]). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht allein deshalb schwerer wiegen als die durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützten privaten Interessen der Antragsteller, weil der Antragsteller zu 1. vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Durch das nachträgliche Entstehen der verfassungsrechtlich geschützten Lebensgemeinschaft ist eine neue Situation entstanden (BVerfG, a.a.O.). Allerdings sind Intensität und Häufigkeit solcher Verstöße ebenso wenig belanglos wie die sonstigen Umstände des Einzelfalles, zu denen neben der Dauer des Visumsverfahrens auch das sonstige Verhalten des Antragstellers während seines bisherigen Aufenthaltes und eine evtl. daraus herzuleitende Gefährdung öffentlicher Interessen gehören (vgl. dazu OVG Berlin, Beschluss vom 4. September 2003 - OVG 6 S 284.03 - InfAuslR 2004, 68 ff.).

Danach ist es dem Antragsteller zu 1. derzeit nicht zuzumuten, das Bundesgebiet zu verlassen, um das erforderliche Visum einzuholen. Die Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen nicht das Interesse der Antragsteller an einem ununterbrochenen Fortbestehen ihrer familiären Lebensgemeinschaft. Zwar hat der Antragsteller zu 1. gegen ausländerrechtliche Vorschriften verstoßen, weil er ohne das für den von ihm von vornherein beabsichtigten Daueraufenthalt erforderliche Visum eingereist ist. Schwer wiegt insbesondere, dass er durch unrichtige Angaben über seine Identität sowie die Unterdrückung seines nigerianischen Passes die Behörden hartnäckig getäuscht, dadurch einen über zweijährigen illegalen Aufenthalt erzwungen, durch die erforderlichen Vorführungen bei verschiedenen ausländischen Botschaften erheb-lichen Verwaltungsaufwand und Kosten verursacht sowie öffentliche Leistungen in erheblichem Umfang erschlichen hat. Aber diese gegen den weiteren ununterbrochenen Aufenthalt des Antragstellers zu 1. sprechenden öffentlichen Interessen überwiegen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht das verfassungsrechtlich geschützte Interesse der Antragsteller an einem weiteren Fortbestehen der familiären Lebensgemeinschaft. Die Antragstellerin zu 3. hat glaubhaft dargelegt, dass sie an einem Borderline-Syndrom leidet, das im Jahre 2003 einen ca. zweimonatigen stationären Aufenthalt (Bescheinigung der Charité, Campus Benjamin Franklin, vom 22. März 2004) mit anschließender ambulanter Behandlung zur Folge hatte (vgl. Schreiben der Dipl.Psych. D. vom 16. März 2004, nervenärztliches Attest vom 20. September 2004 des Dr. H., Schreiben der Familienhelferin B. vom 25. Juni 2004, Erklärung der Antragstellerin zu 3. vom 14. Februar 2005). Bei dieser Persönlichkeitsstörung treten alternierend Symptome einer Neurose und Psychose auf (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 256. Aufl., Stichwort "Borderline-Syndrom"). Würde die Antragstellerin zu 3. durch eine, sei es auch nur vorübergehende, Ausreise ihres Lebenspartners, des Antragstellers zu 1., von diesem getrennt, würde dies nach dem übereinstimmenden Inhalt obiger Bescheinigungen und Erklärungen, soweit sie sich dazu verhalten, für sie eine erhebliche psychische Belastung mit Dekompensationserscheinungen bedeuten, die ihre ohnehin beschränkte Fähigkeit zur Betreuung ihrer Kinder, die nach der sachlichen und nachvollziehbaren Schilderung der Familienhelferin vom 19. Oktober 2004 durch erhebliche Erziehungs- und Unterstützungsleistungen des Antragstellers zu 1. ergänzt wird, ernsthaft in Frage stellen. Es wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit für die drei in der Familie lebenden Kinder und somit auch für die Antragstellerin zu 2. ein schwer wiegender Erziehungs- und Betreuungsnotstand zu erwarten, den auch die nicht kompensatorisch angelegte Familienhilfe nicht ausgleichen könnte (vgl. Beschreibung der familiären Situation durch die Familienhelferin vom 19. Oktober 2004). Hinzu kommt, dass die Antragsteller unwidersprochen vorgetragen und durch ein Merkblatt der "Infostelle der Ausländerbehörde" belegt haben, dass sich die Dauer der Visumsverfahren erheblich verlängert hat, so dass derzeit von einer nur kurzfristigen Trennung der familiären Lebensgemeinschaft nicht ausgegangen werden kann. Insofern hat sich die Sachlage bei Visumsverfahren gegenüber derjenigen des Senatsbeschlusses vom 30. Juni 2003 (GeschZ.: OVG 8 S 37.03) geändert; auch war in jenem Fall bei vorübergehender Ausreise des Antragstellers kein akuter Erziehungs- und Betreuungsnotstand zu befürchten.

Ist aber eine längere Trennungszeit ernstlich zu befürchten, so ist zusätzlich zu-gunsten der Antragsteller zu berücksichtigen, dass gerade bei einem kleinen Kind - die Antragstellerin zu 2. ist ein Jahr alt - die Entwicklung sehr schnell voranschreitet, so dass sogar eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte des Art. 6 Abs. 2 GG unverhältnismäßig ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. August 1999, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Wertes des Beschwerdegegenstandes beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2, 47 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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