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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 23.12.2002
Aktenzeichen: OVG 8 S 362.02
Rechtsgebiete: GG, VwGO, RStV


Vorschriften:

GG Art. 5 Abs. 1 Satz 2
GG Art. 5 Abs. 2
VwGO § 123 Abs. 1 Satz 2
VwGO § 123 Abs. 1 Satz 3
RStV § 3 Abs. 2 Satz 3
RStV § 3 Abs. 7 Satz 1 Halbs. 1
Zu den Voraussetzungen einer Vorwegnahme der Hauptsache bei der Ausstrahlung eines jugendschutzrechtlich bedenklichen Films vor 22 Uhr.

Zur Abwägung zwischen Jugendschutz und Programmgestaltungsfreiheit im Rahmen des Ermessens nach § 3 Abs. 7 Satz 1 Halbs. 1 RStV für den Einzelfall Ausnahmen von den Zeitgrenzen des § 3 Abs. 2 Satz 3 RStV zu gestalten.


OVG 8 S 362.02

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Monjé, den Richter am Oberverwaltungsgericht Weber und den Richter am Verwaltungsgericht Patermann

am 23. Dezember 2002 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. Dezember 2002 geändert:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die Festsetzung des Streitwerts für beide Rechtsstufen bleibt einem gesonderten Beschluss vorbehalten.

Gründe:

Die Beschwerde, mit der die Antragstellerin einen Mangel des angegriffenen Beschlusses dargelegt hat (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO), ist begründet.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet hat, der Antragstellerin unverzüglich eine vorläufige Ausstrahlungsgenehmigung nach § 3 Abs. 7 Satz 1 Rundfunkstaatsvertrag für die Ausstrahlung des Filmes "Der Soldat James Ryan" am 5. Januar 2003 ab 20 Uhr in der Schnittfassung vom 6. Oktober 2002 (Gesamtlänge ca. 154 Minuten) zu erteilen, nimmt die Hauptsache vorweg. Denn die Anordnung führte zur Erteilung der Ausnahmegenehmigung für den 5. Januar 2003, die die Antragstellerin mit dem Schreiben vom 28. Oktober 2002 nur beantragt hatte; mit Ablauf des 5. Januar 2003 und der Ausstrahlung des Filmes ab 20.15 Uhr wäre das Begehren der Antragstellerin erfüllt und hätte sich dann erledigt. Die vom Verwaltungsgericht getroffene Regelung des streitigen Rechtsverhältnisses ist nur insoweit vorläufig, als sie noch beschwerdefähig ist; die Anordnung trifft aber eine endgültige Regelung des Streits um die Sendung am 5. Januar 2003 ab 20 Uhr. Das entspricht auch der Sicht des Verwaltungsgerichts, wie sich der Begründung der Streitwertfestsetzung entnehmen lässt, wonach der Wert gegenüber dem Hauptsacheverfahren wegen Vorwegnahme der Hauptsache nicht zu halbieren sei.

Die Voraussetzungen, unter denen die Hauptsache durch eine einstweilige Anordnung vorweggenommen werden darf, sind hier aber nicht erfüllt. Denn dazu muss die begehrte Anordnung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig sein. Das ist nur dann der Fall, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 123 Rn. 14; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl. 1998, § 16 Rn. 218 ff., Seiten 105 ff.). An diesen Anforderungen ändert es nichts, dass es der Antragstellerin um die Ausübung ihres Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geht. Zwar kommt bei der Gewichtung der drohenden bzw. durch die Anordnung zu vermeidenden Nachteile dem Umstand, dass die Verwirklichung von Grundrechten inmitten steht, besondere Bedeutung zu und wird die Beeinträchtigung einer Grundrechtsposition stärker zu gewichten sein als die einer nur einfachrechtlich begründeten Rechtsposition (vgl. Finkelnburg/Jank, aaO, Rn. 222, Seite 107 f.). Doch streiten die Beteiligten gerade um die konkrete Bestimmung dieser grundrechtlichen Position und darum, ob das sich im Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG bewegende Begehren der Antragstellerin, den Film ihrer Programmgestaltung entsprechend zu senden, von den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend, die auch der Rundfunkfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG ausdrücklich Grenzen setzen, beschränkt wird.

Der angegriffene Beschluss ist auch im Ergebnis rechtsfehlerhaft. Der im Beschwerdeverfahren nur noch zu prüfende, erstinstanzlich hilfsweise gestellte und dort erfolgreiche Antrag ist unbegründet. Denn die Antragstellerin hat die genannten erhöhten Anforderungen weder an einen Anordnungsgrund noch an einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 Satz 2 und 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).

Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass sie dadurch, dass sie den mit der Kennzeichnung "Freigegeben ab sechzehn Jahren" versehenen Film nicht schon ab 20 Uhr, sondern - wie durch § 3 Abs. 2 Satz 3 RStV bestimmt - nur zwischen 22 und 6 Uhr senden darf, einen nach dem dargelegten Maßstab unzumutbaren Nachteil erleidet. Denn Handeln auf eigenes Risiko kann nicht zu Gunsten des Eilrechtsschutzsuchenden berücksichtigt werden (vgl. Finkelnburg/Jank, aaO, § 13 Rn. 155, Seite 71 f.). Soweit die Antragstellerin aber geltend macht, ihre Vorbereitungen für die Ausstrahlung am 5. Januar 2003 seien bereits zu weit gediehen, mangels alternativer Angebote würde sie Schwierigkeiten mit der Änderung ihres Programms haben und näher beschriebene "dringliche Gründe, um den ... Film programmlich und wirtschaftlich sinnvoll einzusetzen" sprächen für die Ausstrahlung am 5. Januar 2003 ab 20.15 Uhr, liegen von der Antragstellerin in Kenntnis des damit verbundenen Risikos selbst gesetzte Umstände vor. Nicht glaubhaft ist es, dass die "bedeutsame Positionierung als 'Spielfilmsender Nr. 1'" im Jahr 2003 von der Ausstrahlung des Films am 5. Januar 2003 ab 20.15 Uhr abhängt. Ein derartiger Ruf dürfte sich nur durch dauerhafte Sendeleistung über einen längeren Zeitraum hinweg begründen und erhalten lassen, nicht aber durch eine einzige Abendsendung zu einer bestimmten Sendezeit. Zwar mag es denkbar sein, dass der Antragstellerin ohne die beabsichtigte Sendung am 5. Januar 2003 "Millionen Zuschauer verloren gehen"; unvorstellbar ist jedoch, dass dieser Verlust unwiderbringlich und von allen Sendeangeboten zu anderer Zeit unabhängig ist, die Antragstellerin mithin dauerhaft allein wegen des Unterbleibens der Sendung schon um 20.15 Uhr in ihrer Position am Markt beeinträchtigt wird.

Vor allem aber hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht; es ist nicht in einem für die Vorwegnahme der Hauptsache ausreichend hohen Maß wahrscheinlich, dass der Antragstellerin die begehrte Ausnahmegenehmigung zwingend zu erteilen ist. Nach § 3 Abs. 7 Satz 1 Halbsatz 1 RStV können die Landesmedienanstalten für den Einzelfall Ausnahmen von den Zeitgrenzen nach § 3 Abs. 2 Satz 3 RStV gestatten. Die Norm schafft keinen gebundenen Anspruch, sondern stellt die Gestattung in das Ermessen der Behörde. Bei der gegebenen Sachlage lässt sich nicht feststellen, dass die Antragsgegnerin dieses Ermessen rechtmäßig nur in der Weise wird ausüben können, dass sie die Abweichung von der Zeitgrenze gestattet; das Ermessen der Antragsgegnerin ist nicht auf Null reduziert.

§ 3 Abs. 7 Satz 1 Halbsatz 1 RStV schafft die einfachrechtliche Grundlage, die in der Verfassung angelegte Konkurrenz gegenläufiger Rechtsgüter (Rundfunk-freiheit und Jugendschutz) in den gebotenen Ausgleich zu bringen und den gesetzlich durch § 3 Abs. 2 Satz 3 RStV angeordneten Vorrang des Jugendschutzes bei der Ausstrahlung von Filmen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht freigegeben sind, in geeigneten Fällen aufzuheben. Ist die beabsichtigte Sendung zweifelsfrei jugendschutzrechtlich unbedenklich, lässt sich die jugendschützende Zeitgrenze des § 3 Abs. 2 Satz 3 RStV verfassungsrechtlich nicht mehr rechtfertigen und die Abweichung von dieser Zeitgrenze wäre zu gestatten. So liegt der Fall aber nicht. Vielmehr bedarf es weiterer Klärung, ob die beabsichtigte Sendung mit den berechtigten Anliegen des Jugendschutzes im Einklang steht. Denn die Beurteilung des Arbeitsausschusses der FSK, auf der die Kennzeichnung des Films mit "Freigegeben ab sechzehn Jahren" beruht, die von der Antragstellerin eingeholte "Prüfentscheidung" eines Prüfungsausschusses des "Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen e.V." (FSF) vom 21. März 2001 sowie das von der Antragstellerin vorgelegte Gutachten des Privatdozenten Dr. G. stimmen darin überein, dass der Film - selbst in der um etwa fünf Minuten gekürzten Fassung - in der ersten halben Stunde drastisch durch Gewaltdarstellungen auf den Zuschauer einwirkt und die dem Jugendschutz geschuldeten Bedenken gegen den Film nicht etwa auf nur einer - inzwischen entfernten - Szene bzw. Sequenz von fünf bis sieben Minuten gründen. Auch die FSF und Dr. G. nehmen an, dass selbst der gekürzte Film über einige Zeit Angst erzeugt; sie verneinen lediglich deren Übermaß bzw. halten das Ausmaß der Angsterzeugung/emotionalen Belastung für hinnehmbar. Dennoch empfiehlt Dr. G. einen Ausstrahlungstermin vor 22 Uhr nur "unter der Bedingung einer inhaltlichen Rahmung bezogen auf die historischen Hintergründe des 2. Weltkriegs". Die Antragstellerin behauptet nicht, dass sich durch die weiteren Schnitte im Umfang von etwa zwei Minuten die belastende Wirkung der dauerhaften, drastischen Gewaltdarstellung wesentlich geändert hat.

Nicht von entscheidender Bedeutung ist, dass das Gutachten der FSF eine Ausstrahlung des gekürzten Films vor 22 Uhr befürwortet. Denn eine Bindungswirkung kommt dem Gutachten der FSF nicht zu (so auch Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner, Rundfunkstaatsvertrag, B 5, § 3 RStV Rn. 79); die FSF ist - wie das Verwaltungsgericht in dem angefochten Beschluss zutreffend festhält - "nicht zur verbindlichen Entscheidung berufen" (Beschlussabdruck Seite 5).

Zum gleichen Ergebnis führte es, wenn man die Rechtsauffassung zugrunde legte, die das Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 27. Juni 2002 - VG 27 A 398.01 - in Bezug auf die weniger gekürzte Filmfassung vertreten hat. Dortiger Ausgangspunkt ist, "dass das Gericht keine - auch keine stattgebende - eigene Entscheidung treffen kann, sondern dies der dazu berufenen Stelle überlassen muss" (Urteilsabdruck Seite 10). An der diese Beschränkung begründenden "institutionellen Grundrechtsabsicherung" hätte sich nichts geändert. Darauf, dass es dem Gericht nicht ersichtlich sei, auf welcher Grundlage die Antragsgegnerin eine andere Entscheidung treffen könnte als die beantragte Gestattung zu erteilen, käme es nicht an; die Entscheidung bliebe weiter der dazu berufenen Stelle (nicht dem Gericht) vorbehalten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung für beide Instanzen stellt der Senat zurück, da er dazu Angaben benötigt, die in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht eingeholt und vorab zur Stellungnahme für die jeweilige Gegenseite gegeben werden können.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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