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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 29.08.2008
Aktenzeichen: 1 B 408/08
Rechtsgebiete: BremSchVwG


Vorschriften:

BremSchVwG § 6
Zur Bedeutung der Größe von naturwissenschaftlichen Fachräumen für die Aufnahme von Schülern der 5. Jahrgangsstufe an einer Gesamtschule.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 408/08

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch Richter Göbel, Prof. Alexy sowie die Richterin Feldhusen am 29.08.2008 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 1. Kammer - vom 29.07.2008 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller zu 1. vorläufig und bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache oder einer anderweitigen Erledigung des Hauptsacheverfahrens in die Integrierte Stadtteilschule am Leibnizplatz aufzunehmen.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren zum Zwecke der Kostenberechnung auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe:

Die Antragsteller begehren im Wege einer einstweiligen Anordnung die vorläufige Aufnahme des Antragstellers zu 1. in die Integrierte Stadtteilschule am Leibnizplatz (ISS Leibnizplatz).

An der ISS Leibnizplatz sind zum Schuljahr 2008/2009 in der 5. Jahrgangsstufe 4 Klassenverbände mit jeweils 21 Schülern gebildet worden. Den 84 Schulplätzen, die damit zu vergeben waren, standen 155 Erstwahl-Anmeldungen gegenüber. Die Antragsteller erhielten eine Absage. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren haben sie rechtzeitig Klage erhoben. Am 01.07.2008 haben sie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, mit der sie die vorläufige Aufnahme des Antragstellers zu 1. in die ISS Leibnizplatz erreichen möchten.

Das Verwaltungsgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 29.07.2008 abgelehnt.

Die dagegen eingelegte Beschwerde ist erfolgreich. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor (§ 123 Abs. 1 S. 2 und 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).

Die Antragsteller haben einen Anspruch auf Aufnahme des Antragstellers zu 1. in die ISS Leibnizplatz glaubhaft gemacht.

Der Gesetzgeber hat den Eltern in § 6 Abs. 4 Satz 1 Bremisches Schulverwaltungsgesetz (BremSchVwG) das Recht eingeräumt, die Schule, die ihr Kind nach der Grundschule besuchen soll, zu wählen. Dieser Rechtsanspruch kann nur eingeschränkt werden bei Überschreiten der Aufnahmefähigkeit oder Unterschreiten der Mindestgröße (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BremSchVwG). Wegen dieser anspruchsbegrenzenden Funktion ist der Begriff der Aufnahmefähigkeit ein Rechtsbegriff, bei dessen Ausfüllung der Antragsgegnerin entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kein Ermessen zusteht. Ein schulorganisatorisches Ermessen ist der Behörde allein im Rahmen des § 6 Abs. 1 BremSchVwG eingeräumt, der die Bereitstellung von Ressourcen betrifft, nicht im Rahmen des § 6 Abs. 2 BremSchVwG, der die Nutzung der bereitgestellten Ressourcen zum Gegenstand hat. Auch der Beschluss des Senats vom 10.02.2005 - 1 B 463/04 - , auf den sich das Verwaltungsgericht beruft, bezieht sich nur auf schulorganisatorische Entscheidungen nach § 6 Abs. 1 BremSchVwG.

Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BremSchVwG erfolgt die Festsetzung der Kapazitäten der einzelnen Bildungsgänge durch die Stadtgemeinden als kommunale Schulträger. Den materiellen Maßstab für die Festsetzung der Kapazitäten bestimmt § 6 Abs. 2 Satz 2 BremSchVwG. Danach sind im Rahmen der insgesamt zur Verfügung stehenden Ressourcen der jeweilige pädagogische Anspruch des Bildungsgangs und die räumlichen Möglichkeiten der jeweiligen Schule maßgebend. Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 BremSchVwG kann dieser Maßstab durch eine Rechtsverordnung weiter konkretisiert werden, in der die Kriterien der Kapazitätsfestsetzung und die generellen, auch pädagogisch bedingten maximalen Klassen- oder Lerngruppengrößen geregelt werden. Zuständig für den Erlass der Rechtsverordnung ist die Senatorin für Bildung und Wissenschaft als Landesbehörde (§ 93 BremSchVwG). Eine solche Rechtsverordnung liegt nicht vor. Die von der Antragsgegnerin erlassenen "Richtlinien über die Klassenfrequenzen der allgemein bildenden Schulen der Stadtgemeinde Bremen bis zur Jahrgangsstufe 10 vom 08.06.2004" unterscheiden sich von einer solchen Rechtsverordnung nicht nur durch ihre Rechtsform, sondern auch durch ihren Inhalt und ihren Geltungsbereich. Es handelt sich um Verwaltungsvorschriften des kommunalen Schulträgers.

Die Richtlinien selbst setzen keine Klassengrößen fest, sondern enthalten "Richtfrequenzen" und "Bandbreiten" für einzelne "Schularten". Ob und inwieweit die Differenzierung nach Schularten und innerhalb derselben mit den Vorgaben nach § 6 Abs. 2 Satz 1 und 2 BremSchVwG zu vereinbaren ist, die auf die "Bildungsgänge" abstellen (zur Legaldefinition von Bildungsgängen und Schularten in § 1 Abs. 3 SchulVwG i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 4, § 17 BremSchulG), kann hier offen bleiben. Zweifelhaft ist insbesondere, ob zwischen Gesamtschulen nach ihrem Gründungsdatum (vor dem 01.08.2004 und nach dem 31.07.2004) differenziert werden kann; eine sachliche Rechtfertigung dafür ist nicht ersichtlich. Auch das bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, denn selbst wenn die - niedrigeren - Werte für die vor dem 01.08.2004 gegründeten Gesamtschulen zu Grunde gelegt werden, ergibt sich aus den Richtlinien kein Hinweis darauf, dass die Aufnahmekapazität der ISS Leibnizplatz mit 21 Schülern erschöpft sein könnte.

Die Frage, in welcher Weise die Aufnahmekapazität durch den pädagogischen Anspruch des Bildungsganges (§ 6 Abs. 2 Satz 2 BremSchVwG) begrenzt wird, hat die Antragsgegnerin selbst durch ihre Richtlinien beantwortet, indem sie in Ziffer 1 Bandbreiten für die Klassenfrequenzen festgelegt hat. Jedenfalls im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens muss sich die Antragsgegnerin daran festhalten lassen, dass Klassengrößen, die diese Bandbreiten einhalten, fachlich-pädagogisch vertretbar sind. Davon geht die Antragsgegnerin ersichtlich auch in ihrer sonstigen Verwaltungspraxis aus. Die Richtfrequenz soll demgegenüber, wie in Ziffer 2 der Richtlinien ausdrücklich ausgeführt wird, nur die Regelgröße einer Klasse bestimmen; die Schulen können im Rahmen ihrer Möglichkeiten andere Gruppengrößen innerhalb der Bandbreiten zulassen. Das kann nur so verstanden werden, dass der pädagogische Anspruch des Bildungsganges einer Ausschöpfung der Bandbreiten nicht entgegensteht. Gründe, von dieser eigenen Einschätzung der Antragsgegnerin zu ihren Gunsten abzuweichen, sind nicht ersichtlich. Lässt der pädagogische Anspruch des Bildungsgangs bei Gesamtschulen danach die Bildung von Klassenfrequenzen von bis zu 24, bei nach dem 31.07.2004 gegründeten sogar von bis zu 25 Kindern zu, vermag er jedenfalls unterhalb dieser Schwelle keine Erschöpfung der Aufnahmekapazität zu begründen.

Ein besonderer pädagogischer Anspruch der einzelnen Schule kann eine niedrigere Aufnahmekapazität nicht begründen. Das ergibt sich schon aus § 6 Abs. 2 Satz 2 BremSchulVwG, der auf den pädagogischen Anspruch des Bildungsganges, nicht der jeweiligen Schule abstellt. Die Besonderheiten der jeweiligen Schule sind nach dieser Vorschrift nur im Hinblick auf die räumlichen Verhältnisse von Bedeutung. Dementsprechend sieht auch Ziffer 3 der Richtlinien eine Ausnahme von der Erhöhung der Richtfrequenz um 10% nur für den Fall vor, dass die räumlichen Möglichkeiten die erhöhte Klassengröße nicht zulassen.

Die Klassenstärke von 21 Schülern, die in der ISS Leibnizplatz vorgesehen ist, unterschreitet die nach der Richtlinie für Gesamtschulen fachlich-pädagogisch vertretbare obere Aufnahmegrenze von 24 bzw. 25 Schülern deutlich. Sie liegt überdies unter der Richtfrequenz von 22 (für vor dem 01.08.2004 eingerichtete Gesamtschulen) bzw. von 25 (für nach dem 31.07.2004 eingerichtete Gesamtschulen). Mit Rücksicht auf das in § 6 Abs. 4 S. 1 BremSchVwG eingeräumte Wahlrecht der Eltern ist eine solche Unterschreitung nur zulässig, wenn die räumlichen Verhältnisse in der betreffenden Schule eine entsprechend verminderte Klassenstärke unabweisbar machen. Für das Vorliegen derartiger räumlicher Verhältnisse trifft die Schulbehörde die Darlegungslast.

Nach dem Akteninhalt kann nicht angenommen werden, dass der Aufnahme eines weiteren Schülers, die in einem der 4 Klassenverbände die Klassenstärke von 21 auf 22 erhöht, zwingende räumliche Gründe entgegenstehen. Vor dem Oberverwaltungsgericht verfolgt nur noch einer der ursprünglich 5 Schüler das Begehren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der Aufnahme in die ISS Leibnizplatz weiter.

Soweit die Antragsgegnerin auf die geringe Raumgröße der naturwissenschaftlichen Fachräume in der ISS Leibnizplatz Bezug nimmt, ist zunächst zu berücksichtigen, dass diese Fachräume erst von den Jahrgangsstufen 7 - 10 genutzt werden. Hier geht es aber um die Aufnahme in die Jahrgangsstufe 5. Ob insoweit ein "Schülerschwund" bis zur Jahrgangsstufe 7 in Rechnung gestellt werden kann, mag hier dahinstehen. Denn jedenfalls finden zur Zeit nicht unerhebliche Umbaumaßnahmen an der ISS Leibnizplatz statt. Dadurch ändert sich die Raumsituation an der Schule. Dass sich eine solche Umbaumaßnahme nicht kapazitätserhöhend auswirken soll, wie die Antragsgegnerin vor dem Verwaltungsgericht ausgeführt hat, erscheint dem Oberverwaltungsgericht nicht nachvollziehbar. Unabhängig von diesen Umbaumaßnahmen weisen die Antragsteller zutreffend darauf hin, dass der von der Antragsgegnerin angenommenen Obergrenze der betreffenden Fachräume Einschätzungen zugrunde liegen, die in einem vor 10 Jahren, also vor geraumer Zeit, vor dem Verwaltungsgericht geführten Rechtsstreit getroffen wurden . Die Antragsgegnerin hat seitdem ihren Maßstab in Bezug auf die Größe von Schulräumen überprüft. In den einzelnen Schulen finden sich aufgrund der jeweiligen Gegebenheiten durchaus unterschiedliche Raumgrößen, wie dem Oberverwaltungsgericht aus den verschiedenen hier geführten Beschwerdeverfahren bekannt ist. Eine Unterschreitung der Schüler-Richtfrequenz aus Gründen einer zu geringen Raumgröße von Fachräumen kann unter diesen Umständen nur in Betracht kommen, wenn die fehlende Raumkapazität konkret und unter Heranziehung aktueller Vergleichsmaßstäbe belegt ist. Hiervon kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist erforderlich, um wesentliche Nachteile von den Antragstellern abzuwenden. Die Antragsteller würden irreparable Nachteile erleiden, wenn sie den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abwarten müssten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG. Im Hinblick auf die teilweise Vorwegnahme der Hauptsache ist der Regelstreitwert von 5.000,- Euro zugrunde zu legen.

Richterin Feldhusen, die an dem Beschluss mitgewirkt hat, ist wegen Urlaubs gehindert zu unterschreiben.

Ende der Entscheidung

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