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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Urteil verkündet am 16.11.2005
Aktenzeichen: 2 A 111/05
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 27 Abs. 1
SGB VIII § 27 Abs. 2
SGB VIII § 33
SGB VIII § 39
1. Nimmt ein Vormund sein Mündel in die eigene Familie auf, kann ihm Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege zustehen (wie BVerwG, U. v. 15.12.1995 - 5 C 2/94 - = BVerwGE 100, 178 ff.).

2. Ein erzieherischer Bedarf i.S.d. § 27 Abs. 1 und 2 SGB VIII kann sich allein daraus ergeben, dass die alleinerziehende Mutter eines Kindes verstorben ist und niemand vorhanden ist, der an ihrer Stelle die für die Erziehung des Kindes erforderlichen Leistungen erbringt. Es ist nicht erforderlich, dass darüber hinaus auch ein erzieherisches Defizit in der Pflegefamilie vorliegen muss.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Im Namen des Volkes! Urteil

OVG: 2 A 111/05

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 2. Senat - durch die Vorsitzende Richterin Dreger, Richter Nokel und Richter Dr. Grundmann sowie die ehrenamtlichen Richterinnen M. Gröne und I. Ravens aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16.11.2005 für Recht erkannt:

Tenor:

Das aufgrund mündlicher Verhandlung vom 01.10.2004 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen - Einzelrichter der 7. Kammer - wird mit Ausnahme der Entscheidung über die Verfahrenseinstellung aufgehoben.

Die Beklagte wird unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 06.09.2001 und des Widerspruchsbescheides vom 19.02.2001 verpflichtet, den Klägern für das Kind L. für die Zeit vom 22. Januar 2001 bis zum 28. Februar 2002 Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege zu gewähren.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung eines Betrages in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger begehren Leistungen zum Unterhalt eines Kindes, das sie in ihrer Familie aufgenommen haben.

Die klagenden Eheleute nahmen am 30.05.1997 L., geboren 1989 in Oldenburg, in ihre Familie auf. Seit dem 15.07.1997 sind sie zum Vormund von L. bestellt. Die Kläger haben zwei eigene Kinder, die 1986 und 1990 geboren sind.

Am 30.05.1997 war L. Mutter, bei der er zuvor in Oldenburg gelebt hatte, verstorben. L. Vater, der mit der Mutter nicht verheiratet war, lebte von der Mutter getrennt ebenfalls in Oldenburg. Er leistet Unterhalt. L. Mutter ist die Schwester des Klägers zu 2.

Mit Schreiben vom 12.01.2001 - eingegangen am 22.01.2001 - wandten sich die Kläger an das Amt für Soziale Dienste der Beklagten und beantragten finanzielle Unterstützung nach dem KJHG.

Das Amt für Soziale Dienste (AfSD) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 06.09.2001 ab. Leistungen zum Unterhalt eines Kindes oder Jugendlichen nach dem SGB VIII (KJHG) seien nur bei Vorliegen eines (besonderen) erzieherischen Bedarfs zu erbringen, woran es hier fehle.

Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch wies der Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales mit Widerspruchsbescheid vom 19.02.2002 - zugestellt am 25.02.2002 - als unbegründet zurück. Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 1 SGB VIII sei nur gegeben, wenn ein erzieherisches Defizit des Kindes oder Jugendlichen bestehe. Hier hätten die Kläger in einem persönlichen Gespräch am 25.06.2001 mit den Vertretern des Amts für Soziale Dienste erklärt, dass sie keinen besonderen erzieherischen Bedarf bei ihrem Neffen sähen. Eine weitere Nachprüfung sei aus Sicht des Amtes für Soziale Dienste offenkundig nicht angezeigt gewesen.

Am 20.03.2002 haben die Kläger Klage erhoben. Sie haben vorgetragen, die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach dem SGB VIII seien erfüllt. Entscheidend sei, dass nach dem Tod der Mutter des L. die Erziehungsleistungen von den Pflegeeltern erbracht würden. Darauf, ob für L. ein gesteigerter Erziehungsbedarf bestehe, komme es nicht an. Eine (unentgeltliche) Verwandtenpflege, wie sie der Beklagten vorschwebe, komme nicht in Betracht. Eine solche Verwandtenpflege könne nur vorliegen, wenn die Unterbringung des Kindes bei den Verwandten entweder in Übereinstimmung mit den Personensorgeberechtigten (unentgeltlich) durchgeführt werde oder nur kurzfristig geplant sei.

Mit Bescheid vom 09.02.2004 hat die Beklagte den Klägern für die Zeit vom 01.11.2002 bis auf weiteres Pflegegeld in Höhe von 501,54 Euro monatlich gewährt. Daraufhin haben die Beteiligten die Hauptsache insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt.

Hinsichtlich des Zeitraums von Januar 2001 bis Februar 2002 haben die Kläger ihre Klage weiterverfolgt. Sie haben darauf verwiesen, dass der Bedarf an Hilfe zur Erziehung bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung im Januar 2001 bestanden habe und von ihnen befriedigt worden sei.

Die Kläger haben beantragt,

soweit die Hauptsache nicht für erledigt erklärt worden ist, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des AfSD vom 06.09.2001 und des senatorischen Widerspruchsbescheids vom 19.02.2002 zu verpflichten, ihnen - den Klägern - Pflegegeld für ihr Pflegekind L. für die Zeit von Januar 2001 bis Februar 2002 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat betont, erst im November 2002 sei ein Bedarf an Hilfe zur Erziehung geltend gemacht worden, der für die beteiligten Fachkräfte nachvollziehbar gewesen sei.

Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren eingestellt, soweit die Beteiligten die Hauptsache für erledigt erklärt haben. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf Pflegegeld für den in Rede stehenden Zeitraum. Der Umstand, dass L. keine Mutter mehr habe, die seinen Anspruch auf Pflege und Erziehung in eigener Person erfüllen könne, bewirke nicht notwendig, dass sein erzieherischer Bedarf ohne Hilfe zur Erziehung ungedeckt sei. Die erforderliche Betreuung und Erziehung könne auch ohne öffentliche Jugendhilfe z. B. durch einen Verwandten oder Vormund geleistet werden. Ein erzieherischer Bedarf könne in diesen Fällen erst dann entstehen, wenn die Pflegeperson ihre Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege des Kindes zurückziehe und das Pflegekind ernsthaft vor die Alternative stelle, für seine, der Pflegeperson, Entlohnung zu sorgen oder auf deren Betreuungsdienste verzichten zu müssen (BVerwG, U. v. 12.09.1996 = NJW 1997, 2831). Vor diese Alternative hätten die Kläger ihr Pflegekind L. für den hier fraglichen Zeitraum ernsthaft nicht gestellt. Der Antrag der Kläger auf finanzielle Unterstützung vom 12.01.2001 gebe dafür nichts her.

Der Senat hat die Berufung der Kläger gegen dieses Urteil mit Beschluss vom 07.04.2005 zugelassen.

Zur Begründung ihrer Berufung führen die Kläger aus, die vom Verwaltungsgericht zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (U. v. 12.09.1996, a. a. O.) sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig. In jenem Fall sei ein Erziehungsbedarf des Kindes verneint worden, weil dieser Bedarf von der personensorgeberechtigten Mutter sichergestellt worden sei. Sie habe das Kind von den Großeltern in deren Wohnbereich erziehen lassen. Im vorliegenden Fall sei es dagegen so, dass die Mutter gestorben sei und das Kind nicht mehr erziehen könne. Hier habe von Anfang an ein besonderer erzieherischer Bedarf bestanden, der von den Klägern befriedigt worden sei. Die Kläger hätten eine Notlage beseitigt, in dem sie L. bei sich aufgenommen hätten.

Ein besonderer erzieherischer Bedarf ergebe sich auch daraus, dass L. auf tragische Weise (durch einen Gehirntumor) seine Mutter verloren und deren Sterben eine lange Zeit habe erleben müssen. Die Beklagte habe den besonderen erzieherischen Bedarf selbst anerkannt, indem sie die beantragte Hilfe ab dem 01.11.2002 bewilligt habe. Für eine unterschiedliche Bewertung der Zeit vor dem 01.11.2002 gebe es keine anzuerkennenden Gründe.

Die Kläger haben ferner eine Bescheinigung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin B. vom 29.08.2005 vorgelegt, die danach L. in der Zeit von September 1999 bis Ende Juli 2000 sowie im Jahre 2002 psychotherapeutisch behandelt hat. Nach Ansicht der Kläger ergibt sich aus dieser Bescheinigung, dass L. auch im umstrittenen Zeitraum einen besonderen erzieherischen Bedarf gehabt habe.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen zum Aktenzeichen 7 K 572/02 vom 01. Oktober 2004 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 06. September 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Februar 2002 zu verpflichten, den Klägern Pflegegeld für ihr Pflegekind L. für die Zeit vom 22. Januar 2001 bis zum 28. Februar 2002 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Den Klägern stehe ein Anspruch auf Pflegegeld für den noch streitigen Zeitraum nicht zu. Entgegen der Auffassung der Kläger mache es im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs auf Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII keinen Unterschied, ob die Herkunftsfamilie des Jugendlichen noch vorhanden sei oder nicht. Die Kläger seien sowohl Vormünder als auch Verwandte des Klägers. Solange sie den erzieherischen Bedarf des L. unentgeltlich deckten, scheitere nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Anspruch auf öffentliche Jugendhilfe am fehlenden Bedarf. Die Kläger hätten mit ihrem Antrag vom 12.01.2001 nicht zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege zurückziehen wollten, sie hätten lediglich mit der finanziellen Belastung durch die Betreuung des Pflegekindes argumentiert.

Ein Anspruch auf Hilfe nach § 39 SGB VIII i. V. m. §§ 27, 33 SGB VIII komme nur in Betracht, wenn die Betreuungsleistungen der Pflegeeltern zur Deckung des erzieherischen Bedarfs des Jugendlichen nicht - mehr - ausreichten. Voraussetzung für Jugendhilfeleistungen sei, dass ein erzieherisches Defizit in der Pflegefamilie weiter bestehe oder neu entstehe. Ein solcher besonderer erzieherischer Bedarf habe sich bei L. erst in der Zeit ab November 2002 gezeigt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beklagten wird auf deren im Berufungsverfahren eingereichte Schriftsätze vom 11.02.2005, 27.06.2005 und 22.09.2005 Bezug genommen.

Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte - einschließlich der Sitzungsniederschrift vom 16.11.2005 - verwiesen. Die das Kind L. betreffende Akte des Amtes für Soziale Dienste hat dem Senat vorgelegen. Der Inhalt der Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung, soweit er im Urteil verwertet worden ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet. Die Kläger haben einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege auch für die Zeit vom 22. Januar 2001 bis zum 28. Februar 2002.

1.

Anspruchsgrundlage ist § 39 SGB VIII i. V. m. §§ 27 Abs. 1 und 2, 33 SGB VIII.

Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Die Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt (§ 27 Abs. 2 S. 1 SGB VIII). Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall (§ 27 Abs. 2 S. 2 SGB VIII). Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten (§ 33 S. 1 SGB VIII). Im Rahmen dieser Hilfe ist auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen, der auch die Kosten der Erziehung umfaßt (§ 39 Abs. 1 SGB VIII).

2.

Der Anspruch aus § 39 SGB VIII i. V. m. §§ 27 Abs. 1 und 2, 33 SGB VIII steht als "Annex-Anspruch" zum Anspruch auf Hilfe zur Erziehung dem Personensorgeberechtigten (hier den Klägern als Vormund, vgl. § 1793 BGB), nicht aber dem Kind oder dem Jugendlichen als dem auf Unterhalt Angewiesenen zu (vgl. BVerwG, U. v. 12.09.1996 - 5 C 31/95 - = FEVS 47, 433 - 440).

3.

Die Hilfe zur Erziehung setzt nach § 27 SGB VIII allgemein und damit auch für die Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII voraus, dass eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Es muss ein ungedeckter erzieherischer Bedarf bestehen (§ 27 Abs. 2 S. 2 SGB VIII; vgl. auch BVerwG, U. v. 15.12.1995 - 5 C 2/94 - = BVerwGE 100, 178 ff.).

Der Umstand, dass ein Kind keine Herkunftsfamilie mehr hat, bewirkt - wie die Beklagte zu Recht ausführt - nicht notwendig, dass sein erzieherischer Bedarf ohne Hilfe zur Erziehung ungedeckt ist. Die erforderliche Betreuung eines minderjährigen Waisen kann auch ohne öffentliche Jugendhilfe z. B. durch einen Vormund oder Pfleger (vgl. § 44 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB VIII) oder einen Verwandten oder Verschwägerten (vgl. § 44 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB VIII) geleistet werden (vgl. BVerwG, U. v. 15.12.1995, a. a. O.).

Nach § 1793 BGB haben die Kläger als Vormund das Recht und die Pflicht, für die Person ihres Mündels zu sorgen. Die Personensorge umfaßt nach §§ 1800, 1631 Abs. 1 BGB insbesondere die Pflicht und das Recht, den Mündel zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. Nach § 1836 Abs. 1 S. 1 BGB wird die Vormundschaft unentgeltlich geführt.

Aus § 1836 Abs. 1 S. 1 BGB kann nicht gefolgert werden, die Kläger seien im Rahmen der Personensorge als Vormund verpflichtet, die Erziehung ihres Mündels L. unentgeltlich selbst zu übernehmen. Nach allgemeiner Meinung ist ein Vormund nach §§ 1793, 1800, 1631 Abs. 1 BGB zwar verpflichtet, für die Person seines Mündels und damit für seine Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung zu sorgen. Er ist aber nicht verpflichtet, die tatsächliche Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung selbst auszuführen. Nimmt er den Mündel in seine Familie auf, kann auch dem Vormund Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege zustehen (vgl. BVerwG, U. v. 15.12.1995, a. a. O.).

Dass die Kläger zur Betreuung von L. geeignet sind, wird auch von der Beklagten nicht bezweifelt.

Die Kläger haben mit ihrem Antrag vom 22.01.2001 auch hinreichend deutlich gemacht, dass sie nicht bereit sind, die tatsächliche Betreuung von L. (weiterhin) im Rahmen der Personensorge als Vormund unentgeltlich zu erbringen. Sie haben ausdrücklich "finanzielle Unterstützung nach dem KJHG" für ihren Pflegesohn L. beantragt und im einzelnen näher ausgeführt, weshalb die monatlichen finanziellen Aufwendungen für L. ihnen finanzielle Nachteile bringen und sie an ihre "finanziellen Grenzen" führen.

Soweit das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.09.1996 (5 C 31/95 = NJW 1997, 2831 f.) ausgeführt hat, ein erzieherischer Bedarf könne erst entstehen, wenn die Pflegeperson ihre Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege des Kindes zurückziehe und das Pflegekind ernsthaft vor die Alternative stelle, für seine, der Pflegeperson, Entlohnung zu sorgen oder auf seine Betreuungsdienste verzichten zu müssen (vgl. Seite 5 des Urteils), woran es hier fehle, kann dem nicht gefolgt werden. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.09.1996 betrifft einen Fall, in dem ein Enkelkind bei den Großeltern untergebracht war. Es handelt sich bei Großeltern um Verwandte in gerader Linie, die gegenüber ihren Enkelkindern zum Unterhalt verpflichtet sind (vgl. §§ 1601, 1602 BGB). Bei Großeltern kann die Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege der Enkelkinder nach der Lebenserfahrung aufgrund der engen familiären Verbundenheit regelmäßig erwartet werden (vgl. BVerwG, U. v. 04.09.1997 - 5 C 11/96 - = FEVS 48, 289 ff.). Deshalb mögen in diesen Fällen besonders strenge Voraussetzungen an den Nachweis der - ausnahmsweise - fehlenden Bereitschaft zur unentgeltlichen Betreuung der Enkelkinder zu stellen sein. Eine vergleichbar enge Verbundenheit ist jedoch nicht zwischen Onkel und Neffen gegeben. In diesem entfernteren Verwandtschaftsverhältnis besteht keine Unterhaltspflicht mehr und kann auch nach der Lebenserfahrung die Bereitschaft zur unentgeltlichen Betreuung nicht als Regelfall angenommen werden. Hinzu kommt im vorliegenden (Einzel-) Fall noch, dass die Kläger nach ihrer glaubhaften Erklärung vor dem Senat der Mutter des L. versprochen hatten, das Kind nach dem Tode der Mutter bei sich aufzunehmen. Auch angesichts dieses Versprechens kann von den Klägern nicht verlangt werden, dass sie, um Hilfe zur Erziehung zu erhalten, L. vor die Alternative stellen, entweder für eine Entlohnung zu sorgen oder auf die Betreuungsdienste der Kläger verzichten zu müssen. Die fehlende Bereitschaft der Kläger zur unentgeltlichen Betreuung von L. ist vielmehr zu bejahen, weil die Kläger - (insbesondere) in ihrem Antrag vom 22.01.2001 - glaubhaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht haben, dass sie nicht länger bereit sind, die Betreuung von L. unentgeltlich zu erbringen, sondern die im SGB VIII gesetzlich vorgesehenen Leistungen begehren.

4.

Bestand seit dem Zeitpunkt, in dem die Kläger zum Ausdruck gebracht haben, dass sie zur unentgeltlichen Betreuung von L. nicht länger bereits sind (Antrag vom 22.01.2001), ein ungedeckter erzieherischer Bedarf für L., so ist den Klägern dafür, dass sie diesen erzieherischen Bedarf abdecken, die beantragte Hilfe zu gewähren. Es ist nicht erforderlich, dass darüber hinaus - wie die Beklagte meint - auch ein erzieherisches Defizit in der Pflegefamilie festgestellt werden muss. Zwar mag ein erzieherischer Bedarf i.S.d. § 27 Abs. 1 und 2 SGB VIII sich zumeist daraus ergeben, dass ein Kind oder Jugendlicher wegen eines erzieherischen Defizits in seiner Familie Hilfe benötigt. Ein erzieherischer Bedarf kann jedoch auch allein daraus entstehen, dass - wie hier - die alleinerziehende Mutter eines Kindes verstorben ist und niemand vorhanden ist, der an ihrer Stelle aufgrund gesetzlicher Unterhaltsverpflichtung oder freiwilliger Bereitschaft die für die Erziehung des Kindes erforderlichen Leistungen (unentgeltlich) erbringt (vgl. auch OVG Lüneburg, B. v. 25.08.1992 - 4 M 3647/92 - = FEVS 43, 157; das Urteil des BVerwG v. 15.12.1995, a. a. O., betrifft einen Fall, in dem ein Vormund verwaiste Geschwister in seine Familie aufgenommen hatte; auch dort wird für die Hilfe in Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII kein "Erziehungsdefizit" in der Pflegefamilie verlangt).

5.

Im Übrigen ist der Senat davon überzeugt, dass bei L. im hier fraglichen Zeitraum (22.01.2001 bis 28.02.2002) ein erzieherisches Defizit in der Pflegefamilie vorlag.

L. war in jungen Jahren ganz erheblichen Belastungen ausgesetzt. Im Alter von 3 Jahren trennten sich seine Eltern. Danach lebte er bei seiner alleinerziehenden Mutter in Oldenburg. Als L. 7 1/2 Jahre alt war, erkrankte seine Mutter an einem unheilbaren Gehirntumor. Eine palliativ durchgeführte Operation ermöglichte es L. und seiner Mutter, noch 9 Monate gemeinsam in einer Wohnung zu verbringen. Danach kam L. in die Familie des Onkels nach Bremen.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Erziehung und Betreuung von L. in der Familie der Kläger mit nicht unerheblichen Problemen verbunden war und ist. Es mag sein, dass die Kläger in einem persönlichen Gespräch am 25.06.2001 mit Vertretern des Amtes für Soziale Dienste den besonderen erzieherischen Bedarf von L. nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Inzwischen haben sie jedoch (weitere) fachkundige Beratung über die Probleme, die L. betreffen, eingeholt und sind nach ihrem Vorbringen vor dem Senat zu der Überzeugung gelangt, dass bei L. ein erhöhter erzieherischer Bedarf schon seit Aufnahme in ihre Familie bestand. Das nimmt ihnen der Senat vor dem Hintergrund der Erlebnisse, die L. vor der Aufnahme in ihre Familie zu verkraften hatte und nach dem Eindruck aus der mündlichen Verhandlung, ab. Bestätigt wird die Einschätzung der Kläger dadurch, dass sie zur Bewältigung der Probleme mit L. wiederholt fachkundige Hilfe hinzugezogen haben. So haben sie vor dem Senat glaubhaft vorgetragen, ihnen sei aufgefallen, dass L. depressive Züge hat und sie hätten deshalb einen Kinderarzt aufgesucht, der Heileurhythmie vorgeschlagen habe. L. habe dann 1998 25 Stunden Heileurhythmie - verteilt über ca. ein 3/4 Jahr - erhalten, die von der Krankenkasse bezahlt worden seien.

Weiter haben die Kläger eine Stellungnahme der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin B. vom 29.08.2005 vorgelegt, in der die Therapeutin ausführt, L. sei bei ihr von September 1999 bis Ende Juli 2000 in psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Im Jahre 2002 sei er nochmals zu ihr so ca. 10 Stunden gekommen, um seine Situation innerhalb der Pflegefamilie weiter zu klären. Mit den Pflegeeltern habe es in diesem Zeitraum begleitende Psychotherapie in Form von Elterngesprächen gegeben.

An der erwähnten wiederholten Hinzuziehung von fachkundiger Hilfe wird deutlich, dass die Betreuungsprobleme mit L. in der Pflegefamilie gravierend waren und über einen längeren Zeitraum andauerten. Dieser Zeitraum umfasst auch den hier streitigen Zeitabschnitt vom 22.01.2001 bis zum 28.02.2002. Nachvollziehbare Gründe, die die Annahme sachgerecht erscheinen lassen könnten, in diesem Zeitabschnitt habe bei L. kein besonderer erzieherischer Bedarf vorgelegen, vermag der Senat nicht zu erkennen. Sie ergeben sich insbesondere auch nicht aus dem Bericht der Pflegekinder in Bremen GmbH (PiB; Berichterstatterin Frau B.) vom 30.04.2003 oder dem Hilfeplan des Amtes für Soziale Dienste vom 15.12.2003, die Grundlage der Bewilligung von Hilfe zur Erziehung an die Kläger waren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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