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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Urteil verkündet am 01.06.2005
Aktenzeichen: 2 A 225/04
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 86 Abs. 1
SGB VIII § 86 Abs. 6
SGB VIII § 89 a Abs. 1
SGB VIII § 89 a Abs. 3
SGB VIII § 89 e
1. Zur Frage, ob die Selbsthilfeeinrichtungen "Elrond" und "Bremer Hilfe zur Selbsthilfe" geschütze Einrichtungen i.S.v. § 89 e SGB VIII sind.

2. § 89 e SGB VIII bezweckt einen lückenlosen Schutz der Einrichtungsorte, um zu verhindern, dass kommunale Gebietskörperschaften, in deren Einzugsbereich sich Einrichtungen befinden, in denen Kinder, Jugendliche oder ihre Eltern einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, im Verhältnis zu kommunalen Gebietskörperschaften ohne eine solche Infrastruktur überproportional belastet werden.

3. Die Aufenthaltszwecke des § 89 e SGB VIII können in "sonstigen Wohnformen" i.S. d. § 89 e SGB VIII, namentlich in Selbsthilfeeinrichtungen, auch ohne angestelltes Fachpersonal erfüllt sein. Erforderlich ist jedoch, dass das Wohnprojekt von einem schlüssigen Konzept getragen wird, dass den in der Vorschrift genannten Aufenthaltszwecken dient, und dessen Umsetzung gewährleistet ist.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Im Namen des Volkes! Urteil

OVG: 2 A 225/04

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 2. Senat - durch Richterin Dreger, Richter Nokel und Richter Dr. Grundmann am 01.06.2005 ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 09.05.2003 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beigeladene darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht der jeweils Vollstreckende vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten, die für Leistungen nach dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) aufgewandt worden sind.

Die 1990 geborene Hilfeempfängerin S. P. ist die nicht eheliche Tochter drogenabhängiger Eltern. Sie kam 1992 zu ihrer damals in Husum/Schleswig Holstein lebenden Tante in Vollzeitpflege. 1994 verzog sie mit ihrer Tante nach Flensburg.

1996 ordnete das AG Flensburg das Ruhen der elterlichen Sorge der vorher allein sorgeberechtigten Kindesmutter an und bestellte das Stadtjugendamt Flensburg zum Vormund für das Kind. Im Februar 1996 erkannte die Klägerin nach § 86 Abs.6 SGB VIII ihre örtliche Zuständigkeit für die der Hilfeempfängerin zu gewährenden Jugendhilfeleistungen an. Die Kosten wurden der Klägerin gemäß § 89 a Abs.1 SGB VIII von der Beigeladenen erstattet.

Im Juni 1996 verstarb die Kindesmutter.

Am 3.11.1997 verzog der bis dahin in Oldenburg wohnhafte Kindesvater nach Bremen in die Einrichtung "Elrond Freier Förderkreis zur Selbsthilfe ehemals Drogenabhängiger e.V." (im Folgenden: "Elrond"). Dort hielt er sich bis zum 15.02.2000 in verschiedenen Häusern auf. Danach wechselte er in Einrichtungen der "Bremer Hilfe zur Selbsthilfe e.V:" (im Folgenden "Bremer Selbsthilfe") in Bremen. Am 15.04.2001 verzog er nach Flensburg.

Mit Schreiben vom 15.11.1999 / 29.11.2000 forderte die Klägerin die Beklagte auf, ab dem 27.11.1997 gemäß § 89 a SGB VIII die Kosten der Jugendhilfe zu übernehmen.

Die Beklagte - Amt für Soziale Dienste Nord - Wirtschaftliche Jugendhilfe - lehnte dies mit Schreiben vom 08.12.2000 ab. Sie sei gemäß § 89 a i.V.m. § 89 e SGB VIII nicht zur Kostenerstattung verpflichtet, weil es sich bei den Einrichtungen "Elrond" und "Bremer Selbsthilfe" um geschützte Einrichtungsorte handele und sich deshalb die Zuständigkeit für die Hilfegewährung weiterhin nach dem früheren gewöhnlichen Aufenthalt des Kindesvaters richte.

Mit Schreiben vom 13.12.2000 forderte die Klägerin sodann die Beigeladene auf, die Kosten zu erstatten. Diese teilte mit Schreiben vom 09.02.2001 mit, dass sie ihre Kostenerstattungspflicht nicht anerkenne.

Die Klägerin hat am 06.09.2001 beim Verwaltungsgericht Bremen Klage erhoben: Die fraglichen Einrichtungen seien keine geschützten Einrichtungen i.S. des § 89 e SGB VIII. In der Zeit vom 27.11.1997 bis zum 15.04.2001 seien für die Hilfeempfängerin für Vollzeitpflege insgesamt 45.536,75 DM aufgewandt worden, die die Beklagte zu erstatten habe.

Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, 45.536,75 DM an sie zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat ergänzend zu ihrem Vorbringen im Verwaltungsverfahren ausgeführt: "Elrond" und die "Bremer Selbsthilfe" seien Therapieeinrichtungen für Drogenabhängige. Sie unterfielen als solche dem Kreis der in § 89 e SGB VIII aufgeführten sonstigen Wohnformen, der weitergehend als der nach § 97 BSHG sei. Die Einrichtungen seien auch von Strafgerichten als Therapie anbietende Träger i.S. von § 35 BtMG anerkannt. Zudem schließe die Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 5 SGB VIII eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten aus. Für die Zeit vor dem 18.11.1998 sei der Erstattungsanspruch wegen der Ausschlussfrist des § 111 SGB X ausgeschlossen. Der Anspruch sei insoweit verspätet geltend gemacht worden.

Die Beigeladene hat sich dem Antrag der Klägerin angeschlossen. "Elrond" sei keine Therapieeinrichtung sondern eine selbständige Wohngruppe, in der die Bewohner selbst Lösungen für ihr Suchtproblem erarbeiteten und die den Anforderungen an eine Einrichtung i.S. von § 89 e SGB VIII nicht genüge.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 09.05.2003 abgewiesen: Aus § 89 a SGB VIII, der als Rechtsgrundlage allein in Betracht komme, sei ein Kostenerstattungsanspruch nicht begründet. Die Klägerin habe aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs.6 SGB VIII Kosten aufgewandt, die von der Beigeladenen als der zuvor zuständigen örtlichen Trägerin zu erstatten seien. Die Kostenerstattungspflicht sei nicht nach § 89 Abs.3 SGB VIII mit dem Umzug des Kindsvaters nach Bremen und seine Aufnahme in "Elrond" auf die Beklagte übergegangen. Zwar wäre ohne die Regelung des § 86 Abs.6 SGB VIII gemäß § 86 Abs.1 S.3 SGB VIII die Beklagte für die Gewährung der Jugendhilfeleistungen örtlich zuständig geworden, da der Kindesvater als allein noch lebender Elternteil mit dem Umzug nach Bremen dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe. Dem Zuständigkeitswechsel stehe jedoch § 89 e SGB VIII entgegen, der den Schutz der Einrichtungsorte bezwecke. Die Einrichtungen "Elrond" und "Bremer Selbsthilfe" seien als sonstige Wohnformen zu qualifizieren, die der Behandlung der Drogensucht dienten.

Der Senat hat mit Beschluss vom 19.07.2004 auf den Antrag der Beigeladenen die Berufung gegen das Urteil zugelassen.

Die Beigeladene hat die Berufung mit Schriftsatz vom 04.08.2004 - bei Gericht eingegangen am 09.08.2004 - begründet:

Sie sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht der zur Kostenerstattung verpflichtete Träger. § 89 e SGB VIII sei nicht erfüllt, so dass sich die Beklagte auf den Schutz der Einrichtungsorte nicht berufen könne. "Elrond" könne nicht als Wohnform qualifiziert werden, die der Behandlung der Drogensucht diene. Die Auslegung der Vorschrift sei durch ihren Wortlaut begrenzt. Auch wenn man das Wohnen im Elrond - Projekt unter den Begriff der sonstigen Wohnform fasse, diene diese nicht der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug. Diesen Begriffen sei eine intensive gesteuerte Einwirkung auf die betreffende Person gemeinsam. Während Erziehung und Betreuung pädagogische Maßnahmen seien, erfordere die Behandlung i.S.d. § 89 e SGB VIII offensichtlich eine medizinische Hilfe im weiteren Sinne. Dies biete "Elrond" nicht. "Elrond" sei keine Therapie-, sondern eine Selbsthilfeeinrichtung, in der sich die Betroffenen selbst eine Struktur geben, gemeinsam Lösungen für die Suchtprobleme erarbeiteten und wo ihnen ein sicheres Zuhause auf unbegrenzte Zeit gewährt werde. "Elrond" unterscheide sich damit nicht von Wohngemeinschaften, in der die Mitglieder sich gegenseitig bei der Bewältigung von bestimmten Ängsten und ähnlichen Problemen des täglichen Lebens helfen. Das Streben, von der Drogensucht loszukommen, sei für sich noch keine Behandlung.

Etwas anderes folge auch nicht daraus, dass "Elrond" eine nach § 35 BtMG anerkannte Rehabilitationsbehandlung sei. Der Begriff der Behandlung sei nach dem Sinn und Zweck des BTMG, erneute Straffälligkeit aufgrund der Drogensucht zu verhindern, offenbar sehr weit gefaßt, so dass auch das bloße Zusammenwohnen, wenn es der Verhinderung weiterer Straftaten diene, darunter falle. Dass bei "Elrond" auch ein Entzug, d.h. eine BTMG-Behandlung erfolge, werde mit Nichtwissen bestritten.

Die Berufungsklägerin und Beigeladene beantragt,

1. das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen vom 09.05.2003 aufzuheben und der Klage der Stadt Flensburg stattzugeben;

2. hilfsweise,

festzustellen, dass sich die Beklagte entgegen der Rechtsansicht der Klägerin und der Beigeladenen nicht auf den Schutz des § 89 e SGB VIII mit der Begründung berufen kann, die Einrichtung "Elrond" sei eine geschützte Einrichtung i.S. des § 89 e SGB VIII.

Die Klägerin folgt der Auffassung der Beigeladenen und macht sich deren Ausführungen zu eigen, ohne einen eigenen förmlichen Antrag zu stellen: "Elrond" sei keine der Behandlung dienende Wohnform, sondern eine selbst organisierte Wohngemeinschaft, die von Dritten, nicht zur Gemeinschaft zählenden Personen unabhängig sei und in der die Mitglieder überwiegend eigenverantwortlich entschieden. Der Begriff der Behandlung umfasse eine aktive medizinische Hilfe, an der es fehle. Das Streben vom Loskommen von der Drogensucht sei keine Behandlung i.S. der Vorschrift.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist im Wesentlichen auf ihren bisherigen Vortrag und die Begründung des erstinstanzlichen Urteils, das sie für zutreffend hält.

Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, dass sie mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 101 Abs.2 VwGO einverstanden sind.

Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Jugendhilfeakten der Klägerin und der Beigeladenen, sowie auf die Sozialhilfeakten der Beklagten betr. den Kindesvater verwiesen. Ihr Inhalt war Gegenstand der Beratung, soweit er in diesem Urteil verwertet worden ist.

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung ist mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 101 Abs.2 VwGO).

Die (zugelassene) Berufung der Beigeladenen ist statthaft.

Nach § 66 Abs.1 VwGO kann der einfach Beigeladene innerhalb der Anträge eines Beteiligten selbständig Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend machen und alle Verfahrenshandlungen wirksam vornehmen. Dies umfaßt die Befugnis, Rechtsmittel einzulegen.

Die Berufung ist jedoch unbegründet.

1.

Antrag, unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils der Klage stattzugeben

Die Beigeladene besitzt für die Unterstützung dieses Antrags mittels Berufung ein eigenes Rechtsschutzinteresse.

Im Falle einer einfachen Beiladung i.S. von § 65 Abs.1 VwGO setzt der Erfolg eines Rechtsmittels des Beigeladenen voraus, dass ihn das angefochtene Urteil materiell beschwert, d.h. eigene subjektive Rechte des Beigeladenen verletzen kann (BVerwG, B.v. 05.03.1998 - 4 B 153/97 - NvwZ 1998,842 mwN.; OVG Münster, U.v. 09.12.1997 - 15 A 974/97, NVwZ-RR 1999,136;VGH München, B.v. 21.08.1997 - 4 ZB 97,1894; Kopp/Schenke (13.), § 66 Rnd 4). Dieser Grundsatz gilt allgemein. Er gilt auch für das Rechtsmittelverfahren, und er gilt insbesondere auch für einen Beigeladenen, wenn er allein das Rechtsmittel eingelegt hat ( st. Rspr. des BVerwG, aaO.). Für den Fall der Abweisung einer auf Kostenerstattung gerichteten Leistungsklage bedeutet das, dass das Rechtsmittel des Beigeladenen nur erfolgreich sein kann, wenn er durch die Klagabweisung in eigenen subjektiven Rechten verletzt sein kann. So liegt es hier.

Zwar ist hinsichtlich des geltend gemachten Erstattungsanspruches ausschließlich die Klägerin aktivlegitimiert. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch anerkannt (BVerwG aaO. mNw.), dass eine Verletzung von subjektiven Rechten auch in der Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten des Beigeladenen in einem nachfolgenden Prozess liegen kann (BVerwGE 64,67 [70] 0 NJW 1982,951 [953]; BVerwGE 77,102 [106] = NVwZ 1987,970). Voraussetzung dafür ist, dass ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen Kläger und Beigeladenem besteht, für das die verwaltungsgerichtliche Entscheidung präjudizierend sein kann. Davon ist hier schon deshalb auszugehen, weil die Beigeladene - wie noch dargestellt wird - der Klägerin anstelle der Beklagten aus demselben Rechtsgrund und in demselben Umfang zur Kostenerstattung verpflichtet ist, wenn die Vorschrift des § 89 e SGB VIII über den Schutz der Einrichtungsorte - wie erstinstanzlich entschieden - zugunsten der Beklagten eingreift. Dementsprechend hat die Klägerin die Beigeladene - dem Ausgang dieses Verfahrens vorgreifend - bereits mit Schreiben vom 03.06.2003 zur Überweisung des mit der Klage zunächst von der Beklagten geforderten Erstattungsbetrages aufgefordert. Mit der Rechtskraft des klagabweisenden Urteils stünde zwischen den Prozeßbeteiligten gemäß §§ 121, 63 Nr.3 VwGO nicht nur fest, dass die Klägerin gegenüber der Beklagten keinen Erstattungsanspruch hat, sondern auch, dass die Beigeladene - greift § 89 e SGB VIII zugunsten der Beklagten ein - als örtlicher Träger in dessen Bereich die Person ( hier: Vater der Hilfeempfängerin) vor der Aufnahme in eine Einrichtung den gewöhnlichen Aufenthalt hatte - erstattungsverpflichtet ist. Zwar erfaßt die materielle Rechtskraft nur die Entscheidung über den Streitgegenstand, d.h. bei Abweisung einer Leistungsklage das Nichtbestehen des Leistungsanspruchs. Bei klagabweisenden Urteilen sind zur Bestimmung des Umfangs der materiellen Rechtskraft aber auch die maßgeblichen Rechtsvorschriften und die diesbezüglichen Entscheidungsgründe heranzuziehen (Kopp/Schenke (13) § 121 Rnd 18). Die Feststellungen zu § 89 e SGB VIII nehmen hier deshalb an der materiellen Rechtskraft teil, weil sich die Klagabweisung darauf entscheidungserheblich stützt. Daraus folgt, dass der Ausgang dieses Rechtsstreits - unterstellt, die Klägerin unterliegt - einen möglichen Folgerechtsstreit zwischen der Klägerin und der Beigeladenen über die Erstattung der fraglichen Kosten in dem Sinne präjudiziert, dass die Beigeladene sich wegen der bestehenden Rechtskraftwirkung nicht mehr darauf berufen kann, dass ein Schutz der Einrichtungsorte nach § 89 e SGB VIII zugunsten der Beklagten nicht besteht.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage jedoch zu Recht abgewiesen.

Die Klägerin steht der gegen die Beklagte geltend gemacht Zahlungsanspruch nicht zu. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin die in der Zeit vom 27.11.1997 bis zum 15.04.2001 für die Hilfeempfängerin erbrachten Jugendhilfeleistungen zu erstatten.

Nach §§ 89 a Abs.1 u. 3, 86 Abs.6, 86 Abs.1 S.3 SGB VIII, die als Rechtsgrundlage für den Zahlungsanspruch allein in Betracht kommen, kann die Klägerin die Erstattung der aufgewandten Kosten zwar grundsätzlich verlangen, die Beklagte ist nach § 89 e SGB VIII aber insoweit nicht erstattungspflichtiger Anspruchsgegner. Im einzelnen gilt Folgendes:

Nach § 89 a Abs.1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs.6 SGB VIII aufgewandt hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre. Ändert sich während der Gewährung der Leistung der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs.1 bis 5 SGB VIII maßgebliche Aufenthalt, so wird nach § 89 a Abs.3 SGB VIII der örtliche Träger kostenerstattungspflichtig, der ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII örtlich zuständig geworden wäre.

Die Klägerin ist unstreitig seit Februar 1996 (Anerkennung der örtlichen Zuständigkeit) nach § 86 Abs.6 SGB VIII zuständiger örtlicher Träger. Zur Erstattung der im fraglichen Zeitraum für die Hilfeempfängerin aufgewandten Leistungen, ist deshalb der örtliche Träger verpflichtet, der - ohne Rücksicht auf die Zuständigkeit des § 86 Abs.6 - mit dem Umzug des Vaters der Hilfeempfängerin nach Bremen örtlich zuständig geworden wäre oder wenn dadurch ein Wechsel der Zuständigkeit nicht stattfindet, zuvor zuständig gewesen war bzw. gewesen wäre.

In diesem Fall wäre zumindest nach dem Tod der Mutter der Hilfeempfängerin im Juni 1996 gemäß § 86 Abs.1 S.3 SGB VIII die örtliche Zuständigkeit der Beigeladenen begründet worden, da der Kindesvater als alleinlebender Elternteil im Bereich der Beigeladenen seinen gewöhnlichen Aufenthalt (vgl. § 30 Abs.3 S.2 SGB I) hatte. Ob dem Elternteil die Personensorge zusteht oder zugestanden hat oder sonst Kontakte zu dem Kind bestehen, ist dafür unerheblich, sofern nur - wie hier - die Vaterschaft für das nichteheliche Kind festgestellt ist. Die Zuständigkeit löst auch eine etwa zuvor nach § 86 Abs.5 SGB VIII begründete Zuständigkeit der Beigeladenen, deren Voraussetzungen durch das Ableben der Mutter nicht mehr vorliegen, ab (OVG Schleswig, U.v. 28.03.2001 - 2 L 68/01 , ZfSH/SGB 2001,482 ff = FEVS 53,25 ff). § 86 SGB VIII geht, wie das Verwaltungsgericht zutreffend hervorgehoben hat, im Grundsatz von "wandernden Zuständigkeiten" bei Änderung der Lebensverhältnisse der Eltern bzw. des maßgebenden Elternteils aus. Damit soll der enge Kontakt zwischen Eltern und dem verantwortlichen Jugendamt gewährleistet werden (vgl. Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe (2.), § 86 Rn.8; Schelllhorn, SGB VIII (2.) § 89a Rnd 9). Nach Versterben eines Elternsteils bestimmt sich deshalb - sieht man von der Ausnahme des § 86 Abs.6 SGB VIII ab - die örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs.1 S.3 SGB VIII nach dem jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt des allein noch lebenden Elternteils.

Mit dem Umzug des Kindesvaters am 13.11.1997 nach Bremen und dessen Aufnahme in das dortige Elrond - Projekt hat dieser im Bereich der Beklagten einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Dieser Aufenthalt führt abweichend von der Regelung des § 86 Abs.1 S.3 SGB VIII jedoch nach § 89 e Abs.1 SGB VIII n i c h t zu einem Übergang der Erstattungspflicht auf die Beklagte.

§ 89 e Abs.1 SGB VIII lautet:

"Richtet sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern, eines Elternteils, des Kindes oder des Jugendlichen und ist dieser in einer Einrichtung, einer anderen Familie oder sonstigen Wohnform begründet worden, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient, so ist der örtliche Träger zur Erstattung der Kosten verpflichtet, in dessen Bereich die Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung, eine andere Familie oder sonstige Wohnform den gewöhnlichen Aufenthalt hatte."

Die Anwendung der Vorschrift ist nach ihrem Wortlaut auf Fälle beschränkt, in denen sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern, eines Elternteils, des Kindes oder des Jugendlichen, d.h. nach § 86 Abs.1 bis 5 SGB VIII richtet. Die Fälle des § 86 Abs.6 SGB VIII sind nicht erfaßt, da sich dort die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson richtet (Wiesner, SGB VIII § 89 e Rn 2). Um Letztere geht es im Rahmen der Prüfung nach § 89 a Abs.3 SGB VIII aber nicht. Infrage steht vielmehr die hypothetische Bestimmung des ohne die Anwendung des § 86 Abs.6 SGB VIII nach § 86 Abs.1 bis 5 SGB zuständigen örtlichen (und damit erstattungspflichtigen) Trägers, die sich hier nicht nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson, sondern nach dem gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils richtet (Hauk/Stähr, SGB VIII K § 89 e Rnd 4; OVG Hamburg, B.v.18.07.2001 - 4 Bf 301/99, FEVS 53,213 ff). Bezogen auf diese Fallkonstellation ist § 89 e SGB VIII unmittelbar anwendbar. Mangels einer Regelungslücke bedarf es dazu entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keiner Analogie.

§ 89 e SGB VIII bezweckt einen umfassenden "Schutz der Einrichtungsorte". Damit soll verhindert werden, dass kommunale Gebietskörperschaften, in deren Einzugsbereich sich Einrichtungen befinden, in denen Kinder, Jugendliche oder ihre Eltern einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, im Verhältnis zu kommunalen Gebietskörperschaften ohne eine solche Infrastruktur überproportional finanziell belastet werden (Begründung des Entwurfs d. Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch, BT-Drucks. 12/2866, S. 25 zu § 89 e SGB VIII). Der Schutz der Einrichtungsorte vor unbilligen Kostenbelastungen hatte in der Jugend- und Sozialhilfe seit jeher einen besonderen Stellenwert und war schon unter Geltung des Jugendwohlfahrtgesetzes über den in § 83 Abs. 1 JWG erfolgten Verweis auf die Kostenerstattungsvorschriften des Bundessozialhilfegesetzes gesetzlich verankert. Der Gesetzgeber hat diesen Schutz hinsichtlich der Unterbringungsformen "Einrichtung" und "sonstige Wohnform" in § 89e SGB VIII aufgenommen, um die Vorhaltung und das Betreiben einer jugendhilferechtlichen Infrastruktur, die überörtlichen Bezug aufweist, kostenerstattungsrechtlich nicht zu hintertreiben (OVG Münster, U.v.07.11.2003 - 12 A 1622/02, zitiert n. juris; Wiesner, SGB VIII,§ 89e Rn. 1).

Das Verwaltungsgericht hat den Aufenthalt des Kindesvaters bei "Elrond" und der "Bremer Selbsthilfe" als Aufenthalt in einer sonstigen Wohnform qualifiziert, die der Behandlung von Drogensucht dient. Abzustellen sei auf den mit der besonderen Form des Wohnens und Arbeitens in den genannten Selbsthilfeeinrichtungen erzielten bzw. angestrebten Erfolg des Loskommens von Drogensucht, wobei darauf gesetzt werde, dass dieser weniger mit fachlicher therapeutischer Hilfe erreicht werden könne, als durch Erlangen einer gewissen Selbständigkeit und Verantwortlichkeit mittels Zusammenlebens- und arbeitens mit ehemals selbst von Drogensucht Betroffenen, die ihre Erfahrungen mit der Drogenabhängigkeit und dem Loskommen hiervon an neue Bewohner weitergeben. Der Umstand, dass die Nichteinbeziehung fachlicher Hilfe und die Aufrechterhaltung der vollen Eigenständigkeit der Bewohner eine wesentlicher Teil des Konzepts des Erlernens eines drogenfreien Lebens sei, stehe der genannten Qualifizierung angesichts der eindeutigen Zweckbestimmung der Einrichtungen nicht entgegen, zumal sonst dem Zweck der Vorschrift nicht eindeutig Rechnung getragen werde.

Die Berufung hat demgegenüber darauf verwiesen, dass - auch wenn man das Wohnen im Elrond-Projekt unter den Begriff der sonstigen Wohnform fasse, diese Wohnform "der Erziehung, Pflege, Betreung, Behandlung oder dem Strafvollzug" dienen müsse. Daran fehle es. Während Erziehung und Betreuung pädagogische und soziale Maßnahmen seien, erfordere die Behandlung i.S.d. § 89 e SGB VIII eine medizinische Hilfe im weiteren Sinne, die "Elrond" nicht biete. "Elrond" sei eine Selbsthilfe- und keine Therapieeinrichtung.

Diese Einwände tragen dem Gesetzeszweck, der einen lückenlosen Schutz der Einrichtungsorte, d.h. der örtlichen Träger vor kostenmäßigen Belastungen beabsichtigt (BVerwG, U.v. 22.11.2001 - 5 C 42/01, NVwZ 2002,857 ff), nicht hinreichend Rechnung. Zur Gewährleistung dieses Zwecks ist eine grundsätzlich weite Auslegung der Tatbestandvoraussetzungen der Vorschrift geboten. Hinsichtlich des Begriffes Wohnform wird dies bereits durch die Beifügung "sonstige" hervorgehoben, die verdeutlicht, dass im Rahmen der Vorschrift praktisch jede Wohnform den Schutz begründet, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient. Ausreichend ist damit schon die Gewährung einer Unterkunft i.S. des § 48 a SGB VIII, sofern diese nur den genannten Aufenthaltszwecken dient. Auch hinsichtlich der Aufenthaltszwecke darf die Abgrenzung nicht zu eng erfolgen, um nicht notwendige Hilfemaßnahmen der Jugendhilfe in Gefahr zu bringen. Insbesondere bei sonstigen Wohnformen ist der Rahmen w e i t zu ziehen. Deshalb können auch lediglich unterstützende Zielsetzungen von Selbsthilfeeinrichtungen als Erziehung, Betreuung oder Behandlung ausreichen. Es ist begrifflich nicht vorgegeben, dass die Hilfen durch qualifiziertes Fachpersonal erfolgen müssen und damit insbesondere der Begriff Behandlung auf eine medizinische Behandlung beschränkt ist. Entscheidend ist, dass sich die Wohnform auf ein in sich schlüssiges Konzept stützt, dass die genannten Aufenthaltszwecke verfolgt, und dessen Umsetzung gewährleistet ist.

Die fraglichen Wohnprojekte erfüllen in diesem Sinne die durch die Vorschrift vorgegebenen Aufenthaltszwecke in Form der Erziehung, Betreuung und Behandlung durch planmäßige und konsequente Unterstützung bei dem Bestreben, künftig ohne Drogen zu leben. Der als gemeinnützig anerkannte Verein "Elrond" ist eine Selbsthilfeeinrichtung ehemals drogenabhängiger Menschen, dessen Hauptzweck "die Drogenhilfe in Form von Rehabilitation ehemals Drogenabhängiger sowie die Wiedereingliederung in das normale Erwerbsleben ist". In die Gemeinschaft wird entsprechend einem Stufenplan nur aufgenommen, wer bei der Aufnahme clean bzw. nüchtern ist. In die Wohngemeinschaft Aufgenommene unterliegen in den ersten 3 - 6 Monaten einer Kontaktsperre. Außenkontakte sind untersagt, Ausgänge erfolgen nur in Begleitung. Danach werden Kontakte kontrolliert. Es werden gemeinsam Lösungen für das Suchtproblem erarbeitet. Diejenigen, die bereits länger in der Gemeinschaft leben, helfen den Neuankömmlingen auf der Grundlage eigener Erfahrungen und durch ihre Vorbildfunktion zur Abkehr von ihrer Sucht, zu physischer und psychischer Stabilität, zu Selbständigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit. Auf der Basis eines sicheren Zuhauses auf unbegrenzte Zeit wird zu einem geregelten Tagesablauf mit sinnvoller Tätigkeit in verschiedenen Arbeitsbereichen angehalten bzw. erzogen. Dabei werden Unterstützung bei Schulden- und Gerichtsregulierung, Beratung und Nachsorgemöglichkeiten geboten. Es werden keine professionellen Helfer oder angestelltes Fachpersonal beschäftigt. Externe Hilfsangebote von Fachleuten werden jedoch genutzt, mit professionellen Einrichtungen der Drogenhilfe wird zusammengearbeitet. Ziel aller Bemühungen ist die Reintegration der Bewohner in das Erwerbsleben ohne Drogen durch Stärkung der physischen und psychischen Stabilität, der Selbständigkeit, der Gemeinschaftsfähigkeit und der sozialen und beruflichen Kompetenz (vgl. zu allem: Kurz -Info v. Elrond, VA d. Beigel. Bl 125, sowie Inhalt der Home-Page v. Elrond: www.elrond-bremen.de, GA Bl. 120 - 133).

Ein ähnlicher Aufenthaltszweck war mit der Aufnahme in das Betreute Wohnen der Bremer Hilfe zur Selbsthilfe e.V. verbunden, wo sich der Kindesvater vom 16.02.2000 bis zum 15.04.2001 aufgehalten hat. Inhalts des Nutzungsvertrages v. 16.02.2000 (§ 1) war Zweck der Aufnahme eine auf einen bestimmten Zeitraum angelegte sozialtherapeutische Betreuung, in der eine Wiedereingliederung in den Lebensalltag, die Stabilisierung eines drogenfreien Lebens, die Förderung alltagspraktischer Fähigkeiten und die berufliche Rehabilitation ermöglicht werden soll.

Es kann danach nicht zweifelhaft sein, das sich der Kindesvater in Bremen in der fraglichen Zeit in sog. "sonstigen Wohnformen" i.S. des § 89 e SGB VIII aufgehalten hat, deren Zweck eine Betreuung, Erziehung und Behandlung war, um ein drogenfreies Leben zu erlernen und zu stabilisieren, sowie eine Wiedereingliederung in den Lebensalltag und den Beruf zu ermöglichen.

Ob in den Einrichtungen damit auch eine Rehabilitationsbehandlung i.S. von §§ 35,36 BtMG erfolgt, d.h. eine Behandlung die von den Strafgerichten anerkannt dazu dient, die Abhängigkeit zu beheben oder einer erneuten Abhängigkeit entgegenzuwirken, bedarf keiner Vertiefung. Entscheidend ist, dass es in den Einrichtungen nicht um bloßes Wohnen geht, sondern - wie hier - um Wohnformen, die den in § 89 e SGB VIII genannten Aufenthaltszwecken dienen.

Damit ist nach § 89 e Abs.1 SGB VIII der örtliche Träger zur Erstattung der von der Klägerin geltend gemachten Kosten verpflichtet, in dessen Bereich der Kindesvater vor der Aufnahme in die Einrichtungen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies war unstreitig nicht die Beklagte, sondern die Beigeladene.

2.

Hilfsantrag festzustellen, dass sich die Beklagte entgegen der Rechtsansicht der Klägerin und der Beigeladenen nicht auf den Schutz des § 89 e SGB VIII mit der Begründung berufen kann, die Einrichtung Elrond sei eine geschützte Einrichtung i.S. des §89 e SGB VIII

Der hilfsweise verfolgte Feststellungsantrag ist zwar als vom Leistungsantrag umfasst nach § 66 VwGO statthaft. Der Antrag ist aus den Gründen zu II.1. aber ebenfalls unbegründet.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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