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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 29.09.2006
Aktenzeichen: S1 B 300/06
Rechtsgebiete: SGB II


Vorschriften:

SGB II § 7 Abs. 5
Zu den Voraussetzungen, unter denen ein besonderer Härtefall im Sinne von § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II angenommen werden kann.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: S1 B 300/06

In dem Rechtsstreit

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat für Sozialgerichtssachen - durch die Richter Stauch, Göbel und Alexy am 29.09.2006 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 3. Kammer für Sozialgerichtssachen - vom 06.07.2006 aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antrag der Antragstellerin auf Leistungen nach dem SGB II unter Anerkennung eines besonderen Härtefalles nach § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II neu zu bescheiden und bei Vorliegen der weiteren Leistungsvoraussetzungen für die Zeit von Juni 2006 bis Mai 2007 darlehensweise Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die aussergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe:

I.

Die 1970 geborene Antragstellerin ist von Beruf Krankenschwester. Sie hat eine 1989 geborene Tochter. Die Antragstellerin lebt zusammen mit ihrer Tochter und einer weiteren erwachsenen Person in einer Wohngemeinschaft. Sie hat im Jahr 2000 das Studium an der Universität Bremen aufgenommen. Das Sommersemester 2006 ist für sie das 10. Hochschulsemester und - aufgrund eines Fachrichtungswechsels im zweiten Semester - das achte Fachsemester in den Studiengängen Pflegewissenschaften/Soziologie (Diplom und Lehramt).

Seit dem 01.04.2006 erhält die Antragstellerin wegen Überschreitens der Förderungshöchstdauer keine Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz mehr.

Der Antrag auf Bewilligung eines Bildungskredits wurde vom Bundesverwaltungsamt wegen Überschreitens der Altersgrenze abgelehnt.

Im April 2006 beantragte sie Leistungen nach dem SGB II bei der Antragsgegnerin.

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 24.04.2006 ab. Ihr Studium sei im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig, deshalb sei gemäß § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II die Leistungsbewilligung ausgeschlossen.

Ihren Widerspruch begründete die Antragstellerin damit, dass sie kurz vor Beendigung ihres Studiums stehe und die Leistungsversagung deshalb unverhältnismäßig sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 01.06.2006 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch unter Berufung auf § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II als unbegründet zurück. Besondere Härtegründe i. S. von § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II seien nicht erkennbar.

Die Antragstellerin hat am 27.06.2006 Klage erhoben und am selben Tag einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel einer vorläufigen Leistungsbewilligung gestellt. Sie hat geltend gemacht, es sei ein besonderer Härtefall gegeben. Sie habe ihr Studium bislang mit gutem Erfolg absolviert. Ihr fehlten lediglich noch drei Leistungsnachweise, um zur Abschlussprüfung zugelassen zu werden. Sie gehe davon aus, sich Mitte 2007 zur Abschlussprüfung melden zu können. Nach der Zulassung werde sie für die Dauer der Prüfung wieder Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz erhalten. Es müsse berücksichtigt werden, dass sie als alleinerziehende Mutter in der Vergangenheit in erheblichem Maß zusätzlich mit Erziehungs- und Betreuungsaufgaben belastet gewesen sei. Durch den Wegfall der Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz sei sie in eine äußerst schwierige wirtschaftliche Situation geraten.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 06.07.2006 abgelehnt. Es könne kein besonderer Härtefall i. S. von § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II angenommen werden. Die Beendigung des Studiums stehe nicht unmittelbar bevor. Falls es ihr nicht gelingen sollte, ihren Lebensunterhalt anderweitig abzusichern, sei ihr zuzumuten, das Studium abzubrechen und wieder in dem erlernten Beruf als Krankenschwester zu arbeiten.

Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin. Das Verwaltungsgericht verkenne, das sie während ihres Studiums als alleinerziehende Mutter zusätzlich belastet gewesen sei. Der Abschluss ihres Studiums, das sie bislang mit gutem Erfolg absolviert habe, sei in greifbarer Nähe. Die Leistungsverweigerung führe dazu, dass ihre weit fortgeschrittenen Ausbildungsanstrengungen zunichte gemacht werden würden.

II.

Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Insoweit liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor (vgl. § 86 b Abs. 2 SGG). Die Antragsgegnerin hat zu Unrecht das Vorliegen eines besonderen Härtefalls i. S. von § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB II verneint. Eine direkte Verpflichtung zur Leistung des Regelsatzes und anteiliger Unterkunftskosten, wie mit dem Eilantrag begehrt, scheidet zum derzeitigen Zeitpunkt aber aus, weil die Leistungsbewilligung noch von der Prüfung weiterer Voraussetzungen abhängt, u. a. der Frage, ob eine Bedarfsgemeinschaft mit dem erwachsenen Mitbewohner gegeben ist. Die Antragstellerin kann verlangen, dass ihr Antrag unter Anerkennung eines besonderen Härtefalles nach § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II unverzüglich neu beschieden wird.

Im Einzelnen:

Gemäß § 7 Abs. 5 SGB II haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (S. 1). Nur in besonderen Härtefällen können solche Leistungen als Darlehen gewährt werden (S. 2). Mit dem Ausschlusstatbestand in Satz 1 wird der Zweck verfolgt, Auszubildende wegen der staatlichen Förderung ihrer Ausbildung grundsätzlich auf das dafür speziell vorgesehene staatliche Fördersystem nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetzes zu verweisen. Soweit danach keine Förderung (mehr) möglich ist, soll nicht das SGB II als weiteres Ausbildungsförderungssystem auf "zweiter Ebene" zur Anwendung kommen (so BVerwG, U. v. 14.10.1993 - 5 C 16/19 - NVwZ-RR 1994, 267 zu § 26 BSHG). Allerdings lässt Satz 2 in besonderen Härtefällen Ausnahmen von diesem Grundsatz zu. Ob ein Härtefall vorliegt, hängt dabei unter anderem von einer Prognose der weiteren Ausbildungsdauer und des zu erwartenden berufsqualifizierenden Abschlusses ab. Liegen gute Gründe dafür vor, dass der Betreffende in absehbarer Zeit die Ausbildung erfolgreich abschließen wird, spricht das für das Vorliegen eines besonderen Härtefalles. Die besondere Härte liegt darin begründet, dass der Auszubildende anderenfalls gezwungen wäre, mangels ausreichender Mittel zum Lebensunterhalt seine vor dem Abschluss stehende Ausbildung abzubrechen. Das wäre nicht nur unbillig, sondern widerspräche dem Zweck des SGB II, der gerade auf die Arbeitsmarktintegration zielt. Dass sich die Chancen hierfür durch einen qualifizierten Berufsabschluss erhöhen, liegt auf der Hand. Es entspricht dem öffentlichen Interesse, wenn die Voraussetzungen für einen effektiven Einsatz der Arbeitskraft geschaffen werden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, B. v. 14.04.2005 - L8 AS 36/05 ER -; LSG Hamburg, B. v. 02.02.2006 - L5 B 396/05 ER AS, jeweils in juris). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Satz 2 ausdrücklich vorsieht, dass Auszubildende Leistungen nach dem SGB II nur als Darlehen erhalten. Das unterscheidet die derzeitige Rechtslage deutlich von der bisherigen; § 26 BSHG sah die Gewährung von Zuschüssen vor.

Nach diesem Maßstab ist im Falle der Antragstellerin ein besonderer Härtefall i. S. von § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II gegeben. Die Antragstellerin studiert im 8. Semester Pflegewissenschaften und Soziologie (Diplom und Lehramt). Sie hat verschiedene Leistungsnachweise vorgelegt, die durchweg sehr gute bzw. gute Prüfungsergebnisse bescheinigen. Sie hat weiterhin schlüssig dargelegt, dass sie sich voraussichtlich Mitte 2007 zur Abschlussprüfung wird melden können. Sie hat damit den überwiegenden Teil einer qualifizierten Ausbildung absolviert, der Abschluss der Ausbildung lässt sich absehen. Der Bildungskredit, den sie nach Ablauf der Förderungshöchstdauer nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz beim Bundesverwaltungsamt beantragt hat, ist wegen Überschreitens der Altersgrenze abgelehnt worden. Ein Abbruch des Studiums im gegenwärtigen Zeitpunkt wegen Fehlens ausreichender Mittel zum Lebensunterhalt würde nicht nur die Antragstellerin unbillig hart treffen, sondern widerspräche auch der Zielsetzung des SGB II, nämlich der Optimierung der Arbeitsmarktintegration der Erwerbsfähigen.

Eine einstweilige Anordnung, mit der die Antragsgegnerin direkt zur Leistung des Regelsatzes sowie anteiliger Unterkunftskosten verpflichtet wird, scheidet im gegenwärtigen Zeitpunkt aus. Denn die weiteren Leistungsvoraussetzungen (Prüfung des Vorliegens einer Bedarfsgemeinschaft mit dem Mitbewohner; Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Antragstellerin) sind bislang nicht geprüft worden. Die Antragsgegnerin ist verpflichtet diese Prüfung unverzüglich vorzunehmen. Die Antragstellerin hat insoweit einen Anspruch auf Neubescheidung, dessen Durchsetzung die vom Oberverwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung dient. Unter den gegebenen Voraussetzungen stellt die erlassene Anordnung, auch unter Abwägung der durch sie bewirkten Folgen, ein geeignetes Mittel dar, um die Rechte der Antragstellerin effektiv durchzusetzen.

Sollte die Prüfung ergeben, dass die Antragstellerin die weiteren Leistungsvoraussetzungen erfüllt, ist die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin bis Mai 2007, dem voraussichtlichen Termin der Meldung zur Abschlussprüfung, Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Dass dies nur darlehensweise geschehen kann, ergibt sich, wie dargelegt, unmittelbar aus dem Gesetz. Der Leistungszeitraum beginnt dabei mit dem Juni 2006, dem Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Ende der Entscheidung

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