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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 14.05.2007
Aktenzeichen: S2 B 365/06
Rechtsgebiete: SGB II, SGG


Vorschriften:

SGB II § 39
SGG § 86a Abs. 1
SGG § 86a Abs. 2
Zur aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen die Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: S2 B 365/06

In dem Rechtsstreit

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 2. Senat für Sozialgerichtssachen - durch Richterin Dreger, Richter Dr. Grundmann und Richter Dr. Bauer am 14.05.2007 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 2. Kammer für Sozialgerichtssachen - vom 01.09.2006 wird zurückgewiesen.

Die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin trägt die Antragsgegnerin.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen die Rückforderung von Leistungen nach dem zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II).

Die Antragstellerin erhielt zwischen dem 01.12.2005 und dem 31.03.2006 von der Antragsgegnerin Hilfe zum Lebensunterhalt. Sie ging in dieser Zeit einer Berufstätigkeit nach, von der die BAGIS erst nachträglich erfuhr. Mit Bescheid vom 02.06.2006 hob sie die Bewilligung deshalb nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf und stellte eine Überzahlung in Höhe von 2.657,92 € fest. Diese Forderung werde in Höhe von monatlich 50,00 € von ihrer Leistung einbehalten.

Dagegen legte die Antragstellerin am 19.06.2006 Widerspruch ein und forderte zunächst eine Erläuterung des Rückforderungsbetrages.

Mit Schreiben vom 13.07.2006 wies die Antragsgegnerin darauf hin, dass dieser Widerspruch keine aufschiebende Wirkung habe.

Daraufhin hat die Antragstellerin am 18.07.2006 beim Verwaltungsgericht Bremen beantragt,

festzustellen, dass der Widerspruch gegen den Bescheid vom 02.06.2006 aufschiebende Wirkung hat.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 01.09.2006 hat das Verwaltungsgericht die beantragte Feststellung insoweit getroffen, als der Bescheid vom 02.06.2006 eine Aufrechnungserklärung und eine Erstattungsforderung enthält. Diese Entscheidungen stellten keine Verwaltungsakte im Sinne des § 39 SGB II dar.

Dagegen hat die Antragsgegnerin am 22.09.2006 Beschwerde eingelegt. § 39 SGB II erfasse auch Aufrechnungs- und Erstattungsbescheide.

Mit Bescheid vom 04.12.2006 hat die Antragsgegnerin den Rückforderungsbetrag auf 2.017,92 € reduziert, den Widerspruch der Antragstellerin im Übrigen jedoch als unbegründet zurückgewiesen.

Die Antragstellerin hat dagegen Klage beim Verwaltungsgericht erhoben.

II.

Die Beschwerde ist nicht begründet. Die vom Verwaltungsgericht in analoger Anwendung des § 86 b Abs. 1 SGG getroffene Feststellung ist nicht zu beanstanden.

Wenn die Verwaltung die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfes zu Unrecht in Abrede stellt, kann das Gericht diese im Eilverfahren feststellen (Binder in Hk -SGG, § 86b Rn. 23).

Widerspruch und Klage der Antragstellerin gegen die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Rückforderung und Aufrechnung haben nach § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung. Die Antragsgegnerin beruft sich dagegen zu Unrecht auf § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 1 SGB II. Nach letzterer Vorschrift haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung.

Ein Verwaltungsakt, der -wie hier- gemäß § 50 SGB X über die Erstattung von zu Unrecht erbrachten Grundsicherungsleistungen entscheidet, ist keine Entscheidung über Leistungen der Grundsicherung (ebenso LSG Rheinland-Pfalz, B.v. 17.01.2006, L 3 ER 128/05 AS und 26.04.2006, L 3 ER 47/06 AS; LSG Niedersachsen-Bremen, B.v. 23.03.2006, L 9 AS 127/06 ER; LSG Sachsen-Anhalt, B.v. 27.04.2006, L 2 B 62/06 AS ER; LSG Hamburg, B.v. 29.05.2006, L 5 B 77/06 ER AS; LSG Berlin-Brandenburg, B.v. 25.08.2006, L 5 B 549/06 AS ER und 28.09.2006, L 19 B 653/06 AS -alle juris-).

Die Gegenansicht (LSG Nordrhein-Westfalen, B.v. 31.03.2006, L 19 B 15/06 AS ER; Schleswig-Holsteinisches LSG, B.v. 05.07.2006, L 6 B 196/06 AS ER, NZS 07, 161, und 23.11.2006, L 6 B 292/06 AS ER; LSG Baden- Württemberg, B.v. 21.11.2006, L 8 AS 4680/06 ER-B -alle juris-) nach der § 39 Nr.1 SGB II auf alle Entscheidungen Anwendung findet, die einen wie auch immer gearteten Einfluss auf Leistungen nach dem SGB II haben, überzeugt den Senat nicht. Die Entscheidung über einen Rückforderungsanspruch ist schon nach der Wortbedeutung keine Entscheidung "über Leistungen der Grundsicherung", sondern eine einer solchen Entscheidung nachgehende selbständige Folgeentscheidung nach dem SGB X (so zu Recht LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O. juris Rn. 15 f.; LSG Hamburg a.a.O. juris Rn. 4 f.; LSG Berlin-Brandenburg, B.v. 28.09.2006, a.a.O., Rn. 2).

Soweit die Gegenansicht aus der in § 39 SGB II gewählten Formulierung "Entscheidung über Leistungen" herleitet, der Gesetzgeber habe eine über § 86a Abs. 2 SGG hinausreichende Regelung treffen und auch andere als die in § 86a Abs. 2 Nr. 2 und 3 SGG erfassten Entscheidungen, insbesondere auch Rückforderungsentscheidungen, einbeziehen wollen, ist dem folgendes entgegenzuhalten:

Der Sinn der Formulierung des § 39 SGB II ergibt sich unmittelbar aus dem SGB II selbst. Dieses sieht nicht nur Geldleistungen, sondern nach § 4 Abs. 1 SGB II auch Dienst- und Sachleistungen vor. Angesichts des in § 2 SGB II festgeschriebenen Grundsatzes des Forderns können insbesondere Dienstleistungen von Betroffenen auch als Belastung wahrgenommen werden und kommen sie gewährende Entscheidungen deshalb als Gegenstand einer Anfechtungsklage in Betracht. Nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II sollen die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit an Hilfebedürftige, mit denen der Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung nicht gelingt, durch Verwaltungsakt geregelt werden, sodass beispielsweise der Heranziehung zu einer Arbeitsgelegenheit nach § 16 Abs. 3 SGB II verbreitet dieser Charakter zugesprochen wird (vgl. Pfohl in Linhart, Adolph, SGB II, § 16 Rn. 84 ff.). § 39 SGB II erfasst im Unterschied zu § 86a Abs. 2 SGG alle insofern als Verwaltungsakte in Frage kommenden Entscheidungen und schafft größere Klarheit und Sicherheit für die Sozialleistungsträger als eine alternativ denkbare Auflistung wie in § 336a SGB III.

Die Gesetzesbegründung zu § 39 SGB II (BT-Drs. 15/1516, S. 63) erwähnt dementsprechend ausdrücklich neben Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auch die in Kapitel 3 Abschnitt 1 (§§ 14 - 18a) SGB II geregelten Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und verdeutlicht damit, dass § 39 SGB II auch ohne Erstreckung auf Erstattungsbescheide eine Vielzahl verschiedener Verwaltungsakte erfasst, diese Erstreckung also zur Begründung seiner Formulierung weder verwendet wurde noch erforderlich ist.

Die Gesetzessystematik legt die hier vertretene Auffassung ebenfalls nahe. Die in § 39 Nr. 1 SGB II angesprochenen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende sind im SGB II "Grundsicherung für Arbeitssuchende" in Kapitel 3. "Leistungen" zusammengefasst. Darin werden die Abschnitte 1. "Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts" und 2. "Leistungen zur Eingliederung in Arbeit" unterschieden, die auch die Gesetzesbegründung (a.a.O) erwähnt. In § 39 Nr. 1 SGB II stellt der Gesetzgeber auf Entscheidungen zur Umsetzung dieser Normen ab. Insbesondere die Tatsache, dass in § 39 Nr. 2 SGB II Entscheidungen, die den Übergang eines Anspruchs bewirken, besonders erwähnt werden, spricht gegen eine weiter gefasste Auslegung. Eine Überleitung von Ansprüchen in diesem Sinne kam nur auf der Basis von § 33 SGB II a.F. in Betracht (Conradis, LPK-SGB II § 39 Rn. 9), der zu Kapitel 3 des Gesetzes zählt, systematisch also eigentlich eine Leistung definieren müsste. Die im Unterabschnitt 4 des Abschnitts 2 definierten "Verpflichtungen anderer" sind begrifflich aber keine Leistungen. Die ausdrückliche Erwähnung der Überleitungsentscheidungen in § 39 Nr. 2 SGB II verdeutlicht, dass der Gesetzgeber diese Unstimmigkeit zum Anlass genommen hat, die Überleitungsentscheidungen ausdrücklich zu erwähnen und spricht damit für ein Verständnis von § 39 Nr. 1 SGB II in dem hier vertretenen Sinne, nämlich dass damit nur Entscheidungen gemeint sind, die eindeutig Leistungen nach Kapitel 3 SGB II betreffen. Dieser Rahmen kann nicht bis zu Entscheidungen nach § 50 Abs. 3 SGB X gestreckt werden (vgl. auch LSG Hamburg, a.a.O. Rn. 5).

Die sofortige Vollziehbarkeit einer Rückforderungsentscheidung stellte im Sozialrecht eine Ausnahme dar, die im Recht der Kranken-, Unfall-, und Rentenversicherung, der Sozialhilfe und Arbeitsförderung keine Entsprechung findet (vgl. LSG Hamburg, a.a.O.). Es ist kein Anlass ersichtlich, Empfänger von Leistungen nach dem SGB II insofern anders zu behandeln als Empfänger von Leistungen nach dem SGB III und SGB XII. Auch das für eine Einbeziehung von Erstattungsentscheidungen angeführte Argument der Abschreckung ist problematisch, denn es ist nicht ersichtlich, dass Empfänger von Arbeitslosengeld II stärker von einer missbräuchlichen Inanspruchnahme abgeschreckt werden müssten als Empfänger anderer Leistungen oder eine sofortige Rückforderung zu Unrecht erlangter Leistungen in ihrem Fall dazu besser geeignet wäre. Insofern würde eine Unterscheidung zwischen den Empfängern dieser verschiedenen Leistungen die Frage der Vereinbarkeit mit Art. 3 GG aufwerfen (vgl. Eicher, Spellbrink, SGB II § 39 Rn. 3). Schließlich können Erstattungsansprüche auch auf Umständen beruhen, die nicht im Verantwortungsbereich des Schuldners liegen.

Die demnach begründete Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Erstattungsentscheidung gilt ebenso für die Aufrechnungsentscheidung, zumal mit einer nicht vollziehbar festgestellten Forderung nicht aufgerechnet werden kann (vgl. Conradis in LPK-SGB II § 43 Rn. 8).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ende der Entscheidung

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