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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 06.09.2005
Aktenzeichen: S3 B 199/05
Rechtsgebiete: AsylbLG


Vorschriften:

AsylbLG § 2 Abs. 1
AsylbLG § 3
1. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem ein Leistungsberechtigter gemäß § 2 AsylbLG (erhöhte) Leistungen unter entsprechender Anwendung des SGB XII geltend macht, kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, es fehle am Anordnungsgrund, weil der Leistungsberechtigte die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhalte.

2. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG liegt nur vor, wenn es sich um ein von der Rechtsordnung missbilligtes subjektiv vorwerfbares Verhalten handelt. Ein solches Verhalten kann nicht angenommen werden, wenn der Ausländer für sein weiteres Verbleiben im Bundesgebiet vertretbare Gründe hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn einer Rückkehr in die Heimat berechtigte Bedenken entgegenstehen.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: S3 B 199/05

In dem Rechtsstreit

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 3. Senat für Sozialgerichtssachen - durch Richterin Dreger, Richter Nokel und Richter Dr. Grundmann am 06.09.2005 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 4. Kammer für Sozialgerichtssachen - vom 11.05.2005 wird aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin unter dem Vorbehalt der Rückforderung für die Zeit vom 01.09.2005 bis zum 30.11.2005 Leistungen unter entsprechender Anwendung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin des Verfahrens erster und zweiter Instanz zu tragen.

Gründe:

I.

Die 1983 geborene Antragstellerin stammt aus dem Kosovo und gehört der Minderheitsgruppe der Ashkali an.

Sie bezieht seit der ersten Hälfte des Jahres 2001 Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.

Im Februar 2005 beantragt die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die Antragsgegnerin verpflichtet werden sollte, der Antragstellerin die erhöhten Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren.

Das Verwaltungsgericht - 4. Kammer für Sozialgerichtssachen - lehnte den Antrag mit Beschluss vom 11.05.2005 ab. Zur Begründung führte es aus, die Antragstellerin habe seit 36 Monaten mit den Grundleistungen nach § 3 AsylbLG gelebt, die sie nach wie vor erhalte. Hinsichtlich des Differenzbetrages zum Leistungsniveau des SGB XII müsse sich die Antragstellerin auf das Hauptsacheverfahren verweisen lassen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg. Die Voraussetzungen nach § 86 b Abs. 2 SGG für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.

Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsgrund (1.) als auch einen Anordnungsanspruch (2.) glaubhaft gemacht.

1.

Ein Anordnungsgrund, d. h. die Erforderlichkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu bejahen. Der Regelung in § 2 Abs. 1 AsylbLG ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber grundsätzlich allen Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die erhöhten Leistungen des SGB XII nach 36 Monaten gewähren will (vgl. auch BT-Drucks. 15/420, S. 121). Diesem Willen des Gesetzgebers würde nicht hinreichend Geltung verschafft, wenn die Behörde die in § 2 AsylbLG vorgesehene Anhebung der Sozialleistungen nach 36 Monaten ablehnen könnte, ohne dass sich der Betroffene dagegen mit Hilfe einer gerichtlichen einstweiligen Anordnung zur Wehr setzen könnte. Zudem würde der Zugang zur einstweiligen Klärung der Anspruchsberechtigung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG prinzipiell versperrt, was schwerlich mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar wäre (vgl. OVG Münster, B. v. 16.10.2001 - 12 B 622/01 -). Der Anordnungsgrund kann deshalb nicht mit dem Hinweis darauf verneint werden, dass die Antragstellerin Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhält (vgl. OVG Münster, B. v. 16.10.2001, a.a.O.; OVG Lüneburg, B. v. 14.09.2000 -4 M 3027/00 -; VG Braunschweig, B. v. 18.05.2004 - 3 B 59/04 -; VG Oldenburg, B. v. 23.11.2004 -13 B 3972/04 -). Soweit der Senat im Beschluss vom 18.01.2005 (Az. 2 B 10/05) eine hiervon abweichende Auffassung vertreten hat, hält er daran nicht fest.

2.

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der ab 01.01.2005 geltenden Fassung (durch Gesetz vom 30.07.2004, BGBl. I S. 1950) ist das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Dass die Antragstellerin insgesamt 36 Monate Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten hat, ist unstreitig.

Es kann nach summarischer Prüfung auch nicht festgestellt werden, dass die Antragstellerin die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat. In den Gesetzesmaterialien zu § 2 AsylbLG n. F. (vgl. BT-Drucks. 15/420, 121, abgedruckt in GK-AsylbLG III-§ 2) heißt es, die Anwendung des BSHG solle wie im derzeit geltenden Recht grundsätzlich für alle Fälle des § 1 nach 36 Monaten erfolgen. Ausgenommen wären "nur die Fälle, in denen der Ausländer rechtsmissbräuchlich die Dauer seines Aufenthalts (z. B. durch Vernichtung des Passes, Angabe einer falschen Identität) selbst beeinflusst hat". Dies entspreche auch "der Intention des Gesetzes, zwischen denjenigen Ausländern zu unterscheiden, die unverschuldet nicht ausreisen können und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkommen".

Hier sieht die Antragsgegnerin ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Antragstellerin darin, dass sie nicht freiwillig ausgereist sei, obwohl ihr dies zuzumuten gewesen sei und auch weiterhin zumutbar sei. Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG kann nur gesprochen werden, wenn es sich um ein von der Rechtsordnung missbilligtes subjektiv vorwerfbares Verhalten eines Ausländers handelt, das ursächlich für seinen tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet war oder ist (vgl. auch Hohm, Leistungsrechtliche Privilegierung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG F. 2005, NVwZ 2005, 388, 390). Ein subjektiv vorwerfbares Verhalten kann aber dann nicht angenommen werden, wenn der Ausländer für sein weiteres Verbleiben im Bundesgebiet vertretbare Gründe hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn einer Rückkehr in die Heimat berechtigte Bedenken entgegenstehen.

Die Situation der Minderheiten im Kosovo, zu denen die Ashkali gehören, ist schwierig zu beurteilen. In der Rechtsprechung der jüngeren Zeit ist wiederholt angenommen worden, für Ashkali bestehe keine zumutbare Ausreisemöglichkeit in den Kosovo (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 15.11.2004 -7 S 1128/02 - = InfAuslR 2005, 74; SG Braunschweig, B. v. 25.01.2005 - S 20 AY 2/05 ER = InfAuslR 2005, 159; VG Oldenburg, B. v. 23.11.2004 - 13 B 3972/04 -; VG Braunschweig, B. v. 18.05.2004 - 3 B 59/04 -). Die Antragstellerin hatte nach Aktenlage wegen der schwierigen Situation der Ashkali im Kosovo über einen längeren Zeitraum Duldungen erhalten (zuletzt durch Verfügung vom 27.01.2005 bis zum 30.06.2005). Nach dem jüngsten Erlass des Senators für Inneres und Sport vom 24. Mai 2005 über die Rückführung von Minderheiten in das Kosovo können zwar auch wieder Ashkali und Ägypter in das Kosovo zurückgeführt werden, jedoch gilt dies nur mit der Maßgabe, dass UNMIK über die beabsichtigte Rückführung vor dem geplanten Rückführungstermin zu informieren ist und innerhalb einer bestimmten Frist keine Bedenken gegen die Rückführung einer Person anmeldet. Im Regelfall genügt es, dass die beabsichtigte Rückführung UNMIK spätestens 14 Kalendertage vor dem geplanten Rückführungstermin angezeigt wird. Bei Ashkali und Ägyptern ist die Rückführung abweichend davon 40 Tage vor dem geplanten Rückkehrtermin anzukündigen. Dies zeigt, dass bei diesen Minderheiten eine (noch) gründlichere Prüfung der Rückkehrmöglichkeit für erforderlich gehalten wird. Jedenfalls vor Abschluss einer solchen Prüfung kann einem Ausländer nicht entgegengehalten werden, er handele rechtsmissbräuchlich i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG, wenn er nicht freiwillig ausreise. Da im Falle der Antragstellerin diese Prüfung noch nicht abgeschlossen ist, liegt in ihrem Fall kein rechtsmissbräuchliches Verhalten i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG vor.

Zur vorläufigen Sicherung der Rechte der Antragstellerin hält es der Senat für angemessen und ausreichend, wenn die Antragsgegnerin zur Zahlung der erhöhten Leistungen ab dem Ersten des Monats der Entscheidung (ebenso OVG Lüneburg, B. v. 14.09.2000, a.a.O.) und befristet auf drei Monate verpflichtet wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie entspricht der Billigkeit, da die Antragsgegnerin unterlegen ist.

Ende der Entscheidung

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