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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern
Beschluss verkündet am 10.10.2002
Aktenzeichen: 2 M 139/02
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO


Vorschriften:

VwGO § 148 Abs. 1
VwGO § 149 Abs. 1 Satz 1
VwGO § 149 Abs. 1 Satz 2
VwGO § 173
ZPO § 572 Abs. 3
1. Das Oberverwaltungsgericht kann nach § 173 VwGO in Verbindung mit § 572 Abs. 3 ZPO die Vollziehung einer vom Verwaltungsgericht erlassenen einstweiligen Anordnung einstweilig aussetzen. Eine - vorrangige - Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nach § 149 Abs. 1 Satz 2 VwGO besteht nicht.

2. Im Beschwerdeverfahren ist eine Zwischenentscheidung trotz des gesetzlich festgelegten Grundsatzes der Vollziehbarkeit i.S.d. § 149 Abs. 1 Satz 1 VwGO dann geboten, wenn dem Beschwerdeführer anderenfalls bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichts Nachteile drohen, die im Falle eines späteren Obsiegens im Beschwerdeverfahren nicht mehr rückgängig zu machen wären und ein Obsiegen im Beschwerdeverfahren überwiegend wahrscheinlich ist.


Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Beschluß

Az.: 2 M 139/02

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Schulrecht

hat der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern am 10. Oktober 2002 in Greifswald durch

beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Antragsgegners, die Vollziehung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Greifswald - 4. Kammer - vom 28. August 2002 einstweilen einzustellen, wird abgelehnt.

Gründe:

Der Aussetzungsantrag hat keinen Erfolg. Er ist statthaft, aber unbegründet.

Die Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts ergibt sich aus § 173 VwGO in Verbindung mit § 572 Abs. 3 ZPO. Danach kann das Beschwerdegericht u.a. die Vollziehung einer vom Verwaltungsgericht erlassenen einstweiligen Anordnung einstweilig aussetzen. Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren ist die Anwendbarkeit von § 572 Abs. 3 ZPO anerkannt (vgl. OVG Berlin, Beschluß vom 23.03.2001 - 8 SN 51.01 -, NVwZ 2001, 1424, 1425; OVG Weimar, Beschluß vom 25.02.1999 - 4 ZEO 1076/97 -, NVwZ 1999, 892; VGH Mannheim, Beschluß vom 25.06.1985 - NC 9 S 1524/85 -, NVwZ 1986, 934; VGH München, Beschluß vom 03.08.1993 - 5 CE 93.2281 -, NJW 1993, 3090 f.; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage, Rdn. 471 und 1012; Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Auflage, § 149 Rdn. 4; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Auflage, § 149 Rdn. 191; Eyermann, VwGO, 10. Auflage, § 149 Rdn. 3). Eine - vorrangige - Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nach § 149 Abs. 1 Satz 2 VwGO, wonach das Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, bestimmen kann, daß die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung einstweilen auszusetzen ist, besteht nicht. § 149 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist nicht anwendbar. Mit dem Eingang der Beschwerde iSv. § 146 Abs. 4 VwGO gegen einen Beschluß im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beim Verwaltungsgericht wird die Entscheidungskompetenz in Folge des Devolutiveffekts zum Oberverwaltungsgericht verlagert (vgl. Beschluß des Senats vom 16.12.1998 - 2 M 132/98 -, NVwZ-RR 1999, 591) und ist das Verwaltungsgericht daher nicht mehr befugt, die Vollziehung seiner Entscheidung auszusetzen (OVG Berlin, a.a.O.; OVG Weimar, a.a.O.; a.A.: VG Berlin, Beschluß vom 11.02.1997 - 27 A 876/96 -, NVwZ 1997, 514). Denn das Verwaltungsgericht darf keine Abhilfeentscheidung treffen, sondern muß die Verfahrensakten sofort dem Beschwerdegericht vorlegen (§ 146 Abs. 4 Satz 5 VwGO). Daß die Anwendung des § 149 Abs. 1 Satz 2 VwGO in § 146 Abs. 4 VwGO anders als die Norm des § 148 Abs. 1 VwGO nicht ausgeschlossen worden ist, ändert hieran nichts. Denn die Nichtanwendbarkeit des § 149 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist nach dem vorgesagten gesetzessystematische Folge der Nichtanwendbarkeit des § 148 Abs. 1 VwGO und braucht daher nicht ausdrücklich normiert werden.

Der danach zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.

Mit der Vollziehung einer erstinstanzlichen Eilentscheidung können Folgen verbunden sein, die den Betroffenen unzumutbar belasten und dem Verfahrensausgang in tatsächlicher Hinsicht vorgreifen. Daher gebietet es der Grundsatz der effektiven Rechtsschutzgewährung aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, den im erstinstanzlichen Verfahren Unterlegenen ausnahmsweise für die Dauer des gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittelverfahrens vor unzumutbaren, im Falle des Erfolges seines Rechtsmittelbegehrens nicht wieder rückgängig zu machenden Folgen zu schützen, die sich für ihn aus der Vollziehung des angegriffenen Beschlusses ergeben können. Im Beschwerdeverfahren ist eine Zwischenentscheidung nach § 173 VwGO, § 572 Abs. 3 ZPO trotz des gesetzlich festgelegten Grundsatzes der Vollziehbarkeit i.S.d. § 149 Abs. 1 Satz 1 VwGO dann geboten, wenn dem Beschwerdeführer anderenfalls bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichts Nachteile drohen, die im Falle eines späteren Obsiegens im Beschwerdeverfahren nicht mehr rückgängig zu machen wären und ein Obsiegen im Beschwerdeverfahren überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. OVG Weimar, a.a.O.; VGH München, a.a.O.; VGH Kassel, Beschluß vom 27.11.1990 -l TG 2527/90 -, NVwZ 1992, 195 f.; VGH Mannheim, Beschluß vom 04.07.1985 - 3 S 1652/85 -, NVwZ 1985, 922). Bei der zu treffenden Ermessensentscheidung über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung entsprechend § 572 Abs. 3 ZPO ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Beschwerde grundsätzlich nach § 149 Abs. 1 Satz 1 VwGO außer in den dort geregelten Fällen keine aufschiebende Wirkung hat. Aufgrund dieser vom Gesetzgeber vorgegebenen Gewichtung ist für eine einstweilige Aussetzung der Vollziehung des erstinstanzlichen Beschlusses im Beschwerdeverfahren nur ausnahmsweise Raum, wenn dies aufgrund einer Folgenabwägung dringend geboten erscheint (vgl. OVG Weimar, a.a.O.). Dabei sind die Folgen, die eintraten, wenn der Beschluß des Verwaltungsgerichts vollzogen würde und das Beschwerdeverfahren später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die Vollziehung ausgesetzt würde und die Beschwerde später zurückgewiesen würde.

Danach geht die Folgenabwägung zugunsten des Antragstellers aus. Nach dem Inhalt der Verwaltungsakte ist ernsthaft zu besorgen, daß der achtjährige, eine Diagnoseförderklasse besuchende, Antragsteller körperlich kaum belastbar, sehr unselbständig und in den Wahrnehmungsleistungen sehr vermindert ist sowie nicht lesen kann und er deshalb ohne Sondertransport erheblichen Gefahren beim Schultransport ausgesetzt sein wird. Es erscheint dem Senat nicht mit einer hinreichenden Sicherheit gewährleistet, daß dies bei Wahrnehmung des öffentlichen Personennahverkehrs ausgeschlossen werden kann. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, daß dem Antragsgegner bis zur Entscheidung über die Beschwerde unzumutbare Nachteile drohen, die im Falle eines späteren Obsiegens im Beschwerdeverfahren nicht mehr rückgängig zu machen wären. Er hat hierfür nichts vorgetragen, sondern sich darauf beschränkt, die Fehlerhaftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung aus seiner Sicht zu begründen. Dies allein aber rechtfertigt gerade nicht den Erlaß einer Zwischenentscheidung in Abkehr des Grundsatzes des § 149 Abs. 1 Satz 1 VwGO, sondern im Falle der Fehlerhaftigkeit nur das Obsiegen im Beschwerdeverfahren. Soweit sich der Antragsgegner im erstinstanzlichen Verfahren darauf berufen hat, daß die Beförderung des Antragstellers durch Sondertransport für ihn zu Mehrkosten von jährlich € 2.751,14 bzw. wöchentlich € 52,90 führen würde, stellt auch dies keinen unzumutbaren Nachteil dar.

Somit kommt es auf die Erfolgsaussicht der Beschwerde nicht an.

Eine Kostenentscheidung entfällt, da das Verfahren auf Erlaß einer Zwischenentscheidung keine eigenständige Kostenfolge auslöst (OVG Weimar, a.a.O., 893 mwN.).

Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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