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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 12.09.2006
Aktenzeichen: 10 A 2980/05
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6 Abs. 4
BauO NRW § 6 Abs. 7
1. Die Unbestimmtheit einer Baugenehmigung hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Merkmale - hier wegen widersprüchlicher Angaben in den Bauvorlagen zur Höhe eines Balkons - führt zu ihrer Aufhebung.

2. Die Abstandfläche eines nichtprivilegierten Balkons bemisst sich nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BauO NRW. Oberer Bezugspunkt der zu bestimmenden Wandhöhe ist, unabhängig von dem Material und ungeachtet einer etwaigen Transparenz, die Umwehrung des Balkons.


Tatbestand:

Die Kläger wenden sich als Grundstücksnachbarn gegen eine den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Anbau eines Balkons (4,65 m x 5,17 m) an der Rückwand ihres Wohnhauses. Die Brüstung (0,90 m hoch) soll aus einer verzinkten Stahlkonstruktion und einem Glasgeländer erstellt werden. Nach dem zur Baugenehmigung gehörigen Lageplan liegt die mittlere Geländeoberfläche unter den Eckpunkten des Balkons bei 98,78 m. Die Fußbodenhöhe ist mit 103,17 m angegeben. Der Abstand zur Grenze des Grundstücks der Kläger beträgt 4,25 m. In der ebenfalls zur Baugenehmigung gehörenden Bauzeichnung ist die Oberkante des Fußbodens des Balkons bei 4,92 m (über der Geländeoberfläche) eingetragen. Bereits mit einer früheren Baugenehmigung wurde den Beigeladenen die Genehmigung zur Errichtung einer Aufschüttung und Stützmauer im Grundstücksbereich, in dem der Balkon errichtet werden soll, erteilt. Den hiergegen eingelegten Widerspruch hatten die Kläger zurückgenommen. Nach erfolglosem Vorverfahren gegen die betreffend die Errichtung des Balkons erteilte Baugenehmigung hatten Klage und Berufung der Kläger Erfolg.

Gründe:

Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 31.8.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung vom 15.8.2003 verstößt gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts und verletzt die Kläger damit in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung ist rechtswidrig, da die mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen und damit zum Bestandteil des Bauscheins gewordenen Bauvorlagen hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Merkmale unbestimmt sind und diese Unbestimmtheit auch nicht durch den Inhalt des Bauscheins selbst bzw. des Widerspruchsbescheides behoben worden ist.

Die aus der Verletzung des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW folgende Fehlerhaftigkeit führt auch zu einem Abwehrrecht der Kläger, weil sich die Unbestimmtheit auf das Abstandflächenrecht und damit gerade auf solche Merkmale des Vorhabens bezieht, deren genaue Festlegung erforderlich ist, um eine Verletzung solcher Rechtsvorschriften auszuschließen, die auch dem Schutz der Kläger als Nachbarn zu dienen bestimmt sind.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 13.5.1994 - 10 A 1025/90 -, BRS 56 Nr. 139, sowie Beschlüsse vom 29.9.1995 - 11 B 1258/95 -, BRS 57 Nr. 162, und vom 2.10.1998 - 11 B 845/98 -, BRS 60 Nr. 207.

Die zum Bestandteil des Bauscheins gewordenen Bauvorlagen sind zum Nachteil der Kläger insoweit unbestimmt, als sie die Maße der Balkonanlage betreffen und nicht sicher festgestellt werden kann, ob die nach § 6 BauO NRW erforderliche Abstandfläche eingehalten ist.

Nach § 6 Abs. 1 BauO NRW sind vor Außenwänden von Gebäuden Flächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten (Abstandflächen), die nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW auf dem Grundstück selbst liegen müssen.

Der hier streitgegenständliche Balkon löst eine Abstandfläche aus. Der Balkon ist nicht nach § 6 Abs. 7 BauO NRW privilegiert. Denn nach dieser Bestimmung bleiben vor die Außenwand vortretende Bauteile und Vorbauten wie Erker und Balkone bei der Bemessung nur dann außer Betracht, wenn sie nicht mehr als 1,50 m vortreten. Der Balkon weist nach dem zum Bestandteil des Bauscheins gewordenen amtlichen Lageplan jedoch eine Tiefe von 4,65 m auf. Die allgemeinen Abstandflächenvorschriften finden Anwendung. Das bedeutet, dass der nicht grenzständig errichtete Balkon zu allen Seiten hin die gesetzlich vorgegebenen Abstandflächen einhalten muss.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 31.10.2001 - 10 B 1273/01 -.

Gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 BauO NRW bemisst sich die Tiefe der Abstandfläche nach der Wandhöhe.

Der Bauantrag und die beigefügten - vom Beklagten mit Zugehörigkeitsvermerk zum Bauschein versehenen - Bauvorlagen, insbesondere die eingereichten Bauzeichnungen enthalten widersprüchliche Angaben zu der Wandhöhe der baulichen Anlage. Das Maß H je Außenwand muss jedoch in dem zur Bestimmung der Abstandfläche erforderlichen Umfang ersichtlich sein.

Bei der Bemessung der für die Ermittlung der erforderlichen Abstandfläche erheblichen Wandhöhe ist als unterer Bezugspunkt die mit Baugenehmigung vom 25.4.2001 (Geländemodulierung im Gartenbereich) festgelegte Geländeoberfläche anzusetzen. Oberer Bezugspunkt für die Bestimmung der Wandhöhe ist die Umwehrung des Balkons. Das Schmalseitenprivileg gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW findet keine Anwendung. Eine eindeutige Berechnung der danach einzuhaltenden Abstandfläche ist wegen widersprüchlicher Angaben in den Bauvorlagen nicht möglich.

Unterer Bezugspunkt der Wandhöhe ist die Geländeoberfläche, die durch Baugenehmigung vom 25.4.2001 - bestandskräftig - festgelegt worden ist. Als Wandhöhe gilt das Maß von der Geländeoberfläche bis zum oberen Abschluss der Wand, § 6 Abs. 4 Satz 2 BauO NRW. Nach § 2 Abs. 4 BauO NRW ist die Geländeoberfläche die Fläche, die sich aus der Baugenehmigung oder den Festsetzungen des Bebauungsplanes ergibt, im Übrigen die natürliche Geländeoberfläche.

Mit der hier strittigen Baugenehmigung ist keine neue Geländeoberfläche festgesetzt worden. Aus dem zu den genehmigten Bauvorlagen gehörenden amtlichen Lageplan und der Ansichtszeichnung Nord-West bzw. Nord-Ost lässt sich entnehmen, dass sie mit der in der Baugenehmigung vom 25.4.2001 festgelegten übereinstimmt. Infolge dessen ist auf diese als unteren Bezugspunkt für die Ermittlung der Wandhöhe abzustellen.

Zwar hatten die Kläger gegen die Genehmigung vom 25.4.2001 mit Schreiben vom 6.5.2001 Widerspruch eingelegt. Mit Schreiben vom 28.11.2002 haben die Kläger diesen jedoch zurückgenommen und ausdrücklich nur noch den Widerspruch gegen die Errichtung des Balkons aufrechterhalten. Mit dieser Rücknahme ist die in der Genehmigung vom 25.4.2001 festgelegte und auch dem streitgegenständlichen Vorhaben zugrunde gelegte Geländeoberfläche bestandskräftig geworden.

Bei der Bemessung der Wandhöhe ist nach § 6 Abs. 4 BauO NRW die Umwehrung des Balkons der Beigeladenen oberer Bezugspunkt. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der genannten Vorschrift und der Verkehrsauffassung. Oberer Abschluss der Wand ist bei Balkonen die durch § 41 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 BauO NRW zwingend vorgeschriebene Umwehrung.

Vgl. Gädtke/Temme/Heintz, Landesbauordnung Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 10. Auflage, § 6 Rdnr. 201, 261; aber: Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Loseblatt, Stand: Mai 2006, § 6 Rdnr. 235: "ggf. Oberkante Balkonbrüstung".

Entgegen der Auffassung der Beigeladenen scheidet eine Differenzierung nach dem jeweiligen Material der Balkonumwehrung aus. Ohne Belang ist auch, ob diese offen oder transparent gestaltet ist.

Bereits nach dem Sinn und Zweck des Abstandflächenrechts scheidet eine derartige Differenzierung aus. Die Abstandflächenvorschriften sollen die im nachbarlichen Zusammenleben typischen Interessenkonflikte ausgleichen. Insbesondere soll neben der Gewährleistung einer ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung der Wohnfrieden geschützt und ein ausreichender Sozialabstand gesichert werden.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12.12.1991 - 11 A 2359/89 -, BRS 54 Nr. 140.

Hinsichtlich der beiden zuletzt genannten Aufgaben des Abstandflächenrechts ist das Material und damit die Transparenz der Balkonumwehrung irrelevant. Im Gegenteil kann sogar bei einer durchsichtigen Umwehrung der zu schützende Wohnfrieden eher in Frage gestellt sein.

Auch bei der Außenwand eines Gebäudes im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW ist eine Transparenz oder Geschlossenheit der Wand abstandflächenrechtlich ohne Belang.

Vgl. Gädtke/Temme/Heintz, a.a.O., § 6 Rdnr. 76.

Die Ausführungen der Beigeladenen zu § 6 Abs. 10 BauO NRW liegen daher neben der Sache.

Der Senat hält insofern an der in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vertretenen Auffassung, ein offenes Abschlussgeländer sei kein Bauteil, das bei der Bestimmung der Wandhöhe zu berücksichtigen sei, nicht fest.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.9.1996 - 10 B 2178/96 -.

Die Beigeladenen können auch nicht für ihr Vorhaben das Schmalseitenprivileg in Anspruch nehmen. Gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW genügt vor zwei Außenwänden eines Gebäudes auf einer Länge von nicht mehr als 16 m als Tiefe der Abstandfläche die Hälfte der nach Abs. 5 Satz 1 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch drei Meter (Schmalseitenprivileg). Gegenüber einem Gebäude oder einer Grundstücksgrenze kann das Schmalseitenprivileg gemäß § 6 Absatz 6 Satz 4 BauO NRW für ein Gebäude aber nur einmal in Anspruch genommen werden.

Da die Beigeladenen das Schmalseitenprivileg bereits für die vorhandene, zum Grundstück der Kläger gelegene Gebäudewand benötigen, würden sie es für den Balkon als eigenes, eine Abstandfläche auslösendes Bauteil gegenüber der Grundstücksgrenze der Kläger entgegen § 6 Abs. 6 Satz 4 BauO NRW ein zweites Mal in Anspruch nehmen.

Für die rückwärtige, zum Grundstück der Kläger ausgerichtete Wand des bestehenden Gebäudes der Beigeladenen wird nämlich mit der Errichtung des Balkons die Genehmigungsfrage im Hinblick auf die einzuhaltende Abstandfläche - nach Maßgabe des derzeit geltenden Abstandflächenrechts - neu aufgeworfen, da sie durch die Schaffung der Austrittsmöglichkeit auf den Balkon baulich verändert wird. Das Vorhaben der Beigeladenen besteht nicht allein darin, vor die rückwärtige Gebäudewand einen Balkon zu setzen. Vielmehr umfasst das genehmigte Vorhaben auch die Herstellung einer zweiflügeligen Tür in der Gebäudewand, von der aus der Balkon betreten werden soll. Die entsprechenden Bauvorlagen sind insofern unvollständig, vgl. § 4 Abs. 4 BauPrüfVO in Verbindung mit der dazugehörigen Anlage.

Die Herstellung derartiger Öffnungen in eine vorhandene Gebäudewand ist nicht mehr vom Bestandsschutz gedeckt. Es handelt sich nicht lediglich um eine unwesentliche Veränderung, vielmehr ist das Gebäude an seiner rückwärtigen Seite nicht mehr in seiner ursprünglichen Dimension und Gestalt erhalten geblieben. Auch hat diese Tür auf die von den Abstandflächenvorschriften geschützten nachbarlichen Belange nachteiligere Auswirkungen als das bisher vorhandene Gebäude ohne derartige Öffnungen. Darüber hinaus bewirkt die Balkonanlage für die vorhandene Gebäudewand, an die sie ansetzt, jedenfalls auch eine Funktionsänderung, die gleichfalls die Frage der Abstandwahrung dieser Wand neu aufwirft.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 20.6.2000 - 10 B 853/00 - , BRS 63 Nr. 134.

Ohne das vorhandene Gebäude und dessen Außenwand ist die Anlage eines Balkons nicht denkbar. Dieser Balkon bewirkt, dass sich die von dem Gebäude insgesamt ausgehenden Wirkungen, gerade in Bezug auf den abstandflächenrechtlich geregelten Schutz des Nachbargrundstücks vor fremder Einsichtnahme, nachteilig verändern.

Ausweislich der mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen Ansichtszeichnung Nord-Ost kann die rückwärtige Gebäudewand die Abstandfläche zur Grundstücksgrenze der Kläger bereits ohne Berücksichtigung des Daches und Giebels ebenfalls nur unter Anwendung des Schmalseitenprivilegs einhalten (abgegriffenes Maß): Grenzabstand: 8,20 m; Abstandfläche: 12,55 m x 0,8 = 10,04 m.

Danach ist nicht sicher festzustellen, ob die erforderliche Abstandfläche eingehalten wird. Die Abstandfläche beträgt unter Einbeziehung der Umwehrung des Balkons nach den Maßen des amtlichen Lageplans 4,23 m (4,39 m + 0,90 m x 0,8) und nach den Ansichtszeichnungen Nord-West bzw. Nord-Ost 4,65 m (4,92 m +0,90 m x 0,8). Die letztgenannte Abstandfläche liegt mit ca. 0,40 m bereits auf dem Grundstück der Kläger und damit nicht mehr vollständig auf dem der Beigeladenen.

Eine Verwirkung des Abwehrrechts der Kläger ist schließlich nicht anzunehmen. (wird ausgeführt)

Ende der Entscheidung

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