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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 10.04.2007
Aktenzeichen: 10 A 3915/05
Rechtsgebiete: BauGB


Vorschriften:

BauGB § 31 Abs. 2
1. Wegen Funktionslosigkeit kann eine bauleitplanerische Festsetzung unwirksam werden, wenn ein erkennbar dauerhafter Widerspruch zwischen den tatsächlichen Verhältnissen im Plangebiet und der Festsetzung besteht und derart gravierend ist, dass ein Vertrauen in die Fortgeltung der Festsetzung nicht mehr schutzwürdig ist. Wann ein solcher Grad der Erkennbarkeit erreicht ist, bedarf einer wertenden Entscheidung unter Berücksichtigung u.a. der Art der Festsetzung, des Maßes der Abweichung und der Irreversibilität der entstandenen tatsächlichen Verhältnisse.

2. Die im Rahmen einer Befreiungsentscheidung (§ 31 Abs. 2 BauGB) zu prüfenden öffentlichen Belange sind nicht auf die schon bei Aufstellung des Bebauungsplans ermittelten, bewerteten und abgewogenen Belange beschränkt, sondern können auch städtebauliche Entwicklungsvorstellungen - etwa ein Einzelhandelskonzept - umfassen, wenn diese so weit konkretisierbar sind, dass ihre Umsetzung für das Plangebiet ohne weiteres zu erwarten ist.


Tatbestand:

Die Klägerin plante die Errichtung eines Lebensmittelmarktes. Der Beklagte lehnte den von ihr beantragten Bauvorbescheid jedoch ab, weil das Vorhaben die durch Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen nicht einhielt. Die Baugrenzen sollten nach dem ursprünglichen Plankonzept einen Mindestabstand zu einer angrenzend geplanten Straße sicherstellen. Die Klägerin begehrte eine Befreiung von dieser Festsetzung, weil die vorgesehene Straße inzwischen an anderer Stelle realisiert worden sei. Der Beklagte erteilte die Befreiung nicht, weil der Rat auf der Basis eines Einzelhandelskonzepts die Festsetzung eines Einzelhandelsausschlusses u.a. für das Grundstück der Klägerin im Wege der Planänderung vorsah. Das VG wies die Klage ab. Nach Inkrafttreten einer Veränderungssperre hielt die Klägerin ihren hilfsweise gestellten Fortsetzungsfeststellungsantrag aufrecht; ihr Antrag auf Zulassung der Berufung blieb allerdings erfolglos.

Gründe:

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags - Feststellung, dass die Klägerin vor Inkrafttreten der Veränderungssperre einen Anspruch auf den beantragten Vorbescheid hatte - sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht gegeben. Weder ist die dem Vorhaben der Klägerin entgegenstehende Festsetzung einer westlichen Baugrenze im Bebauungsplan Nr. 5483/03 funktionslos geworden (dazu 1.) noch hatte die Klägerin Anspruch auf Erteilung einer Befreiung von dieser Festsetzung (dazu 2.).

1.

Wegen Funktionslosigkeit können ein Bebauungsplan bzw. einzelne Festsetzungen eines Bebauungsplan unwirksam werden, wenn die Verhältnisse, auf die sie sich beziehen, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung dieser Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt. Die Funktionslosigkeit folgt danach aus einem tatsächlichen und einem normativen Element: Sie beruht in tatsächlicher Hinsicht auf einer erkennbar dauerhaften Änderung der faktischen Umstände im Widerspruch zu den Planfestsetzungen. In normativer Hinsicht ist es erforderlich, dass die Erkennbarkeit der Abweichung einen Grad erreicht hat, der eine Verwirklichung der Festsetzung realistischerweise nicht mehr erwarten lässt und deshalb einem in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt. Wann von einem solchen Grad der Erkennbarkeit die Rede sein kann, lässt sich nicht abstrakt bestimmen, sondern bedarf einer wertenden Entscheidung unter Berücksichtigung u.a. der Art der Festsetzung, des Maßes der Abweichung und der Irreversibilität der entstandenen tatsächlichen Verhältnisse.

BVerwG, Beschluss vom 29.5.2001 - 4 B 33.01 -, BRS 64 Nr. 72; Beschluss vom 6.6.1997 - 4 NB 6.97 -, BRS 59 Nr. 54, jeweils m.w.N.

Gemessen an diesen Maßstäben ist die Festsetzung der westlichen Baugrenze auf dem Vorhabengrundstück nicht funktionslos geworden. Der Klägerin ist zwar zuzugeben, dass der Beklagte offenbar in der Vergangenheit wenig Wert auf diese Festsetzung gelegt hat, weil er für Bauvorhaben mehrfach von ihr befreit hat; auch mag die ursprüngliche Funktion der Festsetzung - Abstand zu einer geplanten Straße zu wahren - durch Umplanung der Straße weggefallen sein. Dennoch fehlt es bereits an der ersten Voraussetzung für die Annahme der Funktionslosigkeit, nämlich an einem Auseinanderfallen von tatsächlicher Situation und bauleitplanerischer Festsetzung. Obwohl für die nicht überbaubare Grundstücksfläche jenseits der westlichen Baugrenze zwei Baugenehmigungen unter Befreiung von der Baugrenze erteilt und mehrfach verlängert worden sind, ist diese Fläche nach wie vor im streitgegenständlichen Bereich unbebaut geblieben, so dass es an erkennbaren Anhaltspunkten für die Annahme fehlt, die bauleitplanerische Festsetzung werde dauerhaft nicht mehr zu verwirklichen sein; die bloße Erteilung einer Baugenehmigung reicht insoweit nicht aus. Auch die weitere Frage, ob der von der Klägerin behauptete Wegfall der ursprünglichen tatsächlichen Funktion der westlichen Baugrenze zu ihrer Funktionslosigkeit im rechtlichen Sinne führen könne, ist zu verneinen. Denn es reicht gerade nicht aus, dass die betroffene Planfestsetzung die ihr ursprünglich zugedachte Aufgabe nicht mehr erfüllen kann, wenn sie bisher eingehalten worden ist. Neben dem tatsächlichen Element der Funktionslosigkeit - Auseinanderfallen von bauleitplanerisch festgesetzter und tatsächlicher Situation - fehlt es damit auch an dem normativen Element eines Vertrauens in den Fortbestand dieser Diskrepanz. Dies gilt schon deshalb, weil - wie das VG zu Recht ausgeführt hat - der westlichen Baugrenze von Anfang an zusätzliche Funktionen zugekommen oder im Laufe der Zeit zugewachsen sein mögen. Falls der Plangeber auf die von ihm selbst getroffene Festsetzung dauerhaft verzichten will, steht ihm die Möglichkeit der - ggf. vereinfachten - Planänderung zur Verfügung. Die Rechtsfigur der Funktionslosigkeit hilft in einer solchen Situation nicht weiter, da sie gerade auf den Fall zugeschnitten ist, dass auch eine neuerliche planerische Entscheidung des Satzungsgebers die sich mittlerweile im Gegensatz zu den Planfestsetzungen entwickelte Realität zur Kenntnis nehmen müsste. Daran fehlt es hier; der Satzungsgeber kann vielmehr bei der eingeleiteten Neuplanung im Rahmen des ihm eingeräumten Planungsspielraums entscheiden, ob er an der Baugrenze festhalten oder die überbaubare Grundstücksfläche ausweiten will.

2.

Das Urteil des VG unterliegt auch insoweit keinen ernstlichen Zweifeln, als es einen Anspruch der Klägerin auf Erteilung einer Befreiung von der westlichen Baugrenze abgelehnt hat. Nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB kann eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans erteilt werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und wenn sie auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Im vorliegenden Fall ist die Erteilung einer Befreiung ausgeschlossen, weil sie gegen öffentliche Belange verstößt.

Allerdings dürfte eine Inanspruchnahme der nicht überbaubaren Grundstücksflächen westlich der Baugrenze weder die Grundzüge der planerischen Konzeption des Bebauungsplans Nr. 5483/03 berühren noch dürfte sie städtebaulich unvertretbar sein; auch ist eine Beeinträchtigung nachbarlicher Interessen nicht erkennbar. Denn für das Plankonzept war die westliche Baugrenze nicht von wesentlicher Bedeutung, auch wenn es im Planaufstellungsverfahren zu Änderungen ihres Verlaufs gekommen ist. Im Vordergrund standen vielmehr die Ausweisung eines Gewerbegebiets mit großen Flächen für Gebäude und Parkplätze der Fa. K. und deren Binnenerschließung. Auch ist die Abweichung von den festgesetzten Baugrenzen städtebaulich vertretbar; dies ergibt sich ohne weiteres aus dem Umstand, dass der Beklagte in der Vergangenheit mehrfach derartige Befreiungen erteilt hat. Die Erteilung einer Befreiung und damit des beantragten Vorbescheids scheitert jedoch daran, dass die Abweichung mit den öffentlichen Belangen unvereinbar ist.

Welche Umstände als öffentliche Belange im Sinne von § 31 Abs. 2 BauGB eine Befreiung ausschließen, lässt sich nicht abstrakt beantworten. Als öffentliche Belange in diesem Sinne sind zunächst solche Umstände zu werten, die bei einer Erteilung der Befreiung und Verwirklichung des entsprechenden Vorhabens Spannungen in das Gebiet hineintragen würden, die nur durch Planung zu bewältigen wären. Allerdings spricht viel dafür, den Begriff der öffentlichen Belange in einem noch weiteren Sinne zu verstehen, weil er bei einem derart engen Verständnis im Hinblick auf die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB sonst bedeutungslos wäre. Öffentliche Belange im Rahmen einer Befreiungsentscheidungen sind deshalb nicht auf diejenigen Belange beschränkt, die schon bei Aufstellung des Bebauungsplans, von dessen Festsetzungen befreit werden soll, ermittelt und abgewogen worden sind. Es kann sich auch um Festsetzungen eines zukünftigen Bebauungsplans handeln, der Planreife im Sinne von § 33 BauGB erreicht hat, oder um andere städtebauliche Entwicklungsvorstellungen, die bereits so weit konkretisiert bzw. konkretisierbar sind, dass ihre Umsetzung für das Plangebiet ohne weiteres zu erwarten ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.9.2002 - 4 C 13.01 -, BRS 65 Nr. 74 -; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.6.2003 - 3 S 2324/02 -, BRS 66 Nr. 91 -; Reidt in: Gelzer / Bracher / Reidt, Bauplanungsrecht, 7. Auflage, Rz 1732 (auch zu einem Einzelhandelskonzept); Dürr in: Brügelmann, BauGB, § 31 Rz 52-54.

Im vorliegenden Fall ist die Veränderungssperre, die eine förmliche Planänderung absichern soll, zwar erst am 9.4.2005 in Kraft getreten. Schon Ende 2003 / Anfang 2004 lag allerdings ein Einzelhandelskonzept vor, das einen planerisch umzusetzenden Einzelhandelsausschluss am streitgegenständlichen Standort vorsah, weil eine Schwächung der benachbarten Stadtteilzentren verhindert werden sollte. Dieses bereits vorliegende Konzept war auch ohne weiteres umsetzungsfähig; aus den Verwaltungsvorgängen ergibt sich, dass der streitgegenständliche Antrag auf Erteilung des Bauvorbescheids unter Befreiung von der Baugrenzenfestsetzung den Anlass bot, dieses Konzept durch Erlass eines Planaufstellungsbeschlusses umzusetzen. An die Stelle der ursprünglichen planerischen Konzeption des Bebauungsplans Nr. 5483/03 - Freihaltung der Flächen gegenüber der geplanten Landesstraße - trat damit eine planerische Konzeption, deren Umsetzung ohne weitere Konkretisierungsschritte möglich und zu erwarten war. Dies genügt den Anforderungen an die Annahme öffentlicher Belange im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB.

Der Umstand, dass ein Bauvorhaben zur Einzelhandelsnutzung, das sich auf dem Grundstück der Klägerin innerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen gehalten hätte, zu jenem Zeitpunkt noch nicht hätte verhindert werden können, zieht dieses Ergebnis nicht in Zweifel. Denn im vorliegenden Fall geht es gerade nicht um die Verwirklichung einer plankonformen Nutzung, sondern um die Genehmigung einer planwidrigen Abweichung von den Festsetzungen des Bebauungsplans in einem atypischen Fall. Dass schließlich die neu hinzugetretenen planerischen Vorstellungen des Beklagten die Art der baulichen Nutzung, nicht aber die überbaubare Grundstücksfläche betreffen, führt gleichfalls nicht zur Zulassung der Berufung. Denn der Begriff der öffentlichen Belange im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB ist nicht auf diejenigen Belange begrenzt, die unmittelbar der Begründung derjenigen Planfestsetzung dienen, von der abgewichen werden soll, sondern ist - wie ausgeführt - weiter zu verstehen und kann auch solche Belange umfassen, die in die planerische Abwägungsentscheidung überhaupt noch nicht einfließen konnten.

Ob die Ablehnung der Befreiung von der Festsetzung der westlichen Baugrenze auch im Rahmen des dem Beklagten eingeräumten Ermessens auf die seinerzeit bereits bestehenden abweichenden Planungsabsichten hätte gestützt werden können -, so etwa BVerwG, Urteil vom 19.9.2002 - 4 C 13.01 -, BRS 65 Nr. 74 -, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung; allerdings sind entsprechende Ermessenserwägungen weder im Ausgangs- noch im Widerspruchsbescheid angeführt.

Ende der Entscheidung

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