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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 02.04.2003
Aktenzeichen: 10 B 1572/02
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80a Abs. 1 Nr. 2
VwGO § 80 Abs. 3
1. Die Baugenehmigung für eine Windkraftanlage muss auf einer Prognose der einschlägigen Immissionsbelastungen bei Nennleistung beruhen, die "auf der sicheren Seite" liegt und gegebenenfalls Sicherheitszuschläge wegen möglicher Serienstreuung, besonders lästiger Auffälligkeiten oder der Richtwirkung der Schallabstrahlung enthält; ob der einschlägige Nachtwert an den relevanten Immissionsorten eingehalten wird, ist durch eine Ausbreitungsrechnung nach dem Alternativen Verfahren gemäß DIN ISO 9613-2 Abschnitt 7.3.2 zu ermitteln (wie OVG NRW, Urteil vom 18.11.2002 - 7 A 2127/00 -).

2. Zu den Beeinträchtigungen, die von einer Windkraftanlage im Hinblick auf bewohnte Grundstücke ausgehen können, gehört möglicherweise auch eine optisch bedrängende Wirkung, welche durch die Höhe moderner Anlagen in Verbindung mit den sich ständig drehenden Rotorblättern hervorgerufen wird.


Tatbestand:

Der Antragsteller wandte sich gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung einer Windkraftanlage, deren vorgesehener Standort von seinem Wohnhaus etwas mehr als 200 m entfernt liegt. Sowohl das Baugrundstück als auch das Grundstück des Antragstellers sind im Außenbereich gelegen. Die angefochtene Baugenehmigung beinhaltet eine Nebenbestimmung, wonach die Windkraftanlage nur mit einer elektrischen Leistung unterhalb ihrer Nennleistung betrieben werden darf, solange nicht nachgewiesen ist, dass auch bei Nennleistungsbetrieb die einschlägigen Lärmwerte an den maßgeblichen Immissionspunkten eingehalten werden. Das VG ordnete die aufschiebende Wirkung des vom Antragsteller gegen die Baugenehmigung eingelegten Widerspruchs an. Die dagegen gerichteten Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen hatten keinen Erfolg.

Gründe:

Die Beschwerde des Beigeladenen ist bereits unzulässig. (Wird ausgeführt). Die Beschwerde des Antragsgegners ist nicht begründet. Aus den in der Beschwerdeschrift dargelegten Gründen, die der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, ergibt sich nicht, dass die angefochtene Entscheidung des VG im Ergebnis zu ändern und der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen ist.

Der Antragsgegner behauptet, die Baugenehmigung in ihrer ursprünglichen Form stelle mit der Nebenbestimmung Nr. 17 sicher, dass die genehmigte Windkraftanlage von Be-ginn ihrer Inbetriebnahme an keine schädlichen Umwelteinwirkungen für das Grundstück des Antragstellers hervorrufe. In den Nachtstunden könne durch den von der Windkraftanlage erzeugten Lärm - vorausgesetzt, die Windkraftanlage werde der Baugenehmigung entsprechend betrieben - an dem auf dem Grundstück des Antragstellers gelegenen Immissionspunkt IP 4 maximal ein Schalldruckpegel von 45 dB(A) auftreten.

Diese Behauptungen treffen nicht zu. Die Nebenbestimmung Nr. 17 stellt nämlich keineswegs sicher, dass der von der geplanten Windkraftanlage in den Nachtstunden am IP 4 verursachte Schalldruckpegel von Beginn der Inbetriebnahme an einen Wert von 45 dB(A) nicht übersteigt. Die von dem Ingenieurbüro R. gefertigte Schallprognose in der geänderten Fassung vom 12.9.2000, auf der die Nebenbestimmung Nr. 17 beruht, stellt keine ausreichend sichere Prognose dar.

Nach der jüngsten Rechtsprechung des ebenfalls mit Bausachen befassten 7. Senats des erkennenden Gerichts muss die Baugenehmigung auf einer Prognose der einschlägigen Immissionsbelastungen bei Nennleistung beruhen, die "auf der sicheren Seite" liegt. Der Prognose ist der zumeist mit einem Sicherheitszuschlag wegen möglicher Serienstreuung versehene Schallleistungspegel zu Grunde zu legen, der für die Nennleistung bei einer Referenzmessung desselben Anlagentyps ermittelt worden ist und in dem die gegebenenfalls ermittelten Zuschläge für besonders lästige Auffälligkeiten enthalten sind. Der Richtwirkung der Schallabstrahlung ist gegebenenfalls mit weiteren Zuschlägen Rechnung zu tragen. Schließlich ist in einer Ausbreitungsrechnung nach dem Alternativen Verfahren gemäß DIN ISO 9613-2 Abschnitt 7.3.2 zu ermitteln, ob an den relevanten Immissionsorten der einschlägige Nachtwert eingehalten wird. Ergibt die Pognose, dass die Zumutbarkeitsschwelle nicht eingehalten wird, muss durch konkrete Betriebsregelungen - zum Beispiel durch Begrenzung der Emissionen der Anlage auf einen Schallleistungspegel, der unterhalb des bei Nennleistung erzeugten Schallleistungspegels liegt - sichergestellt werden, dass die Zumutbarkeitsschwelle nicht überschritten wird (vgl. OVG NRW, Urteil vom 18.11.2002 - 7 A 2127/00 -).

Diesen Anforderungen an eine sichere Prognose entspricht das der Nebenbestimmung Nr. 17 zu Grunde gelegte Schalltechnische Gutachten des Ingenieurbüros R. schon deshalb nicht, weil darin die Ausbreitung des Schalls nicht nach dem Alternativen Verfahren gemäß DIN ISO 9613-2 Abschnitt 7.3.2 berechnet worden ist.

Die ergänzende Stellungnahme des Ingenieurbüros R. zum Gutachten vom 19.9.2002, die nunmehr das Alternative Verfahren gemäß DIN ISO 9613-2 Abschnitt 7.3.2 zur Berechnung der Schallausbreitung verwendet und für die Gesamtheit der Messunsicherheiten einen Zuschlag von 2,5 dB(A) berücksichtigt, macht deutlich, dass die Regelungen der Baugenehmigung in ihrer ursprünglichen Form die Einhaltung der für die Nachtstunden maßgeblichen Immissionswerte am IP 4 nicht garantierten. Um dort einen Nachtwert von nicht mehr als 45 dB(A) sicherzustellen, bedarf es nach der ergänzenden Stellungnahme einer Begrenzung der elektrischen Leistung der Windkraftanlage auf 520 kW, um so ihren Schallleistungspegel auf maximal 97,8 dB(A) herabzusetzen. Die Baugenehmigung in ihrer ursprünglichen Form sah hingegen - entsprechend dem Schreiben des Anlagenherstellers E. vom 22.11.2000 - lediglich eine Herabsetzung der Nennleistung auf maximal 850 kW und damit nur eine Reduzierung des Schallleistungspegels von 100,8 dB(A) um 1,5 dB(A) vor.

Nach allem ergibt sich aus den mit der Beschwerdeschrift dargelegten Gründen nicht, dass die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keine Nachbarrechte des Antragstellers verletzt und insoweit offensichtlich rechtmäßig ist. Vielmehr erscheint bei der in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, sodass die Erfolgsaussichten der Klage im Rahmen der nach den §§ 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung nicht berücksichtigt werden können.

In diesem Zusammenhang trägt der Antragsgegner mit der Beschwerdebegründung vor, eine von den Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren unabhängige Interessenabwägung müsse zu Lasten des Antragstellers ausfallen. Der Beigeladene habe substanziiert dargelegt, welche wirtschaftlichen Interessen er mit der Errichtung der Windkraftanlage verfolge und welche Nachteile ihm infolge einer Verzögerung durch das Abwarten der Entscheidung im Hauptsacheverfahren entstehen würden. Das erhebliche Investitionsvolumen des Bauvorhabens begründe im Hinblick auf die Beschaffung von Finanzmitteln und die letztlich beabsichtigte Gewinnerzielung ein besonderes Interesse des Beigeladenen an der alsbaldigen Ausnutzung der Baugenehmigung. Auch würden durch die Errichtung der Windkraftanlage vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens keine unumkehrbaren Fakten geschaffen. Angesichts der gegen die Baugenehmigung erhobenen Klage des Antragstellers errichte der Beigeladene die Anlage auf eigenes Risiko. Wenn sich nachträglich herausstelle, dass die Baugenehmigung wegen eines Verstoßes gegen die Nachbarrechte des Antragstellers rechtswidrig sei, könne dieser die Beseitigung der Windkraftanlage verlangen und durchsetzen.

Der Senat verkennt das Gewicht der Interessen des Beigeladenen nicht. Gleichwohl ist auch insoweit das Ergebnis der vom VG getroffenen Interessenabwägung nicht zu beanstanden. Die Abwägung der gegenläufigen Interessen muss zu Gunsten des Antragstellers ausfallen. Sein Interesse, von den negativen Auswirkungen der geplanten Windkraftanlage bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt das vorstehend beschriebene Interesse des Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung.

Ob es dem Nachbarn zuzumuten ist, bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens die negativen Auswirkungen einer Windkraftanlage vorläufig - das heißt bis zum Abschluss des in Bezug auf die Baugenehmigung geführten Klageverfahrens und gegebenenfalls bis zum Abschluss eines sich anschließenden Verfahrens auf Beseitigung der Anlage - hinzunehmen, hängt nicht zuletzt von dem Ausmaß der zu erwartenden Beeinträchtigungen ab. Bei der Bewertung dieser Beeinträchtigungen kann die Entfernung zwischen dem vorgesehenen Standort der Windkraftanlage und dem zu schützenden Grundstücksbereich des betroffenen Nachbarn eine wesentliche Rolle spielen. Regelmäßig werden die von einer Windkraftanlage ausgehenden Beeinträchtigungen zunehmen, je dichter ihr Standort an ein bewohntes Grundstück heranrückt. Dies gilt nicht nur für den von ihr verursachten Lärm oder Schattenwurf. Vielmehr muss auch die optisch bedrängende Wirkung, die durch die Höhe moderner Anlagen in Verbindung mit den sich ständig drehenden Rotorblättern möglicherweise hervorgerufen werden kann, in die Betrachtung eingestellt werden. Dass dieser zuletzt genannte Aspekt in der jüngeren Rechtsprechung keine wesentliche Rolle mehr gespielt hat, hängt letztlich damit zusammen, dass die Windkraftanlagen, mit denen die Gerichte befasst waren, wegen des von ihnen erzeugten Lärms stets einen Abstand zu den umliegenden Wohnhäusern einhalten mussten, bei dem eine solche bedrängende Wirkung wohl zu verneinen war. Der Senat neigt dazu, jedenfalls bei einem Abstand jenseits der 300 m insoweit keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme anzunehmen. Inzwischen gestattet es die technische Entwicklung jedoch, Windkraftanlagen zu bauen, die bei Einhaltung der maßgeblichen Lärmrichtwerte sehr viel näher an vorhandene Wohnhäuser heranrücken können, ohne dass allen dadurch berührten Belangen der Bewohner durch die Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandflächenvorschriften ausreichend Rechnung getragen wird. In einem solchen Fall kann der Aspekt einer möglicherweise bedrängenden Wirkung bei der Interessenabwägung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ausschlaggebend sein.

So ist es hier. Der geplante Standort der mehr als 100 m hohen Windkraftanlage, gegen deren Genehmigung sich der Antragsteller wendet, ist nach den vorliegenden Schallgutachten des Ingenieurbüros R. von dem maßgeblichen Immissionspunkt auf dem Grundstück des Antragstellers nur 209 m entfernt. Er liegt damit in einem Bereich, der - was die Bebauung mit Windkraftanlagen angeht - als absoluter Nahbereich des Wohngrundstücks bezeichnet werden kann. Zwar lässt sich im vorliegenden Verfahren nicht hinreichend sicher beurteilen, ob das Vorhaben allein wegen seiner optisch bedrängenden Wirkung dem Antragsteller gegenüber rücksichtslos ist, doch ist angesichts des geringen Abstandes der Anlage zum Wohnhaus des Antragstellers - selbst wenn die Grenze der Rücksichtslosigkeit nicht überschritten sein sollte - von erheblichen optischen Beeinträchtigungen auszugehen, die den Wohnwert seines Hauses wesentlich herabzusetzen und sein Wohlbefinden sowie das seiner Familie empfindlich zu stören vermögen. Dies umso mehr, als nach den vorliegenden Unterlagen sowohl die Terrasse als auch verschiedene Fenster von Aufenthaltsräumen auf den südöstlich des Wohnhauses geplanten Standort der Windkraftanlage ausgerichtet sind. Die privaten wirtschaftlichen Interessen des Beigeladenen - auch wenn sie nicht gering einzuschätzen sind - rechtfertigen es nicht, dem Antragsteller im konkreten Fall die über Lärm und Schattenwurf hinausgehenden Auswirkungen der Windkraftanlage für einen Zeitraum zuzumuten, der unter Umständen mehrere Jahre betragen kann.

Ende der Entscheidung

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