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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 09.02.2009
Aktenzeichen: 10 B 1713/08
Rechtsgebiete: BauGB, BauO NRW


Vorschriften:

BauGB § 34 Abs. 1
BauO NRW § 6
Die Einhaltung der Abstandflächen nach § 6 BauO NRW schließt eine Prüfung des planungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme weder grundsätzlich noch regelmäßig aus.
Tatbestand:

Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines eingeschossigen Bungalows. Sie wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines zweigeschossigen Einfamilienhauses auf dem im hängigen Gelände oberhalb gelegenen Nachbargrundstück. Gegen die Baugenehmigung hat die Antragstellerin vor dem VG Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage lehnte das VG ab. Die Beschwerde der Antragstellerin blieb erfolglos.

Gründe:

Der Einwand, das VG habe den Sachverhalt nicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO von Amts wegen hinreichend ermittelt und es insbesondere unterlassen, eine Ortsbesichtigung durchzuführen, greift nicht durch. Das Beschwerdegericht prüft in dem durch § 146 Abs. 4 VwGO vorgegebenen Rahmen selbstständig, ob ein Anspruch der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegeben ist. Unabhängig davon ist das vorliegende Karten- und Lichtbildmaterial hinreichend aussagekräftig, um eine Beurteilung auch ohne Ortsbesichtigung vornehmen zu können.

Die für die Errichtung eines Einfamilienhauses auf dem Grundstück des Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstößt nicht gegen Vorschriften des öffentlichen Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, die auch dem Schutz der Antragstellerin zu dienen bestimmt sind.

Die von der Antragstellerin geltend gemachten Zweifel an der Einhaltung der Abstandflächen sind unberechtigt. Nach den genehmigten Bauvorlagen wird gegenüber ihrem Grundstück die nach § 6 Abs. 1, 4, 5 und 6 BauO NRW erforderliche Abstandfläche eingehalten. Bei der Ermittlung der maßgeblichen Wandhöhe (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BauO NRW) wurde zutreffend auf die natürliche Geländeoberfläche abgestellt und die Anschüttung unberücksichtigt gelassen. Für eine von der Antragstellerin für möglich gehaltene Verschiebung der Grundstücksgrenze zu ihren Lasten ergeben sich angesichts des im amtlichen Lageplan dargestellten eindeutigen Grenzverlaufs keine Anhaltspunkte.

Der von der Antragstellerin im Hinblick auf die Höhe des Vorhabens geltend gemachte Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot liegt unter Würdigung des Beschwerdevorbringens und des darin in Bezug genommenen Schriftsatzes vom 7.11.2008 nicht vor.

§ 34 Abs. 1 BauGB entfaltet nachbarschützende Wirkung nur über das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens verankerte Rücksichtnahmegebot. Für die Annahme einer Rücksichtslosigkeit in diesem Sinne reicht es nicht aus, dass ein Vorhaben sich nicht in jeder Hinsicht innerhalb des Rahmens hält, der durch die Bebauung der Umgebung gebildet wird. Hinzu kommen muss objektivrechtlich, dass es im Verhältnis zu seiner Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen erzeugt, die potentiell ein Planungsbedürfnis nach sich ziehen, und subjektivrechtlich, dass es die gebotene Rücksichtnahme speziell auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung vermissen lässt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.2.1977 - IV C 22.75 -, BRS 32 Nr. 77, Beschluss vom 13.2.1981 - 4 B 14.81 -, BRS 38 Nr. 82.

Die Einhaltung der Abstandflächen nach § 6 BauO NRW schließt eine Prüfung des planungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme weder grundsätzlich noch regelmäßig aus.

Die Annahme eines Lex-Specialis-Verhältnisses zwischen den Regelungen des § 6 BauO NRW und dem in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Gebot der Rücksichtnahme verbietet sich schon wegen ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Rechtsgebieten mit unterschiedlicher Zweckrichtung und unterschiedlicher Gesetzgebungskompetenz.

Vgl. Rechtsgutachten des BVerfG vom 16.7.1954 - 1 PBvV 2/52 -, BVerfGE 3, 407 ff., und BVerwG, Urteil vom 7.12.2000 - 4 C 3.00 -, BRS 63 Nr. 160, zum Verhältnis der nachbarschützenden Vorschrift des § 46 NBauO (in NRW § 51 Abs. 7 BauO NRW) zum Gebot der Rücksichtnahme.

Die landesrechtliche Vorschrift des § 6 BauO NRW gehört zum Bauordnungsrecht, während § 34 BauGB eine Regelung des bundesrechtlichen Bodenrechts ist.

Das BVerwG geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass beide Rechtsvorschriften selbständig zu prüfen sind und das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme auch verletzt sein kann, wenn die landesrechtlichen Abstandsvorschriften eingehalten werden.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 11.1.1999 - 4 B 128.98 -, BRS 62 Nr. 102, m. w. N.

In der genannten Entscheidung hat es allerdings auch ausgeführt, dass das Gebot der Rücksichtnahme zumindest im Regelfall nicht verletzt sein wird, wenn die Abstandflächenvorschriften eingehalten sind.

Das VG weist in dem angefochtenen Beschluss zu Recht darauf hin, dass das OVG NRW - entsprechend dieser Rechtsprechung - im Falle der Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandflächen grundsätzlich keinen Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme angenommen hat. Mit § 6 BauO NRW habe der Gesetzgeber insoweit regelmäßig abschließend festgelegt, welches Maß an Rücksichtnahme der Bauherr seinen Nachbarn schulde und wann diesem ein Vorhaben auf dem Nachbargrundstück unzumutbar sei. Unter diesen Gesichtspunkten lasse sich deshalb bei gewahrten Abstandflächen eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens nicht begründen.

Vgl. OVG NRW Urteile vom 29.8.2005 - 10 A 3138/02 -, und vom 22.8.2005 - 7 A 806/04 -.

Diese Rechtsprechung bedarf - in Abstimmung mit dem ebenfalls für Baurecht zuständigen 7. Senat - nach der Novellierung des § 6 BauO NRW durch das 2. Gesetz zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2006 (GV.NRW. S. 614) und nach dessen Inkrafttreten am 28.12.2006 der Modifizierung. Der Senat hat danach bereits ausgeführt, dass es fraglich erscheint, ob an der bisherigen Rechtsprechung zur Einhaltung der Abstandflächen als Indiz für die Beachtung des Rücksichtnahmegebots in vollem Umfang festzuhalten ist, nachdem das Abstandflächenrecht zugunsten einer besseren Ausnutzbarkeit der Grundstücke und zu Lasten der Nachbarn geändert worden ist.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27.6.2008 - 10 B 866/08 -, und vom 29.9.2008 - 10 A 3575/07 -.

Zwar hat sich der nordrhein-westfälische Gesetzgeber anders als andere Bundesländer gegen die Übernahme des § 6 Musterbauordnung 2002 und damit gegen eine Reduzierung des Abstandflächenrechts auf ein sicherheitsrelevantes Minimum entschieden. Im Gesetzentwurf der Landesregierung (vom 31.08.2006, LT-Drucks. 14/2433, Seite 11) wird zu Sinn und Zweck des novellierten nordrhein-westfälischen Abstandflächenrechts ausführt:

"Die Notwendigkeit von Regelungen über Abstandflächen ergibt sich aus Gründen des Städtebaus, der Sicherung einer ausreichenden Belichtung, des Brandschutzes sowie der Wahrung des nachbarlichen Wohnfriedens (Sozialabstand). Die Regelungen des § 6 sollen im Hinblick auf diese Belange dem Nachbarn ein angemessenes Maß an Schutz garantieren, aber zugleich auch den Standard dessen festlegen, was ein Nachbar an Bebauung in welchem Abstand hinzunehmen hat. Damit soll gewährleistet bleiben, dass auch weiterhin entsprechend der bisherigen Rechtsprechung das Gebot der Rücksichtnahme hinsichtlich der Schutzziele des Abstandflächenrechts erfüllt ist, wenn die nach § 6 vorgeschriebenen Abstandflächen auf dem Grundstück eingehalten werden".

Dieses weitgehende Bekenntnis zur bisherigen Rechtsnatur des Abstandflächenrechts einschließlich seiner städtebaulichen Funktion darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der nordrhein-westfälische Gesetzgeber mit der Novelle das bisher geltende Abstandflächensystem überwiegend zu Lasten des Nachbarn geändert hat. Dabei folgt eine entscheidende Verkürzung der Abstandflächen aus dem Wegfall des sogenannten Schmalseitenprivilegs.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 22.1.2007 - 10 B 2456/06 - BauR 2007, 1021, und zu den weiteren Änderungen im Einzelnen Schulte, Abstände und Abstandflächen in der Schnittstelle zwischen Bundes- und Landesrecht - Der neue § 6 BauO NRW und seine Bezüge zum Bauplanungsrecht - BauR 2007, 1514, 1518 ff.

Nach der neuen Rechtslage ist die Einhaltung der Abstandflächen nicht alleiniges Kriterium für die Beachtung des Rücksichtnahmegebots. Der bisherige Automatismus erweist sich dort als sachwidrig, wo es zu einer nachhaltigen Verkürzung der Abstandflächen durch die Novelle gekommen ist. In solchen Fällen ist eine eigenständige Prüfung des Gebots der Rücksichtnahme angezeigt. Im übrigen kann die Einhaltung der Abstandflächen für die Wahrung des Gebots der Rücksichtnahme aussagekräftig sein.

Im vorliegenden Fall kann nicht festgestellt werden, dass das Vorhaben des Beigeladenen der Antragstellerin gegenüber rücksichtslos ist. Das Vorhaben, das einem der Wohnzimmerfenster und der Terrasse des Wohngebäudes der Antragstellerin gegenüber liegt, führt zwar zu gewissen Beeinträchtigungen; die von der Antragstellerin behauptete erdrückende Wirkung auf ihr Grundstück ist jedoch nicht gegeben.

Eine erdrückende Wirkung hat die Rechtsprechung angenommen, wenn eine bauliche Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich "die Luft nimmt", wenn für den Nachbarn das Gefühl des "Eingemauertseins" entsteht oder wenn die Größe des "erdrückenden" Gebäudes auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls - und gegebenenfalls trotz Wahrung der erforderlichen Abstandflächen - derartig übermächtig ist, dass das "erdrückte" Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem "herrschenden" Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29.8.2005 - 10 A 3138/02 -, juris, Beschlüsse vom 13.1.2005 - 10 B 971/05 -, juris, vom 15.5.2002 - 7 B 558/02 -, juris, vom 21.3.2007 - 7 B 137/07 -, und vom 28.3.2008 - 7 B 274/08 -.

Von einer solchen Wirkung kann angesichts der konkreten Lage und Größe der Gebäude, die sich ohne weiteres aus dem vorliegenden Karten- und Bildmaterial ergibt, nicht die Rede sein. Ihr steht bereits entgegen, dass das Vorhaben des Beigeladenen mit einer vergleichsweise geringen Bautiefe von 10,50 m dem über 32 m tiefen Gebäude der Antragstellerin nur teilweise gegenüber liegt. Auch wenn das Bauvorhaben infolge der Hanglage und seiner Zweigeschossigkeit deutlich höher ist als das eingeschossige Wohnhaus der Antragstellerin stehen die Gebäude gleichberechtigt nebeneinander.

Ein Rücksichtslosigkeit des Vorhabens ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die geltend gemachte Verschattung und die Möglichkeit eines Einblicks auf das Grundstück der Antragstellerin. Maßgeblich ist auch insoweit, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dabei sind u.a. die topografischen Verhältnisse, die Lage der Grundstücke zueinander, die Größe der Grundstücke sowie die Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit bestehender Nutzungen von Bedeutung.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.8.2005 - 10 A 3611/03 -, Beschluss vom 29.10.2001 - 10 B 891/01 -, und Urteil vom 18.12.2003 - 10 A 2512/00 -.

Zwar wird das Wohnhaus der Antragstellerin zu bestimmten Jahreszeiten von einer Verschattung durch das Bauvorhaben betroffen sein. Dies macht das Bauvorhaben für sie jedoch noch nicht unzumutbar. In einem bebauten innerstädtischen Wohngebiet muss immer damit gerechnet werden, dass Nachbargrundstücke innerhalb des durch das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht (insbesondere § 6 BauO NRW) vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es durch eine Bebauung zu einer Verschattung des eigenen Grundstücks bzw. von Wohnräumen kommt. Entsprechendes gilt auch für Einsichtsmöglichkeiten, die in einem bebauten Gebiet üblich sind und regelmäßig hingenommen werden müssen. Dass entsprechende Einsichtsmöglichkeiten von dem bislang unbebauten Vorhabensgrundstück nicht bestanden, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn die Antragstellerin kann nicht beanspruchen, dass das Grundstück nicht oder nur so bebaut wird, dass die Möglichkeit eines Einblicks nicht gegeben ist. Angesichts der in der Umgebung vorhandenen mehrgeschossigen Bebauung (Gehrstraße 9, Haßleyer Straße 4 bis 14) musste die Antragstellerin damit rechnen, dass das Grundstück des Beigeladenen mehr als nur eingeschossig bebaut wird. Die bestehende Hanglage rechtfertigt keine anderen Erwartungen. Die behaupteten Einsichtsmöglichkeiten aus den Fenstern im Obergeschoss führen nicht dazu, dass der Antragstellerin kein Rückzugsraum auf ihrem großzügig geschnittenen Grundstück verbleibt, zumal sich die Antragstellerin durch Anpflanzungen auch unter Wahrung der nach zivilem Nachbarrecht erforderlichen Pflanzabstände gegen Einsichtnahme schützen kann.

Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass in dem Vorhaben größere Fenster eingebaut worden seien als genehmigt, kann dies im vorliegenden Verfahren nicht berücksichtigt werden, da eine abweichende Bauausführung die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung nicht berührt.

Ende der Entscheidung

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