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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 05.06.2009
Aktenzeichen: 10 B 479/09
Rechtsgebiete: BauO NRW, VwGO


Vorschriften:

BauO NRW § 82 Abs. 8 Satz 2
VwGO § 123 Abs. 1 Satz 2
1. Wird ein Gebäude abweichend von der erteilten Baugenehmigung errichtet (aliud), scheidet eine Gestattung der Ingebrauchnahme nach § 82 Abs. 8 Satz 2 BauO NRW aus.

2. In einem solchen Fall fehlt es jedenfalls an einem Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO für die Erlaubnis oder die Duldung der Nutzung.

3. Jedenfalls bei ungeklärten brandschutztechnischen Anforderungen ist für vorläufige Genehmigungen kein Raum.


Tatbestand:

Der Antragsgegner erteilte der Antragstellerin eine Baugenehmigung zum Neubau und zur Erweiterung einer Tankstelle zu einem Geschäftshaus mit Tankstelle. Nach dem zugehörigen Brandschutzkonzept sind sämtliche tragenden Wände, Pfeiler und Stützen in Stahlbeton bzw. Kalksandsteinmauerwerk in F-90 auszuführen. Über dem zweiten Obergeschosses werde eine "massive Decke" eingezogen, darüber entstehe das Tragwerk des Daches in Form einer gebogenen Holzbinder-Konstruktion als Kuppeldach. Tatsächlich wurde das Dachgeschoss als Stahlrahmenkonstruktion in Form eines Kuppel- bzw. Segmentdaches errichtet. Die tragenden Stahlstützen im 2. Obergeschoss sind in der Feuerwiderstandsklasse F-0 ausgeführt, eine massive Decke ist nicht vorhanden. Ein nach Fertigstellung eingereichter Nachtragsbauantrag mit einem geänderten Brandschutzkonzept ist bisher nicht beschieden. Die tatsächliche Ausführung entspreche den Brandschutzanforderungen der Bauordnung NRW. Nach § 29 Abs. 1 Spalte 4 Zeile 1 d) BauO NRW sei die Konstruktion für ein Geschoss im Dachraum ausreichend. Der Antragsgegner hält den Nachtragsantrag nicht für genehmigungsfähig, u. a. liege kein Geschoss im Dachraum vor, die Brandschutzanforderungen des einschlägigen § 29 Abs. 1 Spalte 4 Zeile 1 a) BauO NRW seien nicht erfüllt. Daraufhin beantragte die Antragstellerin, ihr die vorzeitige Nutzung des Obergeschosses zu gestatten. Ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Erlaubnis bzw. Duldung der Nutzung des gesamten Gebäudes einschließlich des Obergeschosses hilfsweise auf Erlass eines vorläufigen Verwaltungsaktes zur Erlaubnis oder Duldung der Nutzung des Obergeschosses blieb in beiden Instanzen erfolglos.

Gründe:

Ein Anordnungsgrund besteht nicht. Die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes ist nicht im Sinne von § 123 Abs. 1 VwGO erforderlich, der Antragstellerin ist es zuzumuten, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

Eine gerichtliche Entscheidung i. S. v. § 123 Abs. 1 VwGO ist jedenfalls bei einer hier allein in Betracht kommenden Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO nur geboten, wenn anderenfalls wesentliche Nachteile für die Antragstellerin zu erwarten sind. Wesentlich ist ein Nachteil, wenn er schwerer wiegt als der übliche Zeitverlust, den ein Kläger in Kauf zu nehmen hat, wenn er seinen Verpflichtungsanspruch - gegebenenfalls über mehrere Instanzen - verfolgt.

Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 123 Rdnr. 83; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Oktober 2008, § 123 Rdnr. 81.

Das VG hat zu Recht festgestellt, dass die von der Antragstellerin aufgezeigten betrieblichen Schwierigkeiten solche wesentlichen Nachteile i. S. v. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht begründen. Insbesondere gehen sie nicht über das hinaus, was üblicherweise ein Antragsteller bis zur Erteilung einer Baugenehmigung hinzunehmen hat. Es ist dem auf präventive Kontrolle angelegten Baugenehmigungsverfahren gerade eigen, dass die Nutzung von Grundstücken oder Gebäuden erst nach Abschluss der behördlichen Prüfung zulässig ist. Eine Abkürzung dieses Verfahrens ist - abgesehen von § 75 VwGO - grundsätzlich nicht vorgesehen.

Gründe, im Falle der Antragstellerin hiervon abzuweichen, sieht der Senat um so weniger, als sie die geltend gemachten Nachteile selbst zu vertreten hat. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Beseitigung dieser Nachteile kommt schon deshalb nicht in Betracht.

Allgemein dazu OVG NRW, Beschluss vom 15.10.2002 - 12 B 2021/02 -, NVwZ-RR 2003, 511; Puttler, a. a. O., § 123 Rdnr. 84; Kuhla, in: Posser/Wolff, VwGO, 2008, § 123 Rdnr. 128.

Ihre betrieblichen Probleme resultieren allein daraus, dass sie nicht die erteilte Baugenehmigung ausgenutzt, sondern abweichend hiervon gebaut hat. Dies betrifft nicht nur die hier im Vordergrund stehende Konstruktion des zweiten Obergeschosses und des Daches, auch in den übrigen Geschosses wurden die Vorgaben der Baugenehmigung in wesentlichen Punkten nicht eingehalten. Die Bauherrin hätte die Nachteile ohne weiteres dadurch abwehren können, dass sie genehmigungskonform gebaut oder die tatsächliche Ausführung von vornherein zur Genehmigung gestellt hätte.

Die begehrte einstweilige Regelung ist im vorliegenden Fall schließlich auch deshalb ausgeschlossen, weil im Hauptsacheverfahren gerade die Frage des ausreichenden Brandschutzes umstritten ist. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass im Hinblick auf den erforderlichen Brandschutz ein strenger Maßstab anzulegen ist, da mit der Entstehung eines Brandes mit potentiell weitreichenden Folgen für Leben und Gesundheit der Benutzer und Besucher der baulichen Anlage praktisch jederzeit gerechnet werden muss.

OVG NRW, Urteil vom 28.8.2001 - 10 A 3051/99 -, BauR 2002, 763 ff.; Beschluss vom 6.7.2006 - 10 B 695/06 -; BauR 2007, 91 f.; ebenso Nds. OVG, Urteil vom 23.9.1976 - 1 A 94/74 -, BRS 30 Nr. 163.

Aus diesem Grund ist die Bauaufsichtsbehörde bereits dann zum Erlass von Stilllegungs- und Nutzungsuntersagungsverfügungen berechtigt, wenn im vereinfachten Genehmigungsverfahren bei Baubeginn die nach § 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BauO NRW erforderliche Bescheinigung nicht vorliegt, unabhängig von der Frage, ob ein materieller Verstoß gegen die Brandschutzanforderungen der BauO NRW vorliegt. Dieser Bescheinigung kommt deshalb besondere Bedeutung zu, weil sie den Verzicht auf eine präventive bauaufsichtsrechtliche Prüfung der Brandschutzanforderungen mit ihren erheblichen Auswirkungen für Leben oder Gesundheit der Bewohner, Benutzer und Besucher der baulichen Anlagen kompensieren soll.

OVG NRW, Beschluss vom 6.7.2006 - 10 B 695/06 - BauR 2007, 91 f.

Erst recht kann deshalb ein uneingeschränkt der Präventivkontrolle unterliegendes Vorhaben nicht genutzt werden, ohne dass die erforderliche Baugenehmigung vorliegt, wenn die Genehmigungsbehörde sie gerade wegen brandschutztechnischer Bedenken (noch) nicht erteilt hat.

Vor diesem Hintergrund konnte der Senat offen lassen, ob das VG zu Recht davon ausgegangen ist, dass die Antragstellerin mit ihrem Hauptantrag eine Vorwegnahme der Hauptsache begehrt. Angesichts des Umstandes, dass unzumutbare Nachteile bereits für eine "einfache" Regelungsanordnung nicht vorliegen, fehlt es jedenfalls auch an den qualifizierten Voraussetzungen, die ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache erlauben würden.

Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 123 Rdnr. 26.

Ebenso bedurfte es keiner Entscheidung, ob im Hinblick auf die mit dem Hilfsantrag begehrten vorläufigen Verwaltungsakte, die zumindest hinsichtlich der begehrten "Erlaubnis" einer vorläufigen Baugenehmigung gleich kommen, und die umfangreichen Ausführungen der Antragstellerin hierzu in der Beschwerdebegründung Fallgestaltungen denkbar sind, die vorläufige Anordnungen trotz der Regelung des § 75 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 BauO NRW erlaubten.

Dazu OVG NRW, Beschluss vom 27.11.2003 - 10 B 2177/03 -, BRS 66 Nr. 163; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Stand Mai 2009, § 75 Rdnr. 165 f.

Denn jedenfalls für den hier vorliegenden Fall einer ungeklärten brandschutzrechtlichen Anforderung ist für eine vorläufige Genehmigung kein Raum.

Da sich die Antragstellerin nicht auf einen Anordnungsgrund berufen kann, bedarf es keiner Vertiefung, dass auch kein Anordnungsanspruch besteht. Der Antragsgegner dürfte zur Erteilung der begehrten Baugenehmigung bei der hier allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage allerdings schon deshalb nicht verpflichtet sein, weil ihm die Antragstellerin selbst angekündigt hat, neue Baugenehmigungsunterlagen einzureichen, wozu offenbar auch ein überarbeitetes Brandschutzkonzept gehören soll. Solche Unterlagen hat sie jedoch bis heute nicht vorgelegt, obwohl der von ihr mit der Fortschreibung des ursprünglichen Brandschutzkonzeptes beauftragte Brandsachverständige die ausgeführte Konstruktion des Dachgeschosses auf Grundlage der Konzepte für nachbesserungsbedürftig hält. Insbesondere sei die Außenwand in der Feuerwiderstandsklasse F-90 auszuführen, was bisher nicht geschehen ist. Auch die zwischen den Beteiligten erörterten Kompensationsmaßnahmen, etwa eine Vernebelungsanlage, sind weder installiert noch Bestandteil der Genehmigungsunterlagen geworden. Es kann daher selbst unter Zugrundelegung des eigenen Vorbringens der Antragstellerin keine Rede davon sein, dass ihrem Nachtragsantrag vom offensichtlich stattgegeben werden müsste.

Ein Anordnungsanspruch aufgrund der Regelung des § 82 Abs. 8 BauO NRW kommt ebenfalls nicht in Betracht. Eine solche Gestattung wäre nur zu erteilen, wenn die Anlage ordnungsgemäß, d.h. entsprechend der erteilten Baugenehmigung errichtet worden wäre.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3.5.2001 - 10 B 311/01 - BauR 2001, 1575; Gädtke/Temme/Heintz/Czepuck, BauO NRW, 11. Aufl. 2008, § 82 Rdnr. 49.

Hier hat die Antragstellerin jedoch abweichend von der erteilten Baugenehmigung gebaut. Schon deshalb stehen einer Nutzungsgestattung Bedenken wegen der öffentlichen Sicherheit entgegen, zumal davon gerade brandschutztechnische Aspekte betroffen sind.

Ende der Entscheidung

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