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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 30.06.2003
Aktenzeichen: 10a B 1028/02.NE
Rechtsgebiete: BauGB, VwGO


Vorschriften:

BauGB § 1 Abs. 6
VwGO § 47 Abs. 6
Sind bei der Umsetzung eines Bebauungsplans im Hinblick auf einen vorhandenen, Lärm emittierenden Gewerbebetrieb Nutzungskonflikte zu erwarten, darf der Plangeber insoweit nicht auf eine Konfliktlösung im Bebauungsplan verzichten, weil er künftige Betriebsmodernisierungen sowie Änderungen der Betriebsabläufe unterstellt und - nur gestützt auf bloße Absichtsbekundungen des Betriebsinhabers - mittelfristig eine Standortverlagerung des Betriebs erwartet.
Tatbestand:

Auf dem Grundstück der Antragstellerin, das außerhalb des Plangebiets in unmittelbarer Nähe der im Plangebiet vorgesehenen Wohnbebauung liegt, ist ein Entsorgungs- und Containerbetrieb angesiedelt, der erhebliche Geräuschimmissionen verursacht. Der Normenkontrollantrag der Antragstellerin gemäß § 47 Abs. 6 VwGO hatte Erfolg.

Gründe:

Gemäß § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Dabei ist der auf den Individualrechtsschutz bezogene Begriff des "schweren Nachteils" strenger auszulegen als der Begriff des "wesentlichen Nachteils" im Sinne von § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.5.1998 - 4 VR 2.98 -, NVwZ 1998, 1065).

Insoweit setzt die Entscheidung über den Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO eine Gewichtung der widerstreitenden Interessen voraus, bei der insbesondere auf die Folgen für den Antragsteller abzustellen ist, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag in der Hauptsache jedoch Erfolg hätte.

Nach diesen Maßstäben ist es dringend geboten, die Vollziehung des angegriffenen Bebauungsplans bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag im Verfahren 10a D 66/02.NE auszusetzen, um schwere Nachteile zu Lasten der Antragstellerin abzuwehren.

Der Bebauungsplan dürfte unwirksam sein, da er an Mängeln im Abwägungsvorgang leidet, die auch erheblich im Sinne des § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB sind. Der Plan genügt nicht den Anforderungen des § 1 Abs. 6 BauGB.

Der Rat der Antragsgegnerin hatte insoweit bei der Abwägung neben den Wohnbedürfnissen der Bevölkerung (§ 1 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BauGB) auch die Anforderungen an die Wahrung gesunder Wohnverhältnisse (§ 1 Abs. 5 Nr. 1 BauGB) sowie die Betriebsinteressen der zwischen der M.-Straße und dem Plangebiet angesiedelten gewerblichen Unternehmen zu berücksichtigen und etwaige planbedingte Konflikte zwischen diesen Belangen zu lösen.

Die Festsetzung eines allgemeinen Wohngebiets in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem außerhalb des Plangebiets gelegenen stark lärmemittierenden Entsorgungsbetrieb schafft - im Hinblick auf den Wunsch nach weitgehend ungestörter Wohnruhe einerseits und dem Interesse an optimierten und von behindernden Lärmvermeidungsmaßnahmen freien Betriebsabläufen andererseits - Nutzungskonflikte, die durch den Bebauungsplan nicht gelöst werden.

Grundsätzlich hat jeder Bebauungsplan die von ihm geschaffenen oder ihm sonst zurechenbaren Konflikte zu lösen. Das Gebot der Konfliktbewältigung hat seine rechtliche Wurzel im Abwägungsgebot des § 1 Abs. 6 BauGB und besagt nicht mehr, als dass die von der Planung berührten Belange in einen gerechten Ausgleich gebracht werden müssen. Die Planung darf nicht dazu führen, dass Konflikte, die durch sie hervorgerufen werden, zu Lasten Betroffener letztlich ungelöst bleiben. Dies schließt eine Verlagerung von Problemlösungen aus dem Bauleitplanverfahren auf nachfolgendes Verwaltungshandeln indes nicht zwingend aus. Von einer abschließenden Konfliktbewältigung im Bebauungsplan darf die Gemeinde Abstand nehmen, wenn die Durchführung der als notwendig erkannten Konfliktlösungsmaßnahmen außerhalb des Planungsverfahrens auf der Stufe der Verwirklichung der Planung sichergestellt ist. Die Grenzen zulässiger Konfliktverlagerung sind jedoch überschritten, wenn bereits im Planungsstadium sichtbar ist, dass sich der offen gelassene Interessenkonflikt auch in einem nachfolgenden Verfahren nicht sachgerecht lösen lassen wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.7.1994 - 4 NB 25.94 -, BRS 56 Nr. 6).

So ist es hier. Auf der Grundlage der getroffenen Festsetzungen lassen sich die vorauszusehenden Nutzungskonflikte zwischen dem vorhandenen Entsorgungsbetrieb und der geplanten Wohnbebauung in den nachfolgenden Baugenehmigungs-verfahren - sofern die Wohnhäuser nicht ohnehin im Freistellungsverfahren errichtet werden - nicht befriedigend lösen.

Bei der Aufstellung von Bauleitplänen, und damit gegebenenfalls auch im Rahmen der Abwägung, sind nach § 1 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BauGB unter anderem die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang kommt auch dem Trennungsgrundsatz des § 50 BImSchG Bedeutung zu. Dieser Grundsatz , der die Funktion einer Abwägungsdirektive hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.1.1999 - 4 CN 5.98 -, BRS 62 Nr. 4), verlangt, dass bei raumbedeutsamen Planungen die für eine bestimmte Nutzung vorgesehenen Flächen einander so zuzuordnen sind, dass schädliche Umwelteinwirkungen unter anderem auf Wohngebiete so weit wie möglich vermieden werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.12.1990 - 4 N 6.88 -, BRS 50 Nr. 25).

Als bloße Abwägungsdirektive erfordert der Trennungsgrundsatz allerdings keine strikte Beachtung in dem Sinne, dass er keiner Durchbrechung fähig wäre. Im Einzelfall kann daher ein Nebeneinander von Gewerbe und Wohnen abwägungsgerecht sein und zwar insbesondere dann, wenn etwa durch konkrete planerische Maßnahmen Vorsorge dafür getroffen wird, dass die Wohnbebauung keinen unzumutbaren Immissionen ausgesetzt wird.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält die Abwägungsentscheidung des Rates der Antragsgegnerin, ein allgemeines Wohngebiet in unmittelbarer Nähe des außerhalb des Plangebiets gelegenen Entsorgungsbetriebs zu planen, einer Überprüfung nicht stand.

Auf Grund der im März 2002 - also erst nach Beendigung der öffentlichen Auslegung des Planentwurfs - erstellten Immissionsuntersuchung war dem Rat bekannt, dass der in der Nachbarschaft des Plangebiets auf dem Grundstück der Antragstellerin angesiedelte Entsorgungsbetrieb erhebliche Lärmimmissionen verursacht. Nach der Untersuchung sind bei freier Schallausbreitung in einem Abstand von bis zu 160 m von dem Entsorgungsbetrieb Überschreitungen des für die Tageszeit geltenden einschlägigen Immissionsrichtwertes der TA-Lärm von bis zu 11 dB(A) zu erwarten. Selbst bei einer Abschirmung der Betriebsflächen des Entsorgungsunternehmens und des benachbarten Autohandels durch eine 5 m hohe Lärmschutzwand würde der Immissionsrichtwert in den Obergeschossen der angrenzend geplanten Wohnhäuser noch um 3 bis 4 dB(A) überschritten. Bei einer Verlegung des Entsorgungsbetriebes würden durch die Werkstatt des Autohandels nur an einem Gebäude Überschreitungen der TA-Lärm in Höhe von 3,3 dB(A) auftreten. Nur bei Abschirmung durch eine 2,5 m hohe Lärmschutzwand an der Grundstücksgrenze des Autohandels würde der Immissionsrichtwert an diesem Gebäude auch im Obergeschoss unterschritten.

Gleichwohl hat der Rat davon abgesehen, die geplante Wohnbebauung und die vorhandenen Gewerbebetriebe räumlich so voneinander zu trennen, dass Nutzungs-konflikte weitgehend auszuschließen sind. Er hat angenommen, er könne den Schutz der bis auf etwa 12 m an das Betriebsgelände des Entsorgungsunternehmens heranreichenden Wohngrundstücke vor unzumutbaren Lärmimmissionen dadurch sicherstellen, dass er für die in besonderem Maße von Lärmimmissionen betroffenen Bereiche den Einbau von Schallschutzfenstern der Schallschutzklassen 1 bis 3 - Bauschalldämmmaße zwischen 29 und 39 dB(A) - vorgesehen und in der textlichen Festsetzung Nr. 4 festgesetzt hat, dass in den besagten Bereichen die Gebäudegrundrisse so anzuordnen sind, dass die Belüftung der Aufenthalts- und Schlafräume über die dem Lärm jeweils abgewandte Gebäudeseite erfolgt.

Mit diesen zum Schutz der Wohnbebauung vor schädlichen Umwelteinwirkungen getroffenen Festsetzungen hat der Rat den zu erwartenden Konflikt zwischen der vorhandenen gewerblichen Nutzung und der geplanten Wohnbebauung jedoch nicht hinreichend gelöst. Die insoweit erfolgte Abwägung ist vielmehr in mehrfacher Hinsicht zu beanstanden.

In die Planbegründung sind Überlegungen zum Schallschutz gegenüber dem außerhalb des Plangebiets entstehenden Gewerbelärm nicht eingeflossen. Ziffer 3.8 der Planbegründung befasst sich unter der Überschrift "Immissionsschutz" ausschließlich mit dem Verkehrslärm, der von der M.-Straße aus auf das Plangebiet einwirkt.

In den von der Verwaltung am 11.3.2002 erstellten "Vorbemerkungen zum Immissionsschutzgutachten", die sich der Rat im Rahmen der Abwägung zu Eigen gemacht hat, heißt es, der auf dem Grundstück der Antragstellerin angesiedelte Entsorgungsbetrieb genieße in seiner derzeitigen Ausformung Bestandsschutz, der durch die Planung unangetastet bleibe. Es sei jedoch zu verlangen, dass in zumutbarem Rahmen hinsichtlich der erforderlichen Arbeitsabläufe der Stand der Technik angestrebt werde. Der vom Gutachter festgestellte Immissionskonflikt zwischen dem vorhandenen Entsorgungsbetrieb und der geplanten Wohnbebauung ergebe sich im Wesentlichen durch den bei der Stapelung der Containermulden verursachten Lärm. Ein Verzicht auf die Stapelung am Betriebsort vermeide diesen Konflikt. Im Hinblick auf die durchgeführten und zu erwartenden Änderungen bezüglich der Unternehmensstruktur und des Betriebsstandortes sei eine Verbesserung der Immissionssituation für die geplante Wohnbebauung mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Soweit Lärmkonflikte durch An- und Abfahrt der betriebseigenen Lkw entstünden, betreffe dies die Startphase. Durch den sukzessiven Einsatz moderner Fahrzeuge lasse sich in der weiteren Entwicklung des Betriebes eine deutliche Minderung der Schallereignisse erwarten. Bis dahin solle das Starten der Altfahrzeuge gekapselt, das heißt in der Lkw-Abstellhalle mit gleichzeitiger Absaugung und Ableitung der Auspuffgase, durch-geführt werden. Durch die vorgeschriebenen baulichen und sonstigen Maßnahmen - unter anderem die Anlegung einer dichten Wallhecke - sei ausreichender Immissionsschutz sichergestellt und die Wohnruhe gewährleistet.

Diese Überlegungen sind vorwiegend von der Erwartung getragen, dass der Entsorgungsbetrieb seinen Standort - zumindest für bestimmte Betriebsteile - aufgeben, seinen Fuhrpark modernisieren und Betriebsabläufe ändern wird. Damit setzt der Rat unzulässigerweise auf das "Prinzip Hoffnung", denn er hat keinen Einfluss auf die erwarteten Entwicklungen. Selbst wenn das Entsorgungsunternehmen im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses - wofür allerdings konkrete Belege fehlen - beabsichtigt haben sollte, den Betrieb in der erhofften Weise umzugestalten, durfte der Rat im Hinblick auf die bloßen Absichtsbekundungen nicht auf die notwendige Konfliktlösung verzichten. Die Umstände, die für die erwartete Umgestaltung des Betriebes bedeutsam sind, können sich jederzeit ändern, sodass es bei der gegenwärtigen Situation bleibt. Eine Nachsteuerung ist nicht möglich. Der zeitliche Rahmen, den sich der Rat für die Umgestaltung des Betriebes vorgestellt hat, ist zudem offen. Grundsätzlich wird aber verlangt werden müssen, dass die geplanten Wohnhäuser bereits mit der Aufnahme ihrer Nutzung vor unzumutbarem Lärm geschützt sind.

Die Überlegungen des Rates sind auch widersprüchlich. Einerseits geht er davon aus, dass der Entsorgungsbetrieb in seinem Bestandsschutz unangetastet bleibe, andererseits soll die Startphase von Lkw in die Abstellhalle verlegt werden, wobei möglicherweise Investitionen für eine Anlage zur Absaugung der Abgase anfallen. Ob durch die Modernisierung des Fuhrparks - unterstellt sie fände in absehbarer Zeit statt - eine wesentliche Lärmreduzierung gegenüber den im Gutachten errechneten Werten eintreten würde, darf bezweifelt werden. Der Gutachter hat die durch Lkw-Fahrten auf dem Betriebsgelände verursachten Emissionen anhand der Emissionsansätze der "Bayerischen Parkplatzlärmstudie" und des "Technischen Berichtes zur Untersuchung der Lkw- und Ladegeräusche auf Betriebsgeländen von Frachtzentren, Auslieferungslagern und Speditionen" berechnet und hat nicht auf die möglicherweise besonders lauten Altfahrzeuge des Entsorgungsbetriebes abgestellt.

Die einschlägigen Festsetzungen des Bebauungsplans sind entgegen der Annahme des Rates nicht geeignet, um den Schutz der Wohnbebauung vor dem außerhalb des Plangebiets verursachten Gewerbelärm zu gewährleisten. Was die Schallschutzfenster und die Gebäudegrundrisse angeht, wird damit - was der Rat völlig außer Acht lässt - keinerlei Schutzwirkung für die ebenfalls schutzbedürftigen Außenwohnbereiche der betroffenen Wohngrundstücke erzielt. Die von der Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren geäußerte Ansicht, Lärmimmissionen seitens des Entsorgungsbetriebes seien nur in Zeiten zu befürchten, in denen allenfalls eine gering-fügige Nutzung der Außenwohnbereiche stattfinde, da diese typischerweise in den Abendstunden und am Wochenende frequentiert würden, verkennt den Schutzanspruch der Wohnbebauung. So wird man Hausfrauen, Schichtarbeitern oder Rentnern - um nur einige Personengruppen zu nennen - kaum das Recht absprechen können, sich zu jeder Zeit des Tages im Garten oder - abhängig von der Witterung - bei geöffneten Fenstern im Hause aufzuhalten, ohne durch Lärm unzumutbar gestört zu werden. Im Übrigen erscheint zumindest für bestimmte Grundstücke die Festsetzung zur Anordnung der Gebäudegrundrisse - soweit dafür überhaupt eine Ermächtigungsgrundlage gegeben sein sollte - ungeeignet, um den damit verfolgten Zweck zu erreichen. So sind beispielsweise die Grundstücke südlich des in Ost-West-Richtung verlaufenden Teils der Haupterschließung, die von der M.-Straße aus in das Plangebiet hineinführt, nur so zu bebauen, dass - mit Ausnahme der an das Nachbargebäude angebauten Wand - nahezu alle Gebäudeseiten erheblichem Verkehrs- oder Gewerbelärm ausgesetzt sind.

Dass die im Bereich des Grundstücks der Antragstellerin zumeist nur etwa 5 m breite und zweifach durch Wegeflächen unterbrochene "Wallhecke", die nach der textlichen Festsetzung aus einer dichten Gehölzpflanzung auf einer mindestens 0,5 m hohen Anschüttung bestehen soll, keinen nennenswerten Schallschutz bewirkt, bedarf angesichts des Lärmgutachtens, wonach selbst eine 5 m hohe Lärmschutzwand die Einhaltung des einschlägigen Immissionsgrenzwertes nicht sicherstellen kann, keiner weiteren Ausführungen.

Nach allem wird der Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich Erfolg haben. Die bevorstehende Verwirklichung des Bebauungsplans - mit der bereits begonnen worden ist - stellt hier einen die Aussetzung der Vollziehung des Bebauungsplans rechtfertigenden schweren Nachteil im Sinne des § 47 Abs. 6 VwGO dar, da sie in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht eine schwerwiegende Beeinträchtigung rechtlich geschützter Positionen der Antragstellerin konkret erwarten lässt (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2.9.1999 - 7a B 1543/99.NE - und vom 20.2.2003 - 10a B 1780/02.NE -).

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