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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 18.03.2002
Aktenzeichen: 12 A 1681/99
Rechtsgebiete: SGB I, SGB VIII


Vorschriften:

SGB I § 30 Abs. 3 Satz 2
SGB I 37 Satz 1
SGB VIII § 86 Abs. 2 Satz 1
SGB VIII § 89c Abs. 1 Satz 1
Zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Jugendhilferecht (Einzelfall: Kindesmutter quartiert sich provisorisch bei einer Freundin ein, um von dort aus, ohne sich auf den Ort dieser Wohnung zu beschränken, eine zukünftige Wohn- und Arbeitsmöglichkeit zu erkunden)
Gründe:

Das VG hat einen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin gegen die beklagte Stadt nach § 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII verneint, da diese in dem zu Grunde liegenden Jugendhilfefall nicht örtlich zuständig geworden sei. Zur Überzeugung der Kammer könne nach Auswertung des Akteninhalts und nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht festgestellt werden, dass die Kindesmutter zum 1.4.1994 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in O. begründet habe (§ 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Diese das klageabweisende Urteil tragende Erwägung steht im Ergebnis nicht ernstlich in Frage.

Zwar beruft sich die Klägerin zu Recht darauf, dass entgegen dem vom VG abweichend von seinen abstrakten Ausführungen bei der Rechtsanwendung eingenommenen Standpunkt für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht darauf abzustellen ist, ob jemand gewillt ist, sich auf unabsehbare Zeit in einem bestimmten Ort niederzulassen. Ungeachtet des von der Vorinstanz konkret angelegten unzutreffenden Maßstabs lässt der hier maßgebliche Sachverhalt aber entgegen der Auffassung der Klägerin keinen Raum dafür, die gerichtliche Feststellung eines im entscheidungserheblichen Zeitraum bestehenden gewöhnlichen Aufenthalts der Kindesmutter in O. als möglich anzusehen.

Nach dem auch im Jugendhilferecht anzuwendenden § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Gemäß § 37 Satz 1 SGB I gilt diese Legaldefinition mit der Maßgabe, dass der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm auszulegen ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.8.1995 - 5 C 11.94 -, FEVS 46, 133, 137; Urteil vom 18.3.1999 - 5 C 11.98 -, FEVS 49, 434, 436.

Hiervon ausgehend ist das Merkmal "nicht nur vorübergehend verweilt" erfüllt, wenn der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat. Ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt ist nicht erforderlich.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.3.1999,.a.a.O., Urteil vom 18.5.2000 - 5 C 27.99 -, FEVS 51, 546, 548.

Auch gemessen hieran erlauben die im erstinstanzlichen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht, in Betracht zu ziehen, die Kindesmutter habe, als sie sich Anfang 1994 bei ihrer Freundin in O. "einquartierte", in diesem Ort ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Diese tatsächlichen Feststellungen sind für die Prüfung in diesem Verfahren zu Grunde zu legen, da die Klägerin, obwohl ihre Sachverhaltsangaben zum Teil hiervon abweichen, weder das Verfahren der Sachverhaltsaufklärung noch substantiiert die Tatsachen- und Beweiswürdigung durch das VG gerügt hat.

Das VG ist von folgendem Sachverhalt ausgegangen: Die Kindesmutter habe sich mit ihrem Wegzug von A. außerhalb dieser Stadt eine neue Zukunft aufbauen wollen, ohne sich dabei auf O. festzulegen. Ihre Wohnung in A. habe sie beibehalten, um sich die Möglichkeit einer Rückkehr offen zu halten. Die Wohnungsnahme bei der kurz zuvor kennengelernten Freundin in O. sei eher zufällig und von vornherein nur für eine Übergangszeit erfolgt, um von diesem (Unterschlupf( aus die Möglichkeiten zur Neuordnung der eigenen Lebensverhältnisse zu sondieren. Angesichts der beengten räumlichen Verhältnisse habe die Kindesmutter nur die notwendigsten Kleidungsstücke mit nach O. genommen. Aus dem Akteninhalt und dem Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme ergäben sich keine Anhaltspunkte, die auf die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in O. hindeuten könnten. Weitere Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung hätten nicht zur Verfügung gestanden, da die Freundin, bei der die Kindesmutter zeitweise ein Unterkommen gefunden habe, für das Gericht nicht greifbar sei.

Diese tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil lassen nicht den Schluss zu, die Kindesmutter habe sich in O. "bis auf weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufgehalten und dort den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen gehabt. Es finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Aufenthalt dort über ein in jeder Beziehung übergangsweises Verweilen, das nicht notwendig in einen zukunftsoffenen Verbleib in O. münden sollte und auch nicht gemündet hat, hinausgehen sollte. In dieser Beziehung unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt etwa von dem, der dem Urteil des OVG Rh.-Pf. vom 30.6.2000 - 12 A 10423/00 - (FEVS 53, 91 ff.) zu Grunde lag und in dem sich ein Hilfe Suchender ca. 3 Monate lang nur deshalb im Haushalt von Verwandten aufhielt, um die Zeit bis zur (verzögerten) Fertigstellung des von ihm zu beziehenden Seniorenheims am selben Ort zu überbrücken. Dort stand für den Hilfe Suchenden von vornherein fest, bis auf weiteres in dem Ort zu verbleiben, in dem er zunächst eine provisorische Unterkunft bezogen hatte.

Allerdings ist - wie dem Sinne nach durch das VG geschehen - die hier erhebliche Frage nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Kindesmutter letztlich nach Beweislastgrundsätzen zu Lasten der Klägerin zu beantworten. Wegen der ausgebliebenen Vernehmung der Mieterin der fraglichen Wohnung hat das VG keinen vollständigen Aufschluss über die Umstände des Aufenthalts der Kindesmutter in O. gewinnen können. Die Mieterin stand indes, wie das VG unbeanstandet durch eine Verfahrensrüge der Klägerin ausgeführt hat, als Zeugin tatsächlich nicht zur Verfügung. Sie ist auch nicht etwa nunmehr von der Klägerin als Zeugin zum Nachweis bestimmter Tatsachen aufgeboten worden. Die Nichtaufklärbarkeit der den Kostenerstattungsanspruch begründenden Tatsachen, zu denen die zur Feststellung der örtlichen Zuständigkeit des in Anspruch Genommenen gehören, geht zu Lasten dessen, der den Anspruch geltend macht, es sei denn, dass das materielle Recht eine andere Verteilung der Beweislast regelt. Das ist hier nicht der Fall. Infolgedessen trägt die Klägerin als Anspruchstellerin die materielle Beweislast dafür, dass die Beklagte für den fraglichen Jugendhilfefall örtlich zuständig geworden ist, d.h. die Kindesmutter ihren für die örtliche Zuständigkeit relevanten gewöhnlichen Aufenthalt in O. begründet hat. Dem entsprechend wirkt sich die Nichterweislichkeit des gewöhnlichen Aufenthalts der Kindesmutter in O. zu Lasten der Klägerin mit der Folge aus, dass ein Kostenerstattungsanspruch nicht festgestellt werden kann.

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