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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 13.06.2002
Aktenzeichen: 12 A 3177/00
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 86 b
Der nach § 86 b SGB VIII für die Ermittlung der örtlichen Zuständigkeit maßgeblichen Zeitpunkt "vor Beginn der Leistung" ist der Zeitpunkt, in dem der Antrag auf diese Leistung gestellt wird.
Tatbestand:

Die Klägerin begehrte vom Beklagten die Übernahme der Kosten ihrer Betreuung und der Betreuung ihrer Tochter in einer gemeinsamen Wohnform für Mütter mit Kindern. Am 13.10.1995 nahm die Klägerin, die am 8.9.1994 vom Beigeladenen zu 1. von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet worden war, erstmals mit dem Jugendamt des Beklagten (Bürgermeister der Stadt K.) Kontakt auf und teilte mit: Sie sei in der 25. Woche schwanger. Bei ihr habe das Kind Vorrang im Verhältnis zu einer Lehre. Sie wohne seit September 1995 in K. bei ihrem Freund, der nicht der Kindesvater sei. Die Klägerin sprach am 3.11.1995 erneut beim Jugendamt des Beklagten vor und gab an: Eine Pflegefamilie für ihr ungeborenes Kind lehne sie ab. Sie wolle sich selbst um das Kind kümmern. Ein Mutter-Kind-Heim lehne sie ebenfalls ab. Sie könne sich nichts anderes als den Umzug in eine eigene Wohnung vorstellen. Am 9.11.1995 meldete sich die Sozialberatungsstelle des E. Werkes in H. beim Jugendamt des Beklagten und teilte mit, die Klägerin sei zurzeit bei ihr und habe erklärt, die Wohnung bei ihrem Freund in K. demnächst verlassen zu müssen; sie - die Klägerin - sei nunmehr mit einer Betreuung in einem Mutter-Kind-Heim in S. oder D. einverstanden. In der Nacht vom 9. auf den 10.11.1995 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen der Klägerin und ihrem Freund, in deren Folge die Klägerin die Wohnung verließ. Sie wandte sich an die Polizei, die sie in die Frauenpension in A., einer Gemeinde im Kreisgebiet des Beigeladenen zu 3., brachte. Am 13.11.1995 führte das Jugendamt des Beklagten in der Frauenpension in A. ein weiteres Gespräch mit der Klägerin. Diese äußerte dabei: Seinerzeit sei sie mit einer Gruppe von Jugendlichen aus B. nach K. gekommen, weil man gehört habe, dass K. "geil" sei. Zwischendurch sei sie eine Woche in Haft gewesen. Die Klägerin besuchte am 20.11.1995 die Mutter-Kind-Einrichtung V. in D. und teilte dem Jugendamt des Beklagten am 22.11.1995 mit, dass sie in dieses Heim wolle. Sie wurde am 4.12.1995 von dieser Einrichtung aufgenommen. Am 15.1.1996 gebar die Klägerin ihre Tochter S. Nach eigenen Angaben verließ die Klägerin die Einrichtung am 4.4.1997. Der Beigeladene zu 1. lehnte mit Schreiben vom 28.2.1996 die Kostenübernahme ab, weil die Klägerin keinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Der Beigeladene zu 2. (Oberbürgermeister der Stadt D.) lehnte seine Zuständigkeit ab, weil die Klägerin vor ihrer Aufnahme in das Mutter-Kind-Heim sich nicht in seinem Zuständigkeitsbereich tatsächlich aufgehalten habe. Der Beigeladene zu 3. vertrat ebenfalls die Ansicht, unzuständig zu sein.

Unter dem 7.3.1996 beantragte die Klägerin beim Beklagten für sich und ihr Kind Jugendhilfe in Form der Übernahme der Kosten für ihre Betreuung im Mutter-Kind-Heim in D. und führte zur Begründung aus: Sie habe Hilfe beim Jugendamt des Beklagten gesucht. Mit Bescheid vom 18.3.1996 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab. Das VG verpflichtete den Beklagten antragsgemäß zur Übernahme der Kosten für die Betreuung der Klägerin und ihres Kindes im Mutter-Kind-Heim in D.. Die Berufung des Beklagten war erfolglos.

Gründe:

Der Anspruch auf Hilfe ergibt sich aus § 19 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB VIII in der Bekanntmachung vom 3.5.1993 (BGBl. I S. 637). Danach sollen Mütter und Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. Eine schwangere Frau kann auch vor der Geburt des Kindes in der Wohnform betreut werden. Aus dem Wort "sollen" folgt, dass einem allein erziehenden Elternteil mit einem Kind unter sechs Jahren die in Betracht kommende Hilfe nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im Regelfall gewährt wird, es sei denn, besondere Gründe würden dem entgegenstehen. Demgegenüber steht die Betreuung einer Schwangeren nach § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII im nicht weiter beschränkten pflichtgemäßen Ermessen des Jugendamtes, für dessen Ausübung die Grundaussagen des § 1 Abs. 1 und 3 SGB VIII maßgebend sind.

Die Jugendämter des Beklagten und des Beigeladenen zu 1. gelangten Ende November 1995 übereinstimmend zu der Überzeugung, dass die Betreuung der Klägerin und ihres Kindes in einer gemeinsamen Wohnform für Mutter und Kind die geeignete und erforderliche Hilfe war, deren Gewährung Gründe nicht entgegenstanden. Auch gegen die von der Klägerin gewählte Einrichtung bestanden keine Bedenken. Weder der Beklagte noch die Beigeladenen ziehen das Recht der Klägerin auf den Erhalt von Hilfe nach § 19 SGB VIII in Zweifel.

Die Kosten für diese Maßnahme hat der örtlich zuständige Jugendhilfeträger zu übernehmen. Dies ist vorliegend der Beklagte.

Nach § 86 b SGB VIII ist zuständig der örtliche Träger der Jugendhilfe, in dessen Bereich der nach § 19 SGB VIII Leistungsberechtigte - hier die Klägerin - vor Beginn der Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 86 b Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Hält sich der Leistungsberechtigte in einer Einrichtung oder sonstigen betreuten Wohnform auf, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in eine Einrichtung oder sonstige Wohnform (§ 86 b Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 86 a Abs. 2 SGB VIII). Hat der Leistungsberechtigte keinen gewöhnlichen Aufenthalt, richtet sich die Zuständigkeit nach seinem tatsächlichen Aufenthalt zu dem in § 86 b Abs. 1 SGB VIII genannten Zeitpunkt (§ 86 b Abs. 2 SGB VIII). Geht der Leistung Hilfe nach den §§ 27 bis 35 a SGB VIII oder eine Leistung nach § 13 Abs. 3, 21 oder 41 SGB VIII voraus, bleibt der örtliche Träger zuständig, der bisher zuständig war (§ 86 b Abs. 3 SGB VIII).

Die örtliche Zuständigkeit richtet sich hier nach § 86 b Abs. 2 SGB VIII.

Das Tatbestandsmerkmal "vor Beginn der Leistung" ist vorliegend auf den 9.11.1995 zu beziehen (1.). An diesem Tag hatte die Klägerin keinen gewöhnlichen Aufenthalt (2.), wohl aber einen die Zuständigkeit des Beklagten begründenden tatsächlichen Aufenthalt (3.). Die nach diesem Tag bestehenden Aufenthaltsverhältnisse hatten auf die am 9.11.1995 begründete Zuständigkeit keinen Einfluss (4.). Eine vormals gegebene Zuständigkeit des Beigeladenen zu 1. wirkte nicht fort (5.).

1. Entscheidend für die örtliche Zuständigkeit ist hier der Aufenthalt der Klägerin "vor Beginn der Leistung". Dieser Rechtsbegriff ist bisher in Rechtsprechung und Literatur nicht eindeutig geklärt (a.). Unter "Leistung" im Sinne dieses Begriffs sind die Angebote und Hilfen gemäß § 2 Abs. 2 SGB VIII zu verstehen (b.). Mit der Erbringung einer solchen Leistung beginnt der Jugendhilfeträger, in dem er ein darauf gerichtetes Verwaltungsverfahren einleitet (c.). Der Zeitpunkt der dazu regelmäßig erforderlichen Antragstellung ist der für die Ermittlung der örtlichen Zuständigkeit maßgebliche Zeitpunkt "vor Beginn der Leistung" (d.). Einen auf eine Leistung gerichteten Antrag hat die Klägerin am 9.11.1995 gestellt (e.).

a. Während ein Teil der Rechtsprechung den "Beginn der Leistung" unter Gleichsetzung mit dem Begriff "Beginn der Maßnahme" im Sinne des § 85 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts vom 26.6.1990 - BGBl. I S. 1163 - (SGB VIII F. 1991) als den Zeitpunkt versteht, zu dem zum ersten Mal eine Jugendhilfemaßnahme tatsächlich erbracht worden ist, vgl. OVG NRW, Urteil vom 16.2.1994 - 16 A 3286/93 -, NWVBl. 1994, 338, 340, Bay-VGH, Urteil vom 13.8.1999 - 12 B 97.2814 -, FEVS 51, 370, 373, so auch Elzholz, Die örtliche Zuständigkeit bei Leistungsgewährung und Führung einer Amtsvormundschaft und -pflegschaft nach dem KJHG, Der Amtsvormund 1994, 314, 318, ist vom Beginn der Leistung nach anderer Auffassung, vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.9.1997 - 9 S 174/96 -, FEVS 48, 131; so auch DV, Gutachten vom 7.4.1998 - G 14/98 -, NDV 1998, 153, dann auszugehen, wenn eine Leistung eingeleitet wird. Demgegenüber differenziert die Zentrale Spruchstelle zwischen dem Bekanntwerden eines Hilfefalles, der Einleitung einer Jugendhilfemaßnahme und dem Beginn einer Leistung. Die Einleitung einer Jugendhilfemaßnahme erfordere eine Handlung, die darauf gerichtet sei, eine erzieherische Hilfe zu konkretisieren. Hiervon zu unterscheiden sei der Beginn der Leistung, der im konkreten Fall in der Unterrichtung der Eltern über die positive Teamentscheidung über die Gewährung einer Hilfe zu sehen sei.

vgl. ZSpr., Entscheidungen vom 3.3.1994 - B 26/93 -, EuG 49, 41, 44, und vom 20.10.1994 - B 110/93 -, EuG 49, 63, 66, zur Einleitung einer Maßnahme und Entscheidung vom 2.10.1996 - B 123/95 -, EuG 51, 252, zum Beginn der Leistung; ihr zustimmend: Heilemann, in Kinder- und Jugendhilfe, LPK-SGB VIII, 1. Aufl. 1998, § 86 Rdnr. 12.

In der Literatur werden demgegenüber als Zeitpunkte genannt: Datum der Entscheidung der Erziehungskonferenz, vgl. Kraushaar/Ziegler, in GK-SGB VIII § 86 Rdnr. 13, Aufnahme von Hilfeplangesprächen, vgl. Wiesner, in Wiesner / Mörsberger / Oberloskamp / Struck, SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2000, § 86 Rdnr. 18, oder der Zeitpunkt, in dem die örtliche Zuständigkeit zu prüfen sei, d.h. in dem hinreichender Anlass für die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens bestehe, vgl. Kunkel, §§ 86, 87 c SGB VIII - die Leuchttürme der örtlichen Zuständigkeit (Teil 1), in ZfJ 2001, 361, 362.

b. Ausgehend vom Begriff "vor Beginn der Leistung" und von einer einheitlichen Verwendung des Wortes Leistung im Rahmen des SGB VIII kommen nur die in § 2 Abs. 2 SGB VIII aufgezählten Angebote und Hilfen als Leistungen in Betracht. Zu ihnen zählen auch die Angebote zur Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 2 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. §§ 16 bis 21 SGB VIII) und damit die Betreuung schwangerer Frauen sowie der Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben, gemeinsam mit ihrem Kind in einer geeigneten Wohnform, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bedürfen (§ 19 Abs. 1 SGB VIII).

c. Ein Jugendhilfeträger beginnt mit einer solchen Leistung, in dem er ein auf sie gerichtetes Verwaltungsverfahren einleitet.

Materiell wird die Leistung erbracht mit der Aufnahme der Schwangeren bzw. der Mutter oder des Vaters mit ihrem/seinem Kind in diese Wohnform. Formell geht dieser Leistungserbringung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens jedoch stets eine Prüfung der Voraussetzungen und die Vorbereitung der Hilfeentscheidung, insbesondere die Ermittlung des Bedarfs im Einzelnen und die Auswahl der geeigneten und notwendigen Hilfeform sowie die anschließende rechtsförmliche Entscheidung nach § 8 SGB X voraus. Zu den vom Jugendhilfeträger zu prüfenden Voraussetzungen zählt dabei die eigene örtliche Zuständigkeit. Ist sie nicht gegeben, ist das Verfahren unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiter zu leiten (§ 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I). Soll diese Vorschrift nicht leer laufen, setzt sie voraus, dass der Jugendhilfeträger bereits zu diesem Zeitpunkt - jedenfalls bei Kenntnis aller bis dahin vorliegenden Fakten - die Frage seiner Zuständigkeit beantworten können muss. Da aber die Aufenthaltsverhältnisse, die im Zeitpunkt der Erbringung der materiellen Leistung bestehen werden, während der Durchführung des Verwaltungsverfahrens noch nicht feststehen, kann dieser Zeitpunkt für die Ausfüllung des Begriffs "Beginn der Leistung" nicht herangezogen werden. Dass dieser Zeitpunkt nicht maßgebend sein kann, folgt auch daraus, dass Zuständigkeitsvorschriften nicht nur die Fälle, die zur Leistungsgewährung führen, sondern auch diejenigen regeln müssen, in denen es zur Versagung der Leistung mangels Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen kommt. Auch in diesen Fällen wäre der Beginn der (nicht zu erbringenden) Leistung im Verwaltungsverfahren nicht bestimmbar.

Mit dem Zeitpunkt der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens als Beginn der Leistung dürfte auch der in der Rechtsprechung, vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.9.1997 - 9 S 174/96 -, a.a.O., herausgestellte Zeitpunkt der Einleitung der Leistung identisch sein. Denn die Maßnahmen bei Einleitung des einfach und zweckmäßig durchzuführenden Verwaltungsverfahrens (§ 9 Satz 2 SGB X) sind auf die durch Verwaltungsakt zu gewährenden Leistungen - hier diejenige nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII - gerichtet.

d. Der vor dem "Beginn der Leistung" liegende und für die Zuständigkeit der Jugendhilfeträger maßgebliche Zeitpunkt ist der der Antragstellung. Der Begriff "vor Beginn der Leistung" verweist nicht auf einen Zeitraum (aa.). Er umschreibt vielmehr den Zeitpunkt der Antragstellung durch den Leistungsberechtigten (bb.)

aa. Der Wortlaut dieses Rechtsbegriffs erlaubt die Auslegung, "vor Beginn der Leistung" sei ein Zeitraum, als auch die Interpretation, es handele sich dabei um einen Zeitpunkt. Für Letzteres spricht § 86 b Abs. 2 SGB VIII. Danach richtet sich die Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt des Leistungsberechtigten zu dem in Absatz 1 genannten "Zeitpunkt". In Absatz 1 des § 86 b SGB VIII sind zwei zeitliche Bestimmungen getroffen, zum einen in Satz 1 derjenige "vor Beginn der Leistung" und zum anderen in Satz 2 in Verbindung mit § 86 a Abs. 2 SGB VIII derjenige "vor der Aufnahme in eine Einrichtung oder sonstige Wohnform", die beide eine punktuelle Betrachtung erlauben. Den Begriff "vor Beginn der Leistung" als Zeitpunkt zu verstehen, entspricht auch der Funktion von Zuständigkeitsbestimmungen, die Kompetenzverteilung möglichst klar zu regeln, um Doppelarbeit, Reibungsverluste und Kompetenzschwierigkeiten zu verhindern, die Einheit der Verwaltung durch Abstimmung der behördlichen Tätigkeitsbereiche zu sichern sowie dem Bürger transparent zu machen, welche Behörde in seiner Angelegenheit zu entscheiden hat. Bei einem Zeitraum wäre das Bestehen mehrerer gewöhnlicher oder tatsächlicher Aufenthalte ungleich wahrscheinlicher als bei einem Zeitpunkt. Das Gesetz selbst enthält aber keine Regelungen dazu, wie gegebenenfalls der Zeitraum einzugrenzen und welcher von mehreren gleichartigen Aufenthaltsorten innerhalb dieses Zeitraums zuständigkeitsbestimmend wäre.

bb. Der Zeitpunkt der Stellung eines auf eine Leistung nach § 2 Abs. 2 SGB VIII gerichteten Antrages ist für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit maßgeblich. Leistungen der Jugendhilfe setzen grundsätzlich eine vorherige Antragstellung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe voraus.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 28.9.2000 - 5 C 29/99 -, FEVS 52, 532.

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Leistungsträger zu stellen. Im Zeitpunkt der Antragstellung muss es daher dem Leistungsberechtigten grundsätzlich möglich sein, den für ihn zuständigen Sozialleistungsträger zu ermitteln. Da er in diesem Zeitpunkt die Art der von ihm begehrten Leistung kennt, kann er sein Anliegen in Anwendung der Regelungen der §§ 86 ff. SGB VIII an den zuständigen Jugendhilfeträger herantragen.

Dies ist zu einem früheren Zeitpunkt noch nicht zu erwarten. Dem Antrag auf eine Leistung im Sinne des § 2 SGB VIII geht regelmäßig eine Phase der Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt und der Beratung durch dieses voraus. In dieser Zeit hat der Leistungsberechtigte gemäß § 14 SGB I Anspruch auf Beratung durch den Leistungsträger und zwar im Hinblick auf Art und Inhalt aller Jugendhilfeaufgaben sowie auf Hilfestellung bei der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer konkreten Jugendhilfeleistung. Erst wenn der Leistungsberechtigte sich für die Inanspruchnahme einer Hilfe entschieden hat, kann er diese beim zuständigen Jugendhilfeträger konkret beantragen.

Dem objektiv bestimmbaren Zeitpunkt der Antragstellung durch den Leistungsberechtigten ist auch gegenüber den in der Literatur herangezogenen Zeitpunkten (Unterrichtung der Eltern über die positive Teamentscheidung, Entscheidung der Erziehungskonferenz, Aufnahme von Hilfeplangesprächen) der Vorzug zu geben. Denn die Zuständigkeitsbestimmung ist bei diesen Anknüpfungen von der Art und Weise des Betreibens des Verwaltungsverfahrens durch die Jugendhilfeträger abhängig. Sie erlauben auch keine Lösungen in Fällen eines negativen oder positiven Kompetenzkonflikts oder in den Fallkonstellationen, in denen auf Grund überholender Kausalität die Selbstbeschaffung vor ordnungsgemäßer Fortführung des Verwaltungsverfahrens bzw. vor Abschluss des Verfahrens durch Erlass eines Verwaltungsakts erforderlich wird und erfolgt. Denn in diesen Fällen fehlt es an entsprechenden Entscheidungen oder sie werden zu einem Zeitpunkt getroffen, in dem der Aufenthaltsort des jungen Menschen und der Ort der Einrichtung, die die Leistung erbringt, identisch geworden sind, was dem unter anderem in den §§ 86 b Abs. 1 Satz 2 i.V.m. 86 a Abs. 2, 89 e SGB VIII zum Ausdruck kommenden Prinzip des Schutzes der Einrichtungsorte im SGB VIII widerspräche.

Unter Antragstellung ist die Abgabe einer einseitigen empfangsbedürftigen Willenserklärung des öffentlichen Rechts zu verstehen, mit welcher der Antragsteller dem Leistungsträger gegenüber zum Ausdruck bringt, eine Sozialleistung in Anspruch nehmen zu wollen. Diese ist nach den Grundsätzen der §§ 133, 157 BGB auszulegen. Es ist der wirkliche Wille des Antragstellers zu erforschen. Bloße Tatsachenmitteilungen und Auskunftsersuchen sind keine auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge zielenden Willenserklärungen. Andererseits sind an die Spezifizierung des Antrags keine übertriebenen Anforderungen zu stellen. Er kann grundsätzlich formlos gestellt werden (§ 9 SGB X).

Vgl. Klattenhoff, in Hauck/Noftz, SGB I, K § 16 Rdnr. 5.

Wird ein solcher Antrag gestellt, steht der für die Aufenthaltsverhältnisse maßgebliche Zeitpunkt fest, unabhängig davon, ob ihm eine Einleitung und Durchführung eines Verwaltungsverfahrens tatsächlich nachfolgt.

e. Die Anwendung dieser Grundsätze führte im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass der zuständige Jugendhilfeträger am 9.11.1995 ein Verwaltungsverfahren gerichtet auf eine Leistung nach § 19 SGB VIII hätte einleiten müssen: Denn die Klägerin hat an diesem Tag gegenüber der Sozialarbeiterin beim E. Werk in H. zur Weitergabe an den Beklagten sowie gegenüber der Sachbearbeiterin des Jugendamtes des Beklagten mitgeteilt, sie sei nunmehr mit einer Betreuung in einer Mutter-Kind-Einrichtung einverstanden. Damit hat die Klägerin zum Ausdruck gebracht, die ihr anempfohlene Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen. Dementsprechend hat das Jugendamt des Beklagten zu Recht auf Aufnahme der Klägerin in eine Mutter-Kind-Einrichtung gerichtete Aktivitäten entfaltet. Dass die Klägerin nachfolgend noch mehrfach daran zweifelte, dass eine Mutter-Kind-Einrichtung für sie die richtige Maßnahme sei, steht der Annahme eines Antrags nicht entgegen. Die Klägerin hat letztendlich an ihrer am 9.11.1995 getroffenen Entscheidung festgehalten, wie ihre Aufnahme im Mutter-Kind-Heim am 4.12.1995 belegt.

Die Antragstellung der Mutter der Klägerin am 14.11.1995 war für das Merkmal "vor Beginn der Leistung" nicht mehr maßgebend. Die Klägerin konnte als seinerzeit 17-jährige Jugendliche bereits selbst den Antrag auf die Jugendhilfeleistung stellen (§ 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I) und hat dies - wie ausgeführt - am 9.11.1995 auch getan. Die Mutter hat durch ihre Antragstellung dem Antrag der Klägerin - soweit überhaupt erforderlich - folglich nur konkludent ihre Zustimmung erteilt. Der Antrag der Klägerin vom 9.11.1995 war auch nicht zur Unzeit gestellt. Dem zweiten Antrag der Klägerin vom 7.3.1996 lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass sie am 9.11.1995 die Leistung noch gar nicht begehrte. Sie weist in ihm im Gegenteil darauf hin, dass sie seinerzeit Hilfe für sich und ihr ungeborenes Kind gesucht habe.

Vor dem 9.11.1995 war seitens des zuständigen Jugendhilfeträgers noch kein Verwaltungsverfahren, gerichtet auf eine Hilfe nach § 19 SGB VIII, einzuleiten. Bis zu diesem Tag hatte sich die Klägerin stets gegen eine solche Jugendhilfemaßnahme ausgesprochen. Erst auf Grund ihres gegenüber dem E. Werk in H. und sodann telefonisch gegenüber dem Beklagten erklärten Einverständnisses konnte der zuständige Jugendhilfeträger in einem auf die Bewilligung dieser Hilfe zielenden Verwaltungsverfahren die für die Aufnahme einer Schwangeren in eine Einrichtung nach § 19 SGB VIII notwendigen Schritte einleiten. Solange die Klägerin ihre Bereitschaft zur Betreuung in einem Mutter-Kind-Heim nicht erkennen ließ, konnten die involvierten Stellen zwar über die nach dem SGB VIII zur Verfügung stehenden Möglichkeiten allgemein und werbend beraten, nicht jedoch gezielt die Jugendhilfeleistung nach § 19 SGB VIII vorbereiten.

2. Die Klägerin hatte am 9.11.1995 an keinem Ort einen gewöhnlichen Aufenthalt.

Nach dem auch im Jugendhilferecht anzuwendenden § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Gemäß § 37 Satz 1 SGB I gilt diese Legaldefinition mit der Maßgabe, dass der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm auszulegen ist.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 31.8.1995 - 5 C 11.94 -, FEVS 46, 133, 137, und vom 18.3.1999 - 5 C 11.98 -, FEVS 49, 434, 436.

Hiervon ausgehend ist das Merkmal "nicht nur vorübergehend verweilt" erfüllt, wenn der Betreffende sich an dem Ort "bis auf weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat. Ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt ist nicht erforderlich.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 18.3.1999 - a.a.O., und vom 18.5.2000 - 5 C 27.99 - FEVS 51, 546, 548; OVG NRW, Beschluss vom 18.3.2002 - 12 A 1681/99 - .

Bei einem Minderjährigen kommt der Festlegung des Aufenthaltsorts durch den zur Bestimmung des Aufenthalts Berechtigten maßgebliche Bedeutung zu, hinter der der Wille des Minderjährigen, sich tatsächlich an einem anderen Ort aufzuhalten, zurücktritt. Der Versuch des Minderjährigen, durch Entweichen aus dem Elternhaus sich der Bestimmung seines Aufenthalts durch den Personensorgeberechtigten zu entziehen, führt daher erst dann zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts des Minderjährigen an seinem tatsächlichen Aufenthaltsort, wenn der Personensorgeberechtigte sein Bemühen aufgibt, seine Aufenthaltsbestimmung durchzusetzen, und es dem Minderjährigen gelingt, für einen erheblichen Zeitraum den eigenen Willen zu verwirklichen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 15.5.1986 - 5 C 68/84 -, BVerwGE 74, 206, 208 f.

Die personensorgeberechtigten Eltern der Klägerin hatten bereits während der Zeit, in der sich die Klägerin noch in B. aufhielt, Versuche zur Durchsetzung des von ihnen bestimmten Aufenthaltsortes eingestellt. Der Klägerin gestanden sie vielmehr seit mehreren Monaten zu, ihren Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. So war der Mutter auch der Aufenthalt der Klägerin in K. und B. bekannt, ohne dass sie dagegen etwas unternahm.

Nachdem die Klägerin B. endgültig verlassen hatte, begründete sie an keinem Ort ihren gewöhnlichen Aufenthalt (wird ausgeführt).

3. Die Klägerin hatte am 9.11.1995 ihren tatsächlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 b Abs. 2 SGB VIII im Zuständigkeitsbereich des Beklagten.

Den tatsächlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich physisch (körperlich) aufhält. Warum sich der Leistungsberechtigte an diesem Ort aufhält, ist nicht von Bedeutung. Die Verweildauer darf allerdings nicht nur in einem Passieren bestehen oder nur kurz sein.

Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.11.1995 - 6 S 941/93 -, FEVS 46, 449, 451, Wiesner, a.a.O., § 86 Rdnr. 21, Jans / Happe / Saurbier, Kinder- und Jugendhilferecht, Stand: Juni 2001, Erl. Art. 1 § 86 Rdnr. 14 und § 6 Rdnrn. 27-30, Ausgehend hiervon hatte die Klägerin am 9.11.1995 ihren tatsächlichen Aufenthalt in K. (wird ausgeführt.)

4. Dass die Klägerin diesen tatsächlichen Aufenthalt vom 9. auf den 10.11.1995 aufgab und sich danach (auch) im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen zu 3. aufhielt, ließ die am 9.11.1995 begründete Zuständigkeit des Beklagten unberührt.

Dies beruht allerdings nicht auf der Erwägung des VG, die wegen des tatsächlichen Aufenthalts der Klägerin in K. seit dem 13.10.1995 oder spätestens seit dem 9.11.1995 begründete Zuständigkeit bestehe schon allein aus Gründen der Prüfungskontinuität über den 9.11.1995 hinaus.

Dieser dem § 97 Abs. 1 BSHG entlehnte Rechtsgedanke besagt, eine einmal begründete örtliche Zuständigkeit eines Sozialhilfeträgers besteht trotz Ortswechsels des Hilfe Suchenden weiter, wenn die Bedarfslage in seinem Verantwortungsbereich nicht nur entstanden und ihm zur Kenntnis gelangt ist, sondern von ihm auch durch Erledigung des Hilfefalles hätte beseitigt werden können.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 24.1.1994 - 5 C 47.91 -, FEVS 45, 89, und vom 22.12.1998 - 5 C 21.97 -, FEVS 51, 145, 147.

Er ist in dieser Allgemeinheit auf das Jugendhilferecht nicht übertragbar. Angesichts der komplexen Aufgabenstruktur der öffentlichen Jugendhilfe sah bereits der Gesetzgeber des SGB VIII keine Möglichkeit einer allgemein gültigen Anknüpfung der örtlichen Zuständigkeit an den tatsächlichen Aufenthalt.

Vgl. Regierungsbegründung, BT-Drucks. 12/2866 S. 20.

Er hat daher die Zuständigkeitsregelungen in Anknüpfung an die jeweilige Fallgestaltung ausgestaltet und dabei insbesondere in Fällen, in denen die Jugendhilfe keine punktuelle Maßnahme, sondern eine auf einen längeren Zeitraum bezogene Leistung ist, einen Wechsel der Zuständigkeit ausdrücklich vorgesehen und dabei unabhängig von einer Kontinuität oder Effektivität der Hilfegewährung durch den bisher zuständigen Jugendhilfeträger ausschließlich an den gewöhnlichen oder tatsächlichen Aufenthalt der Eltern, des Elternteils oder des Kindes bzw. Jugendlichen angeknüpft (vgl. §§ 86 Abs. 5, 6 SGB VIII).

Im Rahmen des § 86 b SGB VIII beruht die Fortdauer der Zuständigkeit des vor Beginn der Leistung zuständigen Jugendhilfeträgers allein auf der gesetzlichen Wertung, dass in den Fällen des § 86 b SGB VIII, ebenso wie in denen des § 86 a SGB VIII, vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.9.2001 - 12 A 5134/99 -, auf den die Vorschrift ausdrücklich Bezug nimmt, die Zuständigkeitsbestimmung u.a. auf den Zeitpunkt "vor Beginn der Leistung" fixiert und ein nachfolgender Zuständigkeitswechsel nicht gesetzlich angeordnet ist.

5. Eine vormals gegebene Zuständigkeit des Beigeladenen zu 1. auf Grund vorausgegangener Hilfe gemäss § 86 b Abs. 3 SGB VIII bestand nicht. (wird ausgeführt)

Ende der Entscheidung

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