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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 06.09.2004
Aktenzeichen: 12 A 3625/03
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 27
SGB VIII § 33
SGB VIII § 39
1. Können Großeltern nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen den nach jugendhilferechtlichem Maßstab bemessenen notwendigen Unterhalt eines zur Pflege in ihren Haushalt aufgenommenen Enkelkindes nicht sicherstellen, ist zu vermuten, dass sie zu dessen unentgeltlicher Pflege nicht bereit sind.

2. Diese Vermutung kann durch besondere Umstände des Einzelfalls widerlegt werden.

3. Ein solcher Umstand ist nicht durch die Frage zu ermitteln, ob die Großeltern ernsthaft erwägen, das Kind seinem Schicksal zu überlassen bzw. der Obhut des Jugendamtes zu übergeben, falls ihnen keine wirtschaftliche Jugendhilfe gewährt wird.


Tatbestand:

Die Kläger, die von Juli 1999 bis März 2002 miteinander verheiratet waren, sind die Eltern des 1999 geborenen Kindes N. Beide Kläger stehen wegen psychischer Erkrankungen seit mehreren Jahren unter Betreuung.

Unter dem 29.11.2001 beantragten die Kläger beim Jugendamt des Beklagten die Gewährung von Hilfe zur Erziehung ihres Sohnes in Vollzeitpflege bei Frau X., der Mutter der Klägerin. Mit Schreiben vom 8.12.2001 teilte Frau X. dem Jugendamt mit, ihre Tochter sei psychisch krank und nicht in der Lage, N. aufzuziehen und zu erziehen. Dieser lebe bereits seit Mai 2000 bei ihr. Anderenfalls müsste er in einem Heim untergebracht werden, was sie auf keinen Fall wolle. N. werde von ihr versorgt, aufgezogen und erzogen; es gehe ihm gut.

Der Beklagte lehnte den Antrag der Kläger ab.

Auf einen entsprechenden Antrag von Frau X. bewilligte der Bürgermeister ihres Wohnortes H. dem Sohn der Kläger für die Zeit ab dem 28.11.2001 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz in Form von Regelsatzleistungen abzüglich Kindergeld und machte gegenüber dem Beklagten einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X geltend.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid des Beklagten erhoben die Kläger Klage.

Das VG verpflichtete den Beklagten, den Klägern Hilfe zur Erziehung ihres Sohnes N. in Vollzeitpflege durch Frau X. gemäß §§ 27, 33 SGB VIII einschließlich wirtschaftlicher Hilfe gemäß § 39 SGB VIII für den Zeitraum vom 29.11.2001 bis zum 31.7.2002 unter Anrechnung der ihrem Sohn für diesen Zeitraum bewilligten Sozialhilfe zu gewähren. Die Berufung des Beklagten hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII bestimmt, dass Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt wird. Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten (§ 33 Satz 1 SGB VIII). Wird Hilfe nach den §§ 32 bis 35 oder nach § 35 a Abs. 2 Nr. 2 bis 4 gewährt, so ist gemäß § 39 Abs. 1 SGB VIII auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen (Satz 1), der auch die Kosten der Erziehung umfasst (Satz 2).

Die Kläger waren im streitgegenständlichen Zeitraum grundsätzlich berechtigt, Hilfe zur Erziehung ihres Sohnes N. und auch Leistungen zu seinem Unterhalt in Anspruch zu nehmen. Der Anspruch auf Leistungen zum Unterhalt eines Kindes in Vollzeitpflege steht nämlich als "Annex-Anspruch" zum Anspruch auf Hilfe zur Erziehung ebenfalls dem Personensorgeberechtigten (§ 27 Abs. 1 SGB VIII) zu.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.9.1996 - 5 C 31.95 -, FEVS 47, S. 433 (435), sowie Urteil vom 4.9.1997 - 5 C 11.96 -, FEVS 48, S. 289 (290); OVG NRW, Urteil vom 25.4.2001 - 12 A 924/99 -, FEVS 53, S. 251 (252 f.), m.w.N.

Die Kläger waren im Streitzeitraum personensorgeberechtigt. Der Umstand, dass sie unter Betreuung gestanden haben (und stehen), beeinträchtigt ihre Stellung als Personensorgeberechtigte nicht. Denn das Amtsgericht - Vormundschaftsgericht - M. hat ihnen weder ganz noch teilweise die Personensorge für N. entzogen (vgl. § 1666 BGB), sondern hat für sie lediglich jeweils für bestimmte Aufgabenkreise, die jedoch nicht die Ausübung der elterlichen Sorge betreffen, gemäß § 1896 BGB eine Betreuerin bestellt. Auch die im März 2002 erfolgte Scheidung ihrer Ehe hat nichts daran geändert, dass ihnen die Personensorge für N. gemeinsam zusteht.

Dem Anspruch der Kläger aus § 39 SGB VIII kann nicht entgegengehalten werden, dass der Beklagte keine Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27, 33 SGB VIII geleistet, sondern die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege bei Frau X. durch die angefochtenen Bescheide abgelehnt hat. Zwar setzt § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nach seinem Wortlaut voraus, dass Hilfe zur Erziehung nach den §§ 32 bis 35 SGB VIII gewährt wird. Dies kann jedoch nicht in den Fällen gelten, in denen der Träger der Jugendhilfe die Voraussetzungen für die Gewährung erzieherischer Hilfe verneint und mit Rücksicht darauf ein auf die Erziehung des Kindes oder des Jugendlichen gerichtetes Tätigwerden von vornherein ablehnt. In Fällen dieser Art hat das BVerwG in ständiger Rechtsprechung, wenn der Minderjährige die für erforderlich gehaltene erzieherische Hilfe tatsächlich von einem zur Tragung der hierbei anfallenden Kosten nicht bereiten Dritten erhalten hat, den zuständigen Jugendhilfeträger für verpflichtet gehalten, Jugendhilfe durch Übernahme der Kosten der Erziehungsmaßnahme und demzufolge auch "wirtschaftliche Jugendhilfe" zu leisten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung öffentlicher Jugendhilfe für die tatsächlich erhaltene Erziehung vorgelegen haben und diese Kosten nicht vom Minderjährigen oder seinen Eltern zu tragen sind.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 12.9.1996 - 5 C 31.95 -, a.a.O., S. 435 f., m.w.N., und vom 4.9.1997 - 5 C 11.96 -, a.a.O., S. 291; zur Zulässigkeit der sogenannten Selbstbeschaffung vgl. ferner BVerwG, Urteil vom 28.9.2000 - 5 C 29.99 -, FEVS 52, S. 532 (533), sowie OVG NRW, Urteile vom 14.3.2003 - 12 A 1193/01 -, FEVS 55, S. 86, und - 12 A 122/02 -, FEVS 55, S. 16.

Allein die Tatsache, dass es sich bei der Pflegeperson (Frau X.) um die Großmutter des Pflegekindes (N.) handelt, steht Ansprüchen der Kläger aus den §§ 27, 33, 39 SGB VIII ebenfalls nicht grundsätzlich entgegen. Vielmehr ist im Rahmen der Hilfe zur Erziehung der Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen außerhalb des Elternhauses (§ 39 Abs. 1 SGB VIII) auch dann sicherzustellen, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher von nahen Verwandten oder anderen Personen, die keiner Pflegeerlaubnis bedürfen, beispielsweise von den Großeltern (§ 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB VIII), betreut wird.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 15.12.1995 - 5 C 2.94 -, FEVS 47, S. 13 (17), vom 12.9.1996 - 5 C 31.95 -, a.a.O., S. 436, sowie vom 4.9.1997 - 5 C 11.96 -, a.a.O., S. 290 f..

Frau X. gehört auch nicht zur "Herkunftsfamilie" (§ 33 Satz 1 SGB VIII), aus der das Kind N. ursprünglich herkam. Denn das war die aus ihm und seinen Eltern, den Klägern, bzw. - seit dem Auszug der Klägerin aus der Ehewohnung - die nur noch aus ihm und seiner Mutter bestehende Familie. Bei seiner Großmutter lebt N. in einer "anderen Familie" im Sinne des § 33 Satz 1 SGB VIII.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 15.12.1995 - 5 C 2.94 -, a.a.O., S. 14 f., sowie Urteil vom 12.9.1996 - 5 C 31.95 -, a.a.O., S. 437.

Die Voraussetzungen für einen Anspruch der Kläger auf Hilfe zur Erziehung ihres Sohnes N. nach den §§ 27, 33 SGB VIII haben auch insoweit vorgelegen, als eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet war. Das ergibt sich aus dem Protokoll des Teamgesprächs im Jugendamt des Beklagten vom 19.2.2002, in dem unter anderem festgehalten ist, die Gespräche mit den Kindeseltern hätten ergeben, dass beide aufgrund ihrer (psychischen) Erkrankung auch künftig nicht in der Lage sein würden, sich um die Erziehung ihres Kindes zu kümmern; Hilfe sei für N. daher auf jeden Fall erforderlich. Im Bericht des Jugendamtes vom 7.3.2002 wird - damit übereinstimmend - ausgeführt, dass die Kindeseltern langfristig die Erziehung N.'s nicht würden sicherstellen können und dieser ein gesichertes Zuhause benötige.

Der Beklagte kann sich nicht darauf berufen, die Hilfe zur Erziehung, die die Kläger sich dadurch selbst beschafft haben, dass sie ihren Sohn der Mutter der Klägerin in Vollzeitpflege gegeben haben, sei für dessen Entwicklung nicht geeignet (vgl. § 27 Abs. 1 SGB VIII), da die Mutter der Klägerin nicht den Anforderungen entspreche, die er an eine Pflegeperson stelle. Dieser Einwand ist dem Beklagten schon deshalb versagt, weil er es unterlassen hat, den Klägern eine konkrete Alternative zur Vollzeitpflege bei Frau X. aufzuzeigen. Er hat seinen ablehnenden Bescheid vom 15.3.2002 unter anderem damit begründet, Frau X. erfülle nicht die Kriterien, die das Jugendamt bei der Anerkennung als geeignete Pflegeperson zugrundelege. Da er andererseits Hilfe zur Erziehung dem Grunde nach für erforderlich gehalten hat, hätte er sich nicht mit der Ablehnung der von den Klägern schon begonnenen Maßnahme begnügen dürfen, sondern hätte ihnen eine andere Pflegefamilie oder gegebenenfalls auch ein Heim (§ 34 SGB VIII) benennen müssen, in der bzw. in dem N. hätte untergebracht werden können. Das ist jedoch nicht geschehen.

In Anbetracht dessen ist es dem Beklagten verwehrt, sich auf die eigene Kompetenz für die Entscheidung über die im Fall der Kläger angezeigte Hilfeart bzw. die für ihren Sohn geeignete Pflegeperson zu berufen. Überlässt der Träger der Jugendhilfe es dem Hilfesuchenden, sich die seinen unaufschiebbaren Bedarf deckende Leistung selbst zu beschaffen, kann er der Zulässigkeit der Selbstbeschaffung später nicht entgegenhalten, er hätte eine andere Hilfe für geeignet und notwendig erachtet.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.3.2003 - 12 A 122/02 -, a.a.O., S. 21.

Davon abgesehen legt der Beklagte einen unzutreffenden Maßstab zugrunde, wenn er verlangt, Frau X. müsse den Anforderungen entsprechen, die an vom Jugendamt vermittelte Pflegepersonen (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII) gestellt würden. Vielmehr können für Verwandte, die nach Satz 2 Nr. 3 des § 44 Abs. 1 SGB VIII keiner Pflegeerlaubnis bedürfen, keine strengeren Kriterien gelten als für Pflegepersonen, die nach Satz 1 der Erlaubnispflicht unterliegen und denen nur dann die Eignung zur Betreuung eines Kindes oder Jugendlichen fehlt, wenn dessen Wohl bei ihnen nicht gewährleistet ist (vgl. § 44 Abs. 2 SGB VIII). Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass das Wohl eines Kindes in einer bestimmten Pflegestelle nicht gewährleistet ist, liegt beim Jugendamt; dieses muss nachvollziehbare Gründe für eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls darlegen.

Vgl. Mann in Schellhorn, SGB VIII / KJHG, 2. Aufl. 2000, § 44 Rn. 13; Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2000, § 44 Rn. 34 f.; Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und Jugendhilferecht (Stand: August 2003), KJHG § 44 Rn. 8, 50.

Diesen Anforderungen dürfte die Einschätzung der Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes im Bericht vom 7.3.2002 nicht genügen, zumal darin auch ausgeführt wird, N. fühle sich bei seiner Großmutter wohl und sei altersentsprechend entwickelt.

Die Notwendigkeit der streitigen Hilfe ist nicht dadurch entfallen, dass N. im streitbefangenen Zeitraum von seiner Großmutter tatsächlich gepflegt und betreut worden ist. Zwar kann die erforderliche Betreuung und Erziehung minderjähriger Kinder auch ohne öffentliche Jugendhilfe, z.B. durch einen Vormund oder einen Verwandten, geleistet werden. Deckt ein Verwandter im Einvernehmen mit dem Personensorgeberechtigten den erzieherischen Bedarf des Kindes bzw. Jugendlichen unentgeltlich, scheitert ein Anspruch des Personensorgeberechtigten auf öffentliche Jugendhilfe am fehlenden Bedarf; Hilfe zur Erziehung ist nicht "notwendig" im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 15.12.1995 - 5 C 2.94 -, a.a.O., S. 16, sowie Urteil vom 12.9.1996 - 5 C 31.95 -, a.a.O., S. 437.

Eine derartige unentgeltliche Bedarfsdeckung durch Verwandte, insbesondere Großeltern, kann aber nur dann angenommen werden, wenn diese entweder die Betreuung ihres Enkelkindes in Erfüllung ihrer Unterhaltspflicht leisten oder wenn sie zur unentgeltlichen Pflege bereit sind.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 12.9.1996 - 5 C 31.95 -, und vom 4.9.1997 - 5 C 11.96 -, jeweils a.a.O..

Eine solche Fallgestaltung liegt hier nicht vor. Weder hat Frau X. ihren Enkel in Erfüllung einer Unterhaltspflicht betreut noch war sie zur unentgeltlichen Pflege bereit.

Frau X. hat durch die Pflege und Betreuung ihres Enkels N. im streitgegenständlichen Zeitraum keine Unterhaltspflicht erfüllt, weil sie diesem gegenüber mangels Leistungsfähigkeit nicht zum Unterhalt verpflichtet war. Ihre grundsätzliche Unterhaltsverpflichtung gegenüber ihrem Enkel ergibt sich aus § 1601 BGB. Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist jedoch nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Das traf auf Frau X. jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitraum zu. ... Nach Abzug der Mietaufwendungen einschließlich Heizkosten verblieb Frau X. für ihren Lebensunterhalt ein Betrag von etwa 540 DM bzw. 276/272 EUR, der noch unterhalb des sozialhilferechtlichen Regelsatzes für einen Haushaltsvorstand liegt. Das Kindergeld von 270 DM (November und Dezember 2001) bzw. 154 EUR (ab Januar 2002), das Frau X. für N. erhalten hat, musste sie ohnehin jedenfalls teilweise für dessen Lebensunterhalt einsetzen, weil es vom Bürgermeister der Stadt H. auf dessen Sozialhilfeanspruch angerechnet worden ist. Angesichts dieser wirtschaftlichen Situation der Frau X. bestand eine Unterhaltspflicht gegenüber ihrem Enkel offensichtlich nicht.

Wegen der vor allem durch diese wirtschaftlichen Verhältnisse geprägten besonderen Umstände des vorliegenden Falles lässt sich auch nicht feststellen, dass Frau X. zur unentgeltlichen Pflege ihres Enkels bereit war.

Die Prüfung, ob eine Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege eines Enkelkindes vorhanden ist, erscheint insbesondere in den Fällen gerechtfertigt, in denen eine Unterhaltspflicht der betreuenden Großeltern insoweit nicht eintritt, als die Eltern (ganz oder teilweise) leistungsfähig oder neben den betreuenden Großeltern weitere Großeltern anteilig unterhaltspflichtig sind (vgl. § 1606 Abs. 2 und 3 BGB). Denn in solchen Fällen, in denen die Großeltern, bei denen das Enkelkind lebt, nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen möglicherweise Unterhaltsleistungen erbringen könnten, drängt sich in der Tat die Frage auf, ob in einem Antrag auf Hilfe zur Erziehung nicht lediglich der Wille zum Ausdruck gelangt, in den Genuss wirtschaftlicher Jugendhilfe zu kommen.

Anders verhält es sich hingegen, wenn - wie im vorliegenden Fall - eine Unterhaltspflicht der betreuenden Großmutter (bzw. Großeltern) mangels Leistungsfähigkeit nicht besteht und sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse nicht dazu in der Lage ist (bzw. sind), für die Erziehung des Enkels Beträge zur Verfügung zu stellen, die nach § 39 Abs. 1 SGB VIII erforderlich sind, um den notwendigen Unterhalt eines Kindes außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. Der insoweit auf der Grundlage des § 39 Abs. 5 SGB VIII festgesetzte Pauschalbetrag (materielle Aufwendungen und Kosten der Erziehung) hat für Kinder bis zum vollendeten 7. Lebensjahr im Jahr 2001 monatlich 1.133 DM und im Jahr 2002 monatlich 590 EUR betragen.

Vgl. Runderlasse des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.10.2000 und vom 22.8.2001 - IV B 2 - 6122.1, MBl. NRW 2000, S. 1412, und MBl. NRW 2001, S. 1075.

Bei Großeltern, die - wie hier Frau X. - nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zur Sicherstellung des notwendigen Unterhalts ihres Enkelkindes außerstande sind, ist zu vermuten, dass sie zur unentgeltlichen Pflege nicht bereit sind.

Vgl. in diesem Sinne Nds. OVG, Urteil vom 28.10.1998 - 4 L 3289/98 -, Juris; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 28.2.2003 - 9 S 1951/02 -; VG Sigmaringen, Urteil vom 21.7.2003 - 9 K 861/02 -, Juris; VG Aachen, Beschluss vom 17.2.2004 - 2 L 2405/03 -, Juris.

Diese Vermutung kann durch besondere Umstände des Einzelfalls widerlegt werden. Solche Umstände sind hier weder vom Beklagten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich. Insbesondere kann ein derartiger Umstand nicht durch die Frage ermittelt werden, ob die Großeltern ernsthaft erwägen, das Kind seinem Schicksal zu überlassen bzw. der Obhut des Jugendamtes zu übergeben, falls ihnen keine wirtschaftliche Jugendhilfe gewährt wird. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist es deshalb unerheblich, dass Frau X. die Erziehung N.'s in einer anderen Pflegefamilie oder in einem Heim ausdrücklich oder zumindest konkludent abgelehnt und dadurch zu erkennen gegeben hat, dass sie N. auf jeden Fall weiter in ihrem Haushalt betreuen will. Das Verantwortungsgefühl und die innere Bindung zwischen Großmutter und Enkel, die aus solchen Äußerungen sprechen, sind Voraussetzungen für eine dem Kindeswohl dienende Erziehung und schließen die Gewährung von Hilfe zu einer solchen Erziehung nicht aus. Denn anderenfalls könnten nur solche Großeltern Hilfe zur Erziehung erhalten, denen es in erster Linie darum geht, finanzielle Leistungen zu erlangen.

Auch im Übrigen liegen hier keine Umstände vor, die die durch die wirtschaftliche Situation der Frau X. begründete Vermutung, dass sie zur unentgeltlichen Pflege ihres Enkels nicht bereit ist, widerlegen könnten. Vielmehr wird diese Vermutung durch den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Aufnahme N.'s in den Haushalt seiner Großmutter und der Beantragung von Leistungen nach § 39 SGB VIII sowie Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bestätigt. Auf Grund der mündlichen Verhandlung hat der Senat die Überzeugung gewonnen, dass Frau X. ihren Enkel etwa im Mai oder Juni 2001 in ihren Haushalt aufgenommen hat. [Wird ausgeführt] Sind die Anträge auf Hilfe zur Erziehung und Sozialhilfe aber bereits wenige Monate nach Aufnahme N.'s in den Haushalt seiner Großmutter gestellt worden, so hat diese damit zeitnah deutlich gemacht, dass sie finanzielle Unterstützung durch einen Sozialleistungsträger benötigte, weil sie den Unterhalt N.'s nicht, auch nicht vorübergehend, aus eigenen Mitteln sicherstellen konnte.



Ende der Entscheidung

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