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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 04.08.2008
Aktenzeichen: 13 A 2146/06
Rechtsgebiete: PsychThG


Vorschriften:

PsychThG § 1 Abs. 3 Satz 1
PsychThG § 6
PsychThG § 6 Abs. 2
PsychThG § 11
Anerkennung einer Ausbildungsstätte nach § 6 PsychThG für das Vertiefungsgebiet "Systemische Therapie/Familientherapie".
Tatbestand:

Die Klägerin beantragte bei der Beklagten die Anerkennung als Ausbildungsstätte nach § 6 PsychThG für die Ausbildung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten für das Vertiefungsgebiet "Systemische Therapie/Familientherapie". Die Beklagte lehnte den Antrag ab mit der Begründung, eine Einrichtung könne als Ausbildungsstätte nur anerkannt werden, wenn in ihr Patienten nach wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren behandelt würden. Die Feststellung und Anerkennung eines wissenschaftlichen Psychotherapieverfahrens obliege dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie - WBP -, der das vom Antrag erfasste Vertiefungsgebiet aber nicht anerkannt habe. Das VG verpflichtete die Beklagte zur Neubescheidung des Antrags der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Das VG hat zu Recht die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und die Beklagte zur Neubescheidung des Antrags der Klägerin verpflichtet.

Zu den auch hier generell maßgebenden Bestimmungen des Psychotherapeutengesetzes verweist der Senat auf die Ausführungen im Beschluss vom 15.1.2008 - 13 A 5238/04 - (Kurzwiedergabe in MedR 2008, 287), die im Wesentlichen auch für dieses Verfahren gelten.

Ein Zweifelsfall i. S. d. § 11 PsychThG, der zur Einholung eines Gutachtens des WBP berechtigt, kann in Bezug auf den in Frage stehenden Antrag auf Anerkennung einer Ausbildungsstätte im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie/Familientherapie angenommen werden. Die Einschaltung des Wissenschaftlichen Beirats rechtfertigt sich schon dann, wenn sich die zur Entscheidung berufene Behörde wegen fehlender Sachkompetenz nicht zur Beurteilung der wissenschaftlichen Anerkennung eines Verfahrens in der Lage sieht. Davon kann hier ausgegangen werden, zumal die Systemische Therapie als relativ "junges therapeutisches Verfahren" nicht so bekannt ist wie beispielsweise die Gesprächspsychotherapie, die Gegenstand des o. a. Beschlusses des Senats vom 15.1.2008 war, und der Beklagten eine Bewertung des Antrags der Klägerin auf der Grundlage eigener Erkenntnisse zur Anerkanntheit der Therapie offenbar nicht möglich war.

Die Entscheidung der Beklagten, den Antrag der Klägerin unter Berufung auf einen fehlenden Wirksamkeitsnachweis für die Systemische Therapie/Familientherapie abzulehnen, ist aber nicht haltbar. Dies folgt - in zeitlicher Hinsicht - noch nicht aus dem Umstand, dass das der Entscheidung letztlich zu Grunde gelegte Gutachten des WBP zur 'Systemischen Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren' aus September 1999 stammt und nicht speziell auf den Antrag der Klägerin hin bzw. nach der Einschaltung des WBP durch den Beklagten erstellt wurde und dass das Gutachten zum Zeitpunkt der - bei Verpflichtungsklagen für die Sach- und Rechtslage grundsätzlich maßgebenden - gerichtlichen Entscheidung im Berufungsverfahren mittlerweile bereits ca. 9 Jahre alt ist. Angesichts der Komplexität der dem WBP vorliegenden Fragen zur Systemischen Therapie kann eine häufigere oder in Bezug auf einen Anerkennungsantrag aktuellere gutachterliche Stellungnahme wohl nicht erwartet werden. Dieser Punkt und der derzeit nicht absehbare Zeitpunkt einer weiteren Bewertung der Systemischen Therapie durch den WBP ist andererseits auch mit bestimmend für die Erwägung des Gerichts, mit der Entscheidung im Berufungsverfahren nicht länger zuzuwarten.

Die angefochtene Entscheidung der Beklagten ist inhaltlich nicht tragfähig. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass gerade im Bereich der Psychotherapie nicht schrankenlos alle möglichen Therapiemethoden und -maßnahmen zugelassen werden können/sollen und dass es - insbesondere aus Gründen eines effektiven Patientenschutzes - eines angemessenen Begrenzungs- und Zulassungskriteriums bedarf. Anderenfalls würde sich eine inflationäre Entwicklung derartiger Verfahren ergeben, deren fehlende Überschaubarkeit nicht im Interesse der Patienten liegen kann. Das Fordern eines Wirksamkeitsnachweises für ein bestimmtes psychotherapeutisches Verfahren erscheint dem Senat hingegen nicht sachgerecht und nicht angemessen. Ein derartiges an die Wirksamkeit einer Therapiemaßnahme anknüpfendes Erfordernis mag unter gesundheits- und finanzpolitischen Gesichtspunkten seine Berechtigung haben für die Frage der Kostenerstattung psychotherapeutischer Heilbehandlungen durch die jeweiligen Kostenträger. Es erscheint aber im Bereich der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufs(ausübungs)freiheit nicht geboten. Nach der gesetzgeberischen Intention beim Erlass des Psychotherapeutengesetzes, ein breit gefächertes Behandlungsspektrum mit unterschiedlichen Verfahren zu ermöglichen, für psychotherapeutische Behandlungsmethoden nicht zu enge Grenzen zu setzen und Weiterentwicklungen in diesem Bereich nicht zu verhindern, kann insoweit nach den dargelegten Kriterien Orientierungsmaßstab und -grenze für eine psychotherapeutische Methode nur sein, ob sie vor dem Hintergrund des zu schützenden Patientenwohls außerhalb der allgemeinen Akzeptanz in der Berufsbranche steht und beispielsweise als modische oder pseudotherapeutische Behandlungsmethode und/oder wegen fehlender Mindeststandards im Bereich der Scharlatanerie und der missbräuchlichen Anwendung anzusiedeln ist.

Vgl. Francke, Wissenschaftlich anerkannte psychotherapeutische Verfahren nach § 1 Abs. 3 Satz 1 PsychThG, MedR 2000, 447.

Dass diese Grenze bei der in Frage stehenden Systemischen Therapie/Familientherapie, für die die Klägerin eine Ausbildungsberechtigung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten erstrebt, überschritten wird, ist nicht ersichtlich.

Die beim Erlass des Psychotherapeutengesetzes u.a. maßgebende Erwägung, Weiterentwicklungen im Bereich der Psychotherapie nicht zu verhindern, schließt es dabei von vornherein aus, als wissenschaftlich anerkannte Verfahren im Sinne des Gesetzes nur diejenigen Verfahren zuzulassen, die seinerzeit im Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses, also im Jahr 1998, weitgehend anerkannt waren, und späteren Entwicklungen allein wegen des Zeitpunkts die Anerkennung zu versagen. Eine solche Handhabung würde das Ansinnen nach Weiterentwicklung in der Psychotherapie unterlaufen. Die Systemische Therapie/Familientherapie wurde auch bereits in dem im Hinblick auf ein beabsichtigtes Psychotherapeutengesetz erstellten Forschungsgutachten von Prof. Dr. Dr. Meyer u. a. aus 1991 erwähnt. Die Verfasser haben darin (S. 94 ff) unter kritischer Würdigung aller fachrelevanten Gesichtspunkte letztlich die Auffassung geäußert, dass systemisches Denken eine wertvolle Bereicherung des Gesamtbereiches der Psychotherapie sein könne und einmal berechtigterweise eine größere Rolle spielen könne als zum Zeitpunkt des Gutachtens. Es sei auch nicht auszuschließen bzw. damit zu rechnen, dass die bisher erst sehr unzureichend geprüften einzelnen systemischen Vorgehensweisen sich einmal als wertvolle Bereicherung des Spektrums psychotherapeutischer Behandlungsmethoden erweisen werden und dass sich die systemische Familientherapie im Zuge weiterer Untersuchungen als Therapieverfahren mit nachgewiesener Wirksamkeit qualifizieren werde. Die grundsätzliche Eignung des in Frage stehenden Therapieverfahrens zur Behandlung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen wurde somit in dem Forschungsgutachten nicht in Frage gestellt und eine Zuweisung der Methode in den Bereich der Scharlatanerie erfolgte nicht. Aus der Zeit nach dem Beschluss des Psychotherapeutengesetzes ist bezüglich der wissenschaftlichen Anerkanntheit des Therapieverfahrens zudem, auch wenn diese interessenbestimmt ist, auf die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie - AGST - von Dezember 1998 zu verweisen. Auch das Gutachten des WBP zur "Systemischen Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren" von September 1999 einschließlich des zugehörigen Minderheitsvotums verneint nicht apodiktisch die grundsätzliche Eignung dieses Therapieverfahrens für eine psychotherapeutische Behandlung; in dem auf einen Wirksamkeitsnachweis abstellenden Mehrheitsvotum ist nämlich die Rede davon, dass die Systemische Therapie "derzeit" nicht als nachgewiesen gelten könne. Zu dem WBP-Gutachten von 1999 sind etliche fachwissenschaftliche Stellungnahmen ergangen; u. a. kann auf die von der Klägerin vorgelegte Stellungnahme zahlreicher Hochschullehrer mit Stand von November 2001 verwiesen werden, in der der "Wirksamkeits"-Ansatz des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie als zu eng beurteilt wurde. Dass sich die Bewertung zur grundsätzlichen Eignung der Systemischen Therapie als psychotherapeutisches Verfahren im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten seither entscheidend in Richtung einer in der psychotherapeutischen Berufsbranche nicht akzeptierten Behandlungsmethode verändert hat, ist - nicht zuletzt wegen der zahlreichen im Internet abrufbaren Beiträge zu dem fraglichen Therapieverfahren - nicht ersichtlich. Auch ohne vertiefte psychotherapeutische Kenntnisse erscheint dieses Therapieverfahren bei laienhafter Wertung geeignet zur Behandlung von Problemfällen und Störungen mit psychischem Hintergrund bei Kindern und Jugendlichen. Dementsprechend erscheint auch eine Ausbildung mit diesem Vertiefungsgebiet zu Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die hier allein nach dem Antragsbegehren in Frage steht, angezeigt. Die Systemische (Psycho-)Therapie ist, wie die Klägerin dargelegt hat, inzwischen Gegenstand universitärer Lehrveranstaltungen und Forschungen, was ebenfalls als Indiz für einen gewissen Grad wissenschaftlicher Anerkanntheit gewertet werden kann. Auf Grund einer im Auftrag von Fachverbänden erstellten und im Sommer 2006 vorgelegten wissenschaftlichen Studie zur "Wirksamkeit der Systemischen Therapie/Familientherapie" befasst sich auch der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie derzeit erneut mit diesem Therapieverfahren; eine abschließende Bewertung in der Sache ist voraussichtlich noch im Jahre 2008 zu erwarten. Allein dieser Umstand und die Tatsache, dass der WBP - ebenso wie bei seinem Gutachten von 1999 - nicht von vornherein die Befassung mit dieser Thematik abgelehnt hat, ist deshalb ein weiteres Indiz für eine gewisse Akzeptanz der Methode in Fachkreisen und dafür, dass die Methode nicht der nach dem Psychotherapeutengesetz auszuschließenden Scharlatanerie und der missbräuchlichen Anwendung zuzuordnen ist.

Zusammenfassend und nach der dargelegten Intention des Gesetzgebers bei Erlass des Psychotherapeutengesetzes ist es daher nicht gerechtfertigt, eine Ausbildungsberechtigung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit dem Vertiefungsgebiet Systemische Therapie/Familientherapie generell zu versagen.

Da das VG die Beklagte zur erneuten Entscheidung über den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Ausbildungsstätte für die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet und dieser Bescheidungsausspruch Bestand hat, besteht keine Veranlassung für eine umfassende gerichtliche Prüfung der in § 6 Abs. 2 PsychThG geforderten sonstigen Nachweise durch das Berufungsgericht.

Ende der Entscheidung

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