Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 14.05.2002
Aktenzeichen: 15 A 631/00
Rechtsgebiete: FlüAG 1994, VwVfG NRW, BGB


Vorschriften:

FlüAG 1994 § 4 Abs. 3
VwVfG NRW § 31 Abs. 7
BGB § 242
Die Verwirkung eines Anspruchs der Gemeinden auf Gewährung einer Landeserstattung nach § 4 Abs. 1 und 2 FlüAG 1994 kommt nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht. Das bloße Unterlassen einer termingerechten Meldung des Bestandes ausländischer Flüchtlinge durch die Gemeinde reicht hierzu nicht aus.
Tatbestand:

Die klagende Gemeinde beantragte die Erstattung ihrer Aufwendungen nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz in der Fassung des 4. Änderungsgesetzes vom 29.11.1994 (GV. NRW. S. 1087) - FlüAG 1994 - bei der beklagten Bezirksregierung erst bis zu 1 1/2 Jahre nach den in § 4 Abs. 3 FlüAG 1994 für die Anzahl der ausländischen Flüchtlinge bestimmten Meldezeitpunkten. Das VG wies die gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten gerichtete Klage unter Hinweis auf den Rechtsgedanken des § 31 Abs. 7 VwVfG NRW ab. Die zugelassene Berufung der Klägerin führte zur Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Gründe:

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung ihrer Aufwendungen im 4. Quartal 1996 und im 1. - 3. Quartal 1997 nach § 4 Abs. 1 und 2 FlüAG 1994. Hiernach gewährt das Land den Gemeinden eine quartalsweise pauschale Erstattung ihrer Aufwendungen für jeden ausländischen Flüchtling im Sinne des § 2 des Gesetzes, der Leistungen der in § 4 Abs. 1 lit. a) - c) FlüAG 1994 bezeichneten Art erhält, in Höhe von 1.935,-- DM zuzüglich einer Betreuungspauschale von 90,-- DM.

Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass sich die in dem Bericht des Gemeindeprüfungsamtes genannte Familie S. im Gebiet der Klägerin aufhielt und im fraglichen Zeitraum Leistungen der angesprochenen Art erhielt. Der Anspruch auf Erstattung einer Vierteljahrespauschale und einer Betreuungspauschale für jedes der Familienmitglieder ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Klägerin die Erstattung erst am 24.6.1998 und damit deutlich nach den in § 4 Abs. 3 FlüAG 1994 bestimmten Meldezeitpunkten für die Anzahl der ausländischen Flüchtlinge - hier dem 15.1., 15.4., 15.7. und 15.10.1997 - bei der Beklagten beantragt hat.

Der Senat hat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 26.2.2002 - 15 A 527/00 - rechtsgrundsätzlich entschieden, dass § 4 Abs. 3 FlüAG 1994 keine gesetzliche Antragsfrist zur Erlangung einer Landeserstattung begründet, sondern eine das Melde- und Auszahlungsverfahren regelnde Ordnungsvorschrift darstellt. Hieran ist für das vorliegende Verfahren festzuhalten. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe des den Beteiligten bekannten Urteils Bezug genommen.

Die Geltendmachung des Anspruchs auf Gewährung einer Landeserstattung ist entgegen der Auffassung des VG nicht entsprechend dem Rechtsgedanken des § 31 Abs. 7 VwVfG NRW ausgeschlossen.

Gemäß § 31 Abs. 7 Sätze 1 und 2 VwVfG NRW können Fristen, die von einer Behörde gesetzt sind, verlängert werden. Eine Verlängerung ist hierbei auch rückwirkend, also auch nach ihrem Ablauf, möglich, insbesondere wenn es unbillig wäre, die durch den Fristablauf eingetretenen Rechtsfolgen bestehen zu lassen. Die Vorschrift hat keine Bedeutung für den geltend gemachten Erstattungsanspruch. Ihre Anwendung überschreitet die Grenzen einer rechtlich zulässigen Analogie.

Vgl. hierzu: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 366.

Sie enthält lediglich eine ermessensleitende Regelung für eine rückwirkende Verlängerung behördlicher Fristen. Dem kann schon deshalb kein Rechtsgedanke für die Versäumung der hier in Rede stehenden Ordnungsfrist entnommen werden, weil es vorliegend keine anspruchsschädlichen Rechtsfolgen einer Fristversäumung gibt, deren Bestehenbleiben unbillig sein könnte.

Zur Nichtanwendbarkeit der Vorschrift auf gesetzliche Fristen allgemein: BVerwG, Urteil vom 18.1.1996 - 2 C 13.95 -, DÖV 1996, 563; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl. 2000, § 31 Rdnr. 39.

Zudem fehlt es an einer für die Annahme einer Analogie erforderlichen ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke, weil mit dem aus § 242 BGB und dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens abgeleiteten Rechtsinstitut der Anspruchsverwirkung die Möglichkeit einer Bewertung nach Billigkeitsgesichtspunkten besteht. Die Voraussetzungen einer Verwirkung des Erstattungsanspruchs sind vorliegend indes nicht gegeben.

Verwirkung tritt ein, wenn ein Recht über längere Zeit nicht geltend gemacht worden ist, obwohl dies möglich war, und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen.

OVG NRW, Beschluss vom 21.1.1999 - 15 A 203/99 -; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 7.2.1974 - III C 115.71 -, BVerwGE 44, 339 (343); BGH, Urteile vom 20.10.1988 - VII ZR 302/87 -, BGHZ 105, 290 (298), und vom 16.6.1982 - IVb ZR 709/80 -, BGHZ 84, 281; OVG NRW, Urteil vom 1.6.1989 - 9 A 1297/87 - OVGE 41, 144 (148); Heinrichs, in: Palandt, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 61. Aufl. 2002, § 242 Rdnrn. 87 ff.; J. Schmidt, in: Staudinger, BGB-Kommentar, 12. Aufl. 1983, § 242 Rdnrn. 479 ff., jeweils m.w.N.

Die Grundsätze der Verwirkung von Ansprüchen gelten auch im öffentlichen Recht.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 20.1.1977 - V C 18.76 -, BVerwGE 52, 16 (25 f.) und vom 7.2.1974 - III C 115.71 -, BVerwGE 44, 339 (343); OVG NRW, Urteil vom 1.6.1989 - 9 A 1297/87 -, OVGE 41, 144 (148); Wolff/Bachof/ Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufl. 1994, S. 480.

Sie finden grundsätzlich auch im Verhältnis öffentlicher Rechtsträger untereinander Anwendung.

Vgl. BSG, Urteil vom 1.4.1993 - 1 RK 16/92 -, FEVS 44, 478 (483).

Es ist vorliegend bereits zweifelhaft, ob das für die Annahme einer Verwirkung erforderliche Zeitmoment gegeben ist. Die Dauer einer zur Verwirkung führenden Nichtausübung eines Rechts kann nicht allgemein, sondern nur mit Blick auf das konkret zwischen den Beteiligten bestehende Rechtsverhältnis bestimmt werden.

J. Schmidt, a.a.O., Rdnr. 484.

Sie kann je nach den Besonderheiten des Rechtsverhältnisses, der Art und Bedeutung des Anspruchs, des geschaffenen Vertrauenstatbestandes und der Schutzbedürftigkeit des Verpflichteten erheblich differieren.

Heinrichs, a.a.O., Rdnr. 93, m.w.N.

Ob die vorliegende Zeitspanne zwischen der erstmaligen Möglichkeit der Geltendmachung des Erstattungsanspruches und dem Schreiben der Klägerin an die Beklagte vom 23.6.1998 mit Blick auf den Ausnahmecharakter und die einschneidenden Rechtsfolgen der Verwirkung unangemessen lang ist, vgl. zu einem Zeitraum von 14 Monaten bei der Erstattung der außergerichtlichen Kosten eines Wahlanfechtungsverfahrens: BVerwG, Beschluss vom 29.8.2000 - 6 P 7/99 -, Juris = DÖV 2001, 128 (insoweit dort nicht abgedruckt), bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung. Denn zur Annahme eines die Verwirkung rechtfertigenden Vertrauenstatbestandes genügen weder die verstrichene Zeitspanne als solche noch die bloße Untätigkeit des Berechtigten. Erforderlich ist vielmehr zusätzlich, dass der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete hierauf tatsächlich vertraut hat (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (Vertrauensbetätigung).

BVerwG, Urteile vom 20.12.1999 - 7 C 42.98 -, NJW 2000, 1512, und vom 15.5.1984 - 3 C 86.82 -, BVerwGE 69. 227 (236 f.)

Eine Verwirkung kommt damit nur in besonders gelagerter Ausnahmefällen in Betracht. Dies hat für das Erstattungsverfahren nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz zur Folge, dass nicht das bloße Unterlassen einer termingerechten Meldung der Flüchtlinge ausreicht, sondern stets besondere Umstände hinzutreten müssen, welche die Nichtmeldung als treuwidrigen Pflichtenverstoß gegenüber der für die Mittelzuweisung zuständigen Bezirksregierung qualifizieren. Dies gilt umso mehr, als die Erstattungsansprüche nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz im öffentlichen Interesse dem Finanzausgleich zwischen dem Land und den Gemeinden dienen, die eine ihnen durch Gesetz zugewiesene staatliche Pflichtaufgabe wahrnehmen.

Vgl. Brossok, Das Flüchtlingsaufnahmegesetz und seine Änderungen vor dem Verfassungsgerichtshof, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, 2002, S. 437.

Für die Annahme einer Anspruchsverwirkung fehlt es vorliegend an einem Verhalten der Klägerin, das nach Treu und Glauben die Annahme rechtfertigt, der Anspruch werde nicht mehr geltend gemacht. Ein solcher Erklärungsinhalt ist auch den zeitlich nachfolgenden Quartalsmeldungen nicht beizumessen. Zwar sind die Gemeinden verpflichtet, den Bestand der ausländischen Flüchtlinge zu gesetzlich bestimmten Zeitpunkten zu melden. Den Quartalsmeldungen ist jedoch nicht die Erklärung zu entnehmen, Erstattungsansprüche für vorangegangene Zeiträume würden nicht mehr oder nicht mehr vollständig geltend gemacht. Eine solche Interpretation der Quartalsmeldungen führte letztlich doch zur Annahme einer gesetzlichen Antragsfrist, die vom Gesetzgeber gerade nicht gewollt war.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26.2.2002 - 15 A 527/00 - (S. 12 - 16 des amtl. Entscheidungsabdrucks).

Auch fehlt es an den erforderlichen Vertrauenstatbestand auf Seiten des Beklagten. Das Erstattungssystem des Flüchtlingsaufnahmegesetzes verbindet die Gemeinden und die zuständigen Bezirksregierungen in einem fortlaufenden Abrechnungsverfahren. Die gesetzliche Verknüpfung von Bestandsmeldung und Auszahlung bedeutet dabei nur, dass sich die Höhe des Erstattungsbetrages nach der Zahl der gemeldeten Flüchtlinge bemisst. Dies schließt die Berücksichtigung späterer Meldungen nicht aus.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26.2.2002 - 15 A 527/00 - (S. 16 des amtl. Entscheidungsabdrucks).

Aus der Sicht der zuständigen Bezirksregierung kann auf Grund dieser gesetzlichen Wertung allein aus dem Umstand, dass zu einem Stichtag eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen gemeldet wird, nicht berechtigterweise geschlossen werden, es sei für zurückliegende Zeiträume nicht mehr mit der Geltendmachung von Erstattungsansprüchen rechnen. Dies gilt auch dann, wenn der Anspruch auf Leistung einer Erstattung erst nach dem Ablauf des Meldezeitraums für das nachfolgende Quartal erfolgt. Denn eine Bindung der nachträglichen Geltendmachung der Erstattungsansprüche an bestimmte Meldezeiträume ist der gesetzlichen Regelung nicht zu entnehmen.

Zudem kann, wie gerade der hier streitbefangene Erstattungsanspruch für die Familie S. zeigt, die Feststellung des ausländer- und asylrechtlichen Status der einzelnen Flüchtlinge, der für die Erstattungsfähigkeit maßgebend ist, für die hiermit befassten Gemeinden mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden sein. Mit einer termingerechten Meldung kann folglich - ungeachtet der gesetzlichen Verpflichtung der Gemeinden - nicht in jedem Fall gerechnet werden. Eine genaue Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen durch die Gemeinden liegt überdies - schon zur Vermeidung möglicher Rückforderungen - auch im Interesse der zuständigen Bezirksregierungen.

Schließlich spricht nichts dafür, dass die spätere Abrechnung von Erstattungsansprüchen für die Beklagte unzumutbar wäre. Entsprechendes ergibt sich nicht aus Überlegungen der Haushaltssicherheit des Landes. Der Senat hat in seinem zitierten Entscheidung vom 26.2.2002 ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass verspätete Quartalsmeldungen und die hiermit verbundene spätere Zuweisung der Landesmittel die jährliche Haushaltsplanung des Landes nennenswert beeinträchtigen. Die zeitnahe Erstattung liegt zudem im Eigeninteresse der Gemeinden, sodass deutlich verspätete Quartalsmeldungen eher die Ausnahme bleiben dürften. Hieran ist für das vorliegende Verfahren festzuhalten. Die Beklagte hat keine Gesichtspunkte vorgetragen, die spürbare Verschiebungen des Ausgabengefüges auf Grund solcher Meldungen befürchten lassen. Sie sind auch nicht ersichtlich. Vielmehr dient der Landeshaushalt stets der Feststellung und Deckung eines voraussichtlichen Finanzbedarfs (§ 2 Satz 1 LHO in der Fassung der Bekanntmachung vom 26.4.1999 - GV. NRW. S. 158). Die Feststellung dieses Finanzbedarfs ist regelmäßig mit prognostischen Unsicherheiten verbunden und baut auf Erfahrungen der Vorjahre auf. Der Umstand, dass nicht alle Quartalsmeldungen entsprechend der in § 4 Abs. 3 FlüAG 1994 normierten Verpflichtung der Gemeinden termingerecht erfolgen, kann vor diesem Hintergrund zumutbarerweise in die Haushaltsplanung des Landes eingestellt werden.

Ende der Entscheidung

Zurück