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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 11.07.2007
Aktenzeichen: 16 A 1586/02
Rechtsgebiete: SGB X, BGB, BSHG


Vorschriften:

SGB X § 111 F. 1982
BGB § 166 Abs. 1
BSHG § 96 Abs. 1
BSHG § 107
Macht ein Sozialhilfeträger gemäß § 111 SGB X F. 1982 einen Erstattungsanspruch (hier: nach § 107 BSHG) nicht innerhalb der Frist bei dem Landkreis als örtlichem Sozialhilfeträger, in dem der Hilfeempfänger zuvor gelebt und Sozialhilfe bezogen hat, sondern bei der kreisangehörigen Gemeinde geltend, die vormals aufgrund der Satzung des Kreises die Sozialhilfe im eigenen Namen gewährt hat, kommt jedenfalls bei einer unklaren Zuständigkeitsregelung in der Satzung in Betracht, dass sich der Landkreis das Wissen der kreisangehörigen Gemeinde über die Anspruchsgeltendmachung entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen muss.
Tatbestand:

Die klagende Stadt begehrte vom beklagten Landkreis L. die Erstattung von Sozialhilfeleistungen, die sie in der Zeit vom 1.11.1994 bis zum 31.5.1995 an die Hilfeempfängerin O. und deren minderjährige Tochter erbracht hat.

Die Hilfeempfängerin und ihre Tochter wohnten bis Ende Oktober 1994 in der zum beklagten Kreis gehörenden Stadt F. und bezogen dort laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Zum 1.11.1994 zog Frau O. mit ihrem Kind nach L., wo beide alsbald Hilfe zum Lebensunterhalt beantragten und auch erhielten. Die Klägerin beantragte erstmals am 7.11.1994 von der Stadt F. die Erstattung der laufenden und künftigen Sozialhilfeaufwendungen nach § 107 BSHG. Die Stadt F. reagierte weder auf dieses noch auf nachfolgende ähnlichlautende Schreiben der Klägerin vom 22.9.1995 und 8.2.1996. Erst ein viertes Schreiben der Klägerin an die Stadt F. vom 13.5.1996 ging am 27.6.1996 beim Kreis L. ein und führte dazu, dass der Beklagte mit Schreiben an die Klägerin vom 2.4.1997 das Erstattungsbegehren dem Grunde nach anerkannte, aber beschränkt auf die Zeit ab dem 27.6.1995. Hingegen lehnte der Beklagte die Erstattung für die Zeit vom 1.11.1994 bis zum 26.6.1995 mit der Begründung ab, dass die gemäß § 111 SGB X binnen einer Ausschlussfrist von einem Jahr vorzunehmende Anmeldung beim erstattungspflichtigen Sozialhilfeträger versäumt worden sei. Die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs bei der insoweit unzuständigen Stadt F. habe die Ausschlussfrist nicht gewahrt.

Das VG wies die von der Klägerin erhobene Klage ab. Die dagegen eingelegte Berufung der Klägerin hatte Erfolg.

Gründe:

Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung von weiteren 5.961,38 Euro, die der Frau O. und deren Tochter für den zuletzt noch streitigen Leistungszeitraum als Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt wurden.

Die materiellen Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs für den genannten Zeitraum, die sich aus § 107 BSHG ergeben, liegen vor und werden - wie auch die Höhe des auf diesen Zeitraum entfallenden Erstattungsbetrages - im Berufungsverfahren von keinem Beteiligten mehr in Frage gestellt. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist aber auch die formelle Voraussetzung der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs innerhalb einer Frist von zwölf Monaten (§ 111 SGB X) erfüllt.

§ 111 SGB X ist hier noch in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung vom 4.11.1982 (BGBl. I S. 1450) und nicht in der Fassung anzuwenden, die diese Regelung durch Art. 10 Nr. 8 des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000 (BGBl. I S. 1983) gefunden hat; denn beim Inkrafttreten der Neuregelung war die Ausschlussfrist bereits unter Geltung des § 111 SGB X a.F. abgelaufen. Der Übergangsbestimmung des § 120 Abs. 2 SGB X ist kein Anhaltspunkt für eine materiellrechtliche Wirkung dergestalt zu entnehmen, dass auch ein Wiederaufleben bereits erloschener Kostenerstattungsansprüche bewirkt werden solle.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 10.4.2003 - 5 C 18.02 -, FEVS 54, 495 = ZFSH/SGB 2003, 690.

Daher muss für das vorliegende Verfahren auch nicht geklärt werden, wie die Bestimmung über den Fristbeginn in § 111 Satz 2 SGB X n.F. zu verstehen ist.

§ 111 SGB X schließt einen Anspruch auf Erstattung aus, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach dem Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Die Vorschrift bestimmt jedoch nicht, gegenüber wem der Erstattungsanspruch geltend gemacht werden muss. Maßgebend ist insoweit die materielle Anspruchsgrundlage für die Erstattungsforderung, hier die §§ 107, 111 BSHG. Im Übrigen ist die Zuordnung der "Zuständigkeit" für die Entgegennahme von Erklärungen im Sinne von § 111 SGB X offen für Modifizierungen, sofern - etwa - ein gesetzliches Auftragsverhältnis zwischen einem Leistungsträger und einer in die Leistungsabwicklung eingeschalteten weiteren Stelle besteht.

Vgl. BSG, Urteil vom 14.2.1990 - 9a/9 RV 6/89 -, Juris.

§ 107 BSHG ist zu entnehmen, dass die Erstattungspflicht den Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes trifft. Aus § 107 BSHG ergibt sich jedoch nicht zugleich, wem gegenüber der Erstattungsanspruch geltend zu machen ist. Denn § 107 BSHG nennt als Erstattungsverpflichteten den Träger der Sozialhilfe; wer dies ist, ergibt sich aus den §§ 96 ff. BSHG. Daher ist vorliegend in den Blick zu nehmen, ob gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 BSHG und § 3 AG BSHG NRW i.V.m. der Satzung des Beklagten die "Zuständigkeit" einer anderen Stelle als dem örtlichen Sozialhilfeträger (§ 96 Abs. 1 Satz 1 BSHG) jedenfalls für die Geltendmachung der Erstattungsforderung i.S.d. § 111 SGB X begründet ist. Das ist unter Berücksichtigung der speziellen Regelungen in der Satzung des Beklagten über die Durchführung der Sozialhilfe im Kreis L. zu bejahen. (wird ausgeführt)

Ergibt sich danach aus alledem, dass die kreisangehörige Stadt F. von der Klägerin zutreffend, das heißt in Übereinstimmung mit den §§ 107 und 96 Abs. 1 BSHG, § 3 AG BSHG NRW und der Satzung des Beklagten, als Adressat der Geltendmachungserklärung nach § 111 SGB X ausgewählt worden ist und diese Erklärung mithin den Erstattungsanspruch der Klägerin auch für die vorliegend streitbefangene Zeit gewahrt hat, würde sich im Ergebnis daran auch nichts ändern, wenn der Satzung des Beklagten - entgegen der dargelegten Auffassung des Senats - kein so klares Bild über die Zuständigkeitsverteilung entnommen werden könnte. Die Berufung der Klägerin hat nämlich aus einem zweiten, die Entscheidung des Senats selbständig tragenden Gesichtspunkt Erfolg.

Der Beklagte müsste sich jedenfalls unter den hier gegebenen Umständen gemäß dem Rechtsgedanken des § 166 Abs. 1 BGB die Kenntniserlangung vom Erstattungsbegehren der Klägerin durch Bedienstete der kreisangehörigen Stadt F. zurechnen lassen. § 166 Abs. 1 BGB bestimmt unter anderem, dass es nicht auf die Person des Vertretenen, sondern des Vertreters ankommt, soweit die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung durch die Kenntnis gewisser Umstände beeinflusst werden. Selbst wenn sich - anders als der Senat annimmt - aus der Satzung des Beklagten ergeben sollte, dass die Stadt F. bei der Entgegennahme der Geltendmachung i.S.v. § 111 SGB X nicht im (satzungsgemäßen) Auftrag des Beklagten gehandelt hat, stellt sich das sozialhilferechtliche Tätigwerden der Stadt F. insgesamt als eine Wahrnehmung von Aufgaben dar, die von Gesetzes wegen zunächst dem Kreis als örtlichem Träger der Sozialhilfe zugeordnet waren (§ 96 Abs. 1 Satz 1 BSHG), aber durch einen Willensakt des Beklagten abweichend davon der kreisangehörigen Stadt überantwortet worden sind. Die Übertragung der dem Beklagten gegenüber natürlichen Personen obliegenden Aufgaben auf kreisangehörige Gemeinden und Städte führte dazu, dass im Hilfefall der Frau O. zunächst ausschließlich die Stadt F. nach außen in Erscheinung getreten ist, denn allein die Stadt F. hatte die sozialhilferechtlichen Aufgaben in diesem Hilfefall wahrgenommen. Diese auf der Satzung des Beklagten über die Durchführung der Sozialhilfe beruhende und den Beklagten entlastende Verlagerung außengerichteter sozialhilferechtlicher Zuständigkeiten war damit tendenziell geeignet, die Vorstellung hervorzurufen, dass auch für der eigentlichen Hilfeerbringung nachgelagerte Rechtsakte die Stadt F. zuständig war. Dies rechtfertigt bei einer wertenden, die schutzwürdigen Belange der Beteiligten angemessen zur Geltung bringenden Betrachtung, eine Wissenszurechnung entsprechend § 166 Abs. 1 BGB auch in Bezug auf solche Rechtshandlungen vorzunehmen, für die zwar (unterstellt) keine Zuständigkeit der kreisangehörigen Stadt oder Gemeinde durch Satzung begründet worden ist, die aber - wie das bei der Entgegennahme von Kostenerstattungsbegehren unmittelbar nach dem Wegzug einer hilfebeziehenden Person der Fall ist - mit den der kreisangehörigen Stadt oder Gemeinde zur Durchführung im eigenen Namen übertragenen Rechtshandlungen in einem engen zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang stehen.

Vgl. auch BSG, Urteil vom 14.2.1990 - 9a/9 RV 6/89 -, a.a.O.; Thür. OVG, Urteil vom 11.3.2004 - 3 ZKO 733/03 -, FEVS 56, 35; VG Aachen, Urteil vom 4.7.2002 - 1 K 3134/99 -, Juris.

Diese Wissenszurechnung stellt sich aus der Sicht des "Vertretenen", also hier des beklagten Kreises, nicht als eine unzumutbare Belastung dar, weil dieser es in der Hand hat, durch interne Weisungen sicherzustellen, dass der beauftragten Gemeinde bekanntwerdende Umstände zeitnah dem Kreis mitgeteilt werden, wie dies auch in § 3 Abs. 3 AG BSHG NRW i.V.m. § 89 Abs. 3 SGB X vorgesehen ist, und deshalb eine Zurechnung tatsächlich nicht vermittelten Wissens weithin vermieden werden kann.

Dieser Wertung kann in Fällen wie dem hier zu entscheidenden auch nicht entgegengehalten werden, dass der den Kostenerstattungsanspruch verfolgende Sozialhilfeträger, also die Klägerin, sowohl die grundsätzliche Zuständigkeit des örtlichen Sozialhilfeträgers - hier für die Entgegennahme von Kostenerstattungsansprüchen nach § 107 BSHG - kannte als auch durch das Zurateziehen der Satzung des Beklagten im Detail die Verteilung der sozialhilferechtlichen Zuständigkeiten zwischen dem örtlichen Träger und den kreisangehörigen Städten und Gemeinden in Erfahrung bringen konnte. Denn die Satzung hätte der Klägerin wegen des nicht einfach zu entschlüsselnden Regel-Ausnahme-Gefüges und insbesondere wegen der Regelung des § 4 Abs. 3 Satz 2, die eine Zuständigkeit der kreisangehörigen Städte und Gemeinden für die Entgegennahme von Erklärungen i.S.v. § 111 SGB X zumindest nahelegt, nicht zu der gesicherten Erkenntnis geführt, dass die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs beim Beklagten erfolgen musste.

Die Zurechnung des Wissens um die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs wird schließlich auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass in § 3 Abs. 3 AG BSHG NRW zwar auf § 89 Abs. 3 und Abs. 5 SGB X, nicht aber auf § 89 Abs. 2 SGB X verwiesen wird. In der zuletzt genannten Vorschrift ist bestimmt, dass durch den Auftrag der Auftraggeber nicht von seiner Verantwortung gegenüber dem Betroffenen entbunden wird; diese fortbestehende Verantwortlichkeit des Auftraggebers trotz Einschaltung des Auftragnehmers stellt also in der Sache eine Zurechnung dar. Diese Zurechnung findet aber ihren wesentlichen Inhalt darin, dass der Auftraggeber - ähnlich wie nach § 278 BGB - für fehlerhaftes Verhalten des Beauftragten einzustehen hat.

Vgl. etwa Engelmann, in: von Wulffen, SGB X, Kommentar, 4. Aufl., § 89 Rn. 7.

Im vorliegenden Fall geht es indessen nicht darum, dem Beklagten das Verhalten der Stadt F. bzw. derer Bediensteter wie ein eigenes Fehlverhalten zuzurechnen. Es geht vielmehr allein um die davon zu unterscheidende Zurechnung von Kenntnissen.

Vgl. Grundmann, in: Münchener Kommentar zum BGB, Band 2a, 4. Aufl., § 278 Rn. 9.

Daher löst die Nichterwähnung des § 89 Abs. 2 SGB X in der verweisenden Norm des § 3 Abs. 3 AG BSHG NRW keine Sperrwirkung dahingehend aus, dass auch eine bloße Wissenszurechnung vom Auftragnehmer auf den Auftraggeber ausgeschlossen wäre.

Der Zinsanspruch der Klägerin beruht auf § 291 BGB i.V.m. § 288 Abs. 1 BGB, wobei hinsichtlich der Höhe der jährlichen Zinsen gemäß der Übergangsvorschrift des Art. 229 § 1 Abs. 1 Satz 3 EGBGB noch die bis zum 30.4.2000 geltende Fassung des § 288 Abs. 1 BGB anzuwenden ist, weil die Erstattungsforderung der Klägerin schon vor dem 1.5.2000 fällig geworden ist.

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