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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 02.08.2007
Aktenzeichen: 16 B 1071/07
Rechtsgebiete: StVG, FeV


Vorschriften:

StVG § 3 Abs. 1 Satz 1
StVG § 4 Abs. 3 Satz 1
StVG § 4 Abs. 4
StVG § 4 Abs. 5 Satz 2
FeV § 46 Abs. 1
FeV § 46 Abs. 3 Satz 3
FeV § 11 Abs. 3
Sind die im Verkehrszentralregister eingetragenen Punkte gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG auf 17 zu reduzieren, kann bei hinreichend begründeten Eignungszweifeln vom Fahrerlaubnisinhaber die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gefordert werden. Will die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis ohne vorherige Gutachtenanforderung entziehen, fordert dies eine sorgfältige Würdigung der Umstände des Einzelfalls.
Tatbestand:

Zu Lasten des Antragstellers wurden im Verkehrszentralregister 18 Punkte eingetragen. Der Antragsgegner hatte es zuvor unterlassen, Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG zu ergreifen, verfügte nunmehr aber die Entziehung der Fahrerlaubnis.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte in 2. Instanz Erfolg.

Gründe:

Der Antragsgegner hat die Ordnungsverfügung zu Recht nicht auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützt, wonach die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen hat, wenn sich im Verkehrszentralregister für den Fahrerlaubnisinhaber 18 oder mehr Punkte ergeben haben. Auf diese Regelung ist hier gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG nicht abzustellen, da es der Antragsgegner unterlassen hat, Maßnahmen nach Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 zu ergreifen. Ergeben sich nämlich 14, aber nicht mehr als 17 Punkte, so hat die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Maßnahmen zu ergreifen (u.a. Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar). Unterlässt sie dies, wird der Punktestand nach dem Erreichen oder Überschreiten von 18 Punkten gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG auf 17 reduziert und entfallen daher die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG für den Fahrerlaubnisentzug.

Der Antragsgegner hat die Ordnungsverfügung dementsprechend auf § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG gestützt; danach ist, worauf bereits das VG hingewiesen hat, je nach Art, Schwere und zeitlichem Ablauf der vom Fahrerlaubnisinhaber begangenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten und dem Ergebnis nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. §§ 46 Abs. 3 Satz 3, 11 FeV einzuholender Gutachten oder aber unmittelbar gemäß § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV die Fahrerlaubnis zu entziehen. Die Fahrerlaubnisbehörde ist, will sie im Hinblick auf die aus Verkehrsverstößen abgeleitete fehlende charakterliche Eignung des Fahrerlaubnisinhabers die Fahrerlaubnis entziehen, jedoch gehalten, die Umstände des Einzelfalls sorgfältig zu würdigen.

Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 2.12.1999 - 12 M 4307/99 -, DAR 200, 133; OVG NRW, Beschluss vom 2.2.2000 - 19 B 1886/99 -, NZV 2000, 219; OVG M.-V., Beschluss vom 7.11.2003 - 1 M 205/03 -, juris.

In die Bewertung ist einzustellen, dass die Vielzahl der ins Verkehrszentralregister eingetragenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten allein die Bewertung noch nicht zulässt, dass der Fahrerlaubnisinhaber ungeeignet ist. Selbst wenn der Fahrerlaubnisinhaber 18 Punkte angehäuft hat, rechtfertigt dies die gesetzliche Ungeeignetheitsvermutung nur deshalb, weil es sich nach der Wertung des Gesetzgebers bei dem Fahrerlaubnisinhaber dann um einen uneinsichtigen Mehrfachtäter handelt, der sämtliche Angebote und Hilfestellungen zum Abbau von vorhandenen Defiziten und auch die Möglichkeiten, durch freiwillige Teilnahme an einem Aufbauseminar und einer verkehrspsychologischen Beratung "Bonus-Gutschriften" zu erhalten (vgl. § 4 Abs. 4 StVG), nicht oder nicht hinreichend genutzt hat.

Vgl. so unter Bezug auf die amtliche Begründung zum Gesetz zur Änderung des StVG und anderer Gesetze vom 24.4.1998, VKBl. 1998, 744: OVG NRW, Beschlüsse vom 21.3.2003 - 19 B 337/03 -, NVwZ-RR 2003, 681 und vom 9.2.2007 - 16 B 2174/06 -.

Ergeben sich bei erheblichen oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder bei Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr oder im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen oder bei denen Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen, Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen, kann gemäß §§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen sein. In der Fassung, die die Fahrerlaubnis-Verordnung durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Fahrerlaubnis-Verordnung und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 9.8.2004, BGBl. I 2092 gefunden hat, ist eben diese Möglichkeit auch bei erheblichen oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften in Betracht zu ziehen.

Aus der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 10.4.2007 geht bereits nicht mit der erforderlichen Sicherheit hervor, dass er seiner Entscheidung derart besondere Gegebenheiten des Einzelfalls zu Grunde gelegt hat, die es nahe legen, nicht das für den Regelfall nach § 4 StVG vorgesehene Maßnahmenprogramm abzuarbeiten oder nicht jedenfalls zu erwägen, die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen. Unter Bezug auf sämtliche Eintragungen in das Verkehrszentralregister hat der Antragsgegner ausgeführt, er habe aus diesen Tatsachen Zweifel abgeleitet, ob der Antragsteller geeignet sei, ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr zu führen. Derart begründete Eignungszweifel berechtigen bei entsprechenden Gegebenheiten des Einzelfalls jedoch in der Regel nur die sich aus §§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV ergebende Anordnung. Der Antragsgegner führt in der Ordnungsverfügung dann weiter aus, die Stellungnahme des Antragstellers habe seine, des Antragsgegners, Eignungszweifel nicht beseitigt, um sodann zu behaupten, es bestünden nicht nur Zweifel, die Ungeeignetheit sei vielmehr erwiesen. Die einzig hierfür noch gegebene Begründung, weshalb sich der Zweifel zur Gewissheit verstärkt hat, ist die Aussage des Antragsgegners, der Antragsteller sei wegen "aggressiven Verhaltens" verurteilt worden. Der Antragsgegner nimmt der Sache nach damit die Verurteilung des Antragstellers wegen Beleidigung und Nötigung zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen in Bezug. Der diesem Strafbefehl zu Grunde liegende Sachverhalt liegt allerdings bereits über vier Jahre zurück. Die übrigen Eintragungen ins Verkehrszentralregister lassen keinen, vom Antragsgegner auch nicht behaupteten Schluss auf ein derart herausgehobenes aggressives Verhalten des Antragstellers zu, das nicht bereits in den Eintragungen selbst entsprechenden Ausdruck findet. Den Eintragungen liegen (mit Ausnahme eines Unfalls infolge einer Vorfahrtsmissachtung) Geschwindigkeitsüberschreitungen zugrunde, die sich (mit Ausnahme eines Falles) ausschließlich auf Bundesautobahnen ergeben haben; der Ausnahmefall bezog sich auf eine Geschwindigkeitsüberschreitung in einem Straßentunnel. Dass der Antragsgegner bei diesen Geschwindigkeitsüberschreitungen ein besonders aggressives Verhalten gezeigt hätte, geht aus dem Aktenvorgang nicht hervor.

Das VG hat seine Einschätzung von einer fehlenden Eignung des Antragstellers ferner auf die Häufung der Geschwindigkeitsüberschreitungen im letzten Jahr und deren Höhe gestützt, daraus allerdings zunächst nur ein "Anzeichen" dafür hergeleitet, dass der Antragsteller möglicherweise nicht geeignet ist. Die weitere Schlussfolgerung, der Antragsteller setze seine eigenen Interessen in steigendem Maße rücksichtslos durch, ist über den Umstand der Geschwindigkeitsüberschreitungen hinaus nicht belegt. Die Geschwindigkeitsüberschreitungen als solche geben nach Ansicht des Senats jedoch keinen Anhalt, nicht entsprechend dem Maßnahmekatalog des § 4 StVG vorzugehen.

Vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 21.11.2006 - 12 ME 354/06 -, NZV 2007, 327.

Ende der Entscheidung

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