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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 31.01.2005
Aktenzeichen: 18 A 1279/02
Rechtsgebiete: VwGO, AuslG, AufenthG


Vorschriften:

VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 124a Abs. 4 Satz 4
AuslG § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
AufenthG § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
1. Im Zulassungsverfahren dürfen die Regelungen des Zuwanderungsgesetzes und die Auswirkungen der geänderten Rechtsprechung des BVerwG zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei der Ausweisung eines Unionsbürgers bzw. Assoziationsberechtigten nur berücksichtigt werden, wenn sich die rechtzeitig dargelegten Gründe hierauf erstrecken.

2. Der besondere Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 (jetzt § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) erfasst grundsätzlich nur die familiäre Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern, nicht aber diejenige mit Geschwistern.


Tatbestand:

Der Kläger ist ein in Deutschland geborener türkischer Staatsangehöriger, der nach zahlreichen Straftaten zuletzt wegen Handels mit Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden war. Die Klage gegen seine durch Ordnungsverfügung vom 9.11.1999 i.d.F. des Widerspruchsbescheids vom 3.4.2001 erfolgte Ausweisung wurde vom VG im wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, dass die Ausweisung zutreffend auf § 47 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG gestützt worden sei und der Kläger zwar keinen besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 AuslG genieße, ihm aber eine Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 zukomme. Deshalb dürfe seine Ausweisung u.a. nur aus spezialpräventiven Gründen erfolgen, die hier erfüllt seien. Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung machte der Kläger geltend, ihm stehe der Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG zu, weil er mit seinem eingebürgerten Bruder im Haushalt seiner Eltern in familiärer Lebensgemeinschaft lebe. Zudem sei die Prognose zu der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung erneuter Straftaten fehlerhaft. Dies zeigten die Stellungnahme der JVA B. vom 5.11.2001 und der Beschluss des LG B. vom 28.12.2001. Der Antrag hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Hinsichtlich des allein geltend gemachten Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bedarf es einer auf schlüssige Gegenargumente gestützten Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Erwägungen des VG. Dabei ist innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in substanziierter Weise darzulegen, dass und warum das vom VG gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll. Diese Voraussetzung ist nur dann erfüllt, wenn das Gericht schon allein auf Grund des Antragsvorbringens in die Lage versetzt wird zu beurteilen, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses bestehen. Für die Beurteilung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Zulassungsantrag maßgeblich. Allerdings dürfen dabei nur die rechtzeitig dargelegten Gründe berücksichtigt werden. Ist erst nach Ablauf der hierfür geltenden Frist eine Rechtsänderung eingetreten, kann der Antragsteller nicht mit Blick auf diese nun erstmals neue Zulassungsgründe gelten machen. Die Rechtsänderung muss aus diesem Grund unberücksichtigt bleiben.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.12.2003 - 7 AV 2/03 -, NWVBl. 2004, 183 = NVwZ 2004, 744; Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, § 124a Rn. 136 f.

Danach ist es dem Senat verwehrt, die durch das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30.7.2004 - BGBl I 1950 - zum 1.1.2005 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen hier zu berücksichtigen. Gleiches gilt hinsichtlich der Auswirkungen der geänderten Rechtsprechung des BVerwG zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei der Ausweisung eines Unionsbürgers bzw. Assoziationsberechtigten.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 3.8.2004 - 1 C 29.02 -, EZAR 037 Nr. 10, und - 1 C 30.02 -, EZAR 034 Nr. 17.

Auch hinsichtlich des materiellen Gemeinschaftsrechts, dem der Assoziationsratsbeschluss 1/80 zuzurechnen ist, bleibt es insoweit beim Vorrang des Prozessrechts.

Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 31.8.2004 - 1 C 25.03 -, zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen.

Auf dadurch erfasste Umstände hat sich der Kläger, dem das VG eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 zuerkannt hat, nicht berufen. Er stützt sein Zulassungsbegehren allein darauf, dass ihm mit Blick auf seinen eingebürgten Bruder, mit dem er in häuslicher Gemeinschaft lebe, besonderer Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG zustehe und spezialpräventive Gründe seine Ausweisung nicht rechtfertigten. Damit werden indessen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung begründet.

Entgegen der Ansicht des Klägers hat das VG seinen erwachsenen Bruder zutreffend nicht als Familienangehörigen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG beurteilt. Der von dieser Norm geregelte Familienschutz erstreckt sich, wie die Wortgleichheit mit der für den Familiennachzug grundlegenden Norm des § 17 Abs. 1 AuslG verdeutlicht,

- vgl. Vormeier in GK-AuslR § 48 Rn. 21 -

grundsätzlich nur auf Personen, die dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG unterliegen, der insoweit nur die Gemeinschaft von Eltern und Kindern erfasst, nicht aber diejenige mit Geschwistern.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.7.1993 - 1 C 25.93 -, InfAuslR 1994, 2, 7.

Daran hat sich - worauf ergänzend hingewiesen wird - unter der Geltung des durch das Zuwanderungsgesetz in kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nichts geändert (vgl. §§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 27 Abs. 1 AufenthG).

Ob hiervon ausgehend unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung bei den von § 22 AuslG - der hier über § 23 Abs. 4 AuslG entsprechend anwendbar wäre - (jetzt §§ 36, 28 Abs. 4 AufenthG) erfassten Umständen eine Ausnahme zu machen ist, kann offen bleiben, weil der Kläger nichts dafür vorgetragen hat, was auf die in dieser Norm vorausgesetzte außergewöhnliche Härte in Bezug auf ein Zusammenleben mit seinem Bruder führen könnte.

Soweit in diesem Zusammenhang gelegentlich darauf hingewiesen wird, dass das BVerwG die Geschwisterproblematik in einem Beschluss vom 16.8.1995

- 1 B 104/95 -, InfAuslR 1995, 405 -

offen gelassen habe und damit möglicherweise ein grundsätzlicher Klärungsbedarf angesprochen wird, sei noch angemerkt, dass diesem Beschluss keine Anhaltspunkte für eine Gegenansicht zu entnehmen sind. Dort wird lediglich aufgezeigt, dass eine derartige Rechtsfrage in einem künftigen Revisionsverfahren nicht beantwortet werden könne.

Ebenfalls fehl geht die Auffassung des Klägers, das VG habe bei der Prognose zu der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung erneuter Straftaten die Stellungnahme der JVA B. vom 5.11.2001 und den Beschuss des LG B. vom 28.12.2001 nicht hinreichend berücksichtigt und sei deshalb zu einem fehlerhaften Ergebnis gelangt. Der Kläger übersieht, dass nach der mit dem Zulassungsantrag nicht angegriffenen Rechtsauffassung des VG zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt beides nicht grundlegend für die Entscheidung war. Für das VG war in Übereinstimmung mit der damaligen ständigen Rechtsprechung des BVerwG zur Ausweisung die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides maßgeblich.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 7.12.1999 - 1 C 13.99 -, DVBl. 2000, 429 = DÖV 2000, 427 = InfAuslR 2000, 176 = NVwZ 2000, 688.

Davon ausgehend hat es die Stellungnahme der JVA sowie den Beschluss des LG, die beide späteren Datums sind, lediglich noch insoweit in seine Prüfung einbezogen, als diese geeignet waren, Rückschlüsse auf die Richtigkeit der Prognose zur Widerholungsgefahr zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids zu ermöglichen. Die Frage, ob zum Zeitpunkt der Entscheidung des VG weiterhin von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist, stellte sich damit nicht. Von daher erklärt es sich auch, dass - worauf der Kläger zutreffend hinweist - die Stellungnahme der JVA in den Urteilsgründen nicht ausdrücklich berücksichtigt worden ist.

Von dem Vorstehenden ausgehend wäre aufzuzeigen gewesen, warum die Prognose zur Wiederholungsgefahr bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids fehlerhaft war. Entsprechendes hat der Kläger nicht ansatzweise dargelegt. Insoweit sind die Stellungnahme der JVA und der Beschluss des LG, auf die er ausschließlich verweist, schon deshalb untauglich, weil sie erst erheblich später als der Widerspruchsbescheid ergingen und lediglich eine Prognose über das zukünftige Verhalten des Klägers enthalten.

Die von vom Kläger geltend gemachten Umstände können nach allem lediglich im Wege einer - hier nicht streitgegenständlichen - Befristung der Wirkungen der Ausweisung berücksichtigt werden. Insoweit wird gegebenenfalls auch zu berücksichtigen sein, dass nach der Rechtsprechung des BVerwG bei noch nicht vollzogener Ausreise und entfallenem Ausweisungszweck der Fortfall der Ausweisungswirkungen im Wege der Befristung nicht davon abhängig gemacht werden kann, dass ein freizügigkeitsberechter Ausländer ausreist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 7.12.1999 - 1 C 13.99 -, InfAuslR 2000, 176.



Ende der Entscheidung

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