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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 17.03.2008
Aktenzeichen: 18 B 191/08
Rechtsgebiete: Richtlinie 2004/38/EU, GG, FreizügG/EU, AufenthG


Vorschriften:

Richtlinie 2004/38/EU Art. 3 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 1
FreizügG/EU § 1
FreizügG/EU § 11 Abs. 1
AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1
1. Ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten der Gemeinschaft besitzt und sich in einem Staat seiner durch Geburt erworbenen Staatsangehörigkeit aufhält, vermag seinem Ehegatten, der nicht Unionsbürger ist, kein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht zu vermitteln.

2. In derartigen Fällen verstößt der Ausschluss eines Drittstaatsangehörigen vom Gemeinschaftsrecht nicht gegen das europarechtliche Diskriminierungsverbot oder Art. 3 Abs. 1 GG.


Tatbestand:

Der türkische Antragsteller begehrt eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug. Seine Ehefrau besitzt neben der italienischen seit ihrer Geburt auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Nach erfolglosem Visumsverfahren reiste der Antragsteller ohne Visum ins Bundesgebiet und beantragte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Antragsgegner lehnte den Antrag mangels ausländerrechtlich schützenswerter familiärer Lebensgemeinschaft ab und wies den Antragsteller zugleich wegen seiner unerlaubten Einreise unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus. Nach Erhebung des Widerspruchs beantragte der Antragsteller beim VG vergeblich vorläufigen Rechtsschutz. Mit seiner Beschwerde machte der Antragsteller geltend, er halte sich rechtmäßig in Deutschland auf, weil er den Status eines freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen besitze, woraus zugleich folge, dass sein Widerspruch kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung habe. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Hinsichtlich der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis hat das VG den von den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers gestellten Aussetzungsantrag zu Recht abgelehnt. Der nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellte Antrag ist - was das VG noch offen gelassen hat - bereits unzulässig. Als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers nur auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ablehnende Verfügung vom 2.8.2007 gerichtet sein, soweit und sofern diese die Wirkungen eines belastenden Verwaltungsaktes hat, indem sie ein Bleiberecht des Antragstellers in Form einer auf Grund von § 81 Abs. 3 bzw. 4 entstandenen Duldungs-, Erlaubnis- oder Fortbestandsfiktion beendet.

Im Falle des Antragstellers ist die Ausreisepflicht jedoch nicht durch die angefochtene Versagungsverfügung eingetreten oder vollziehbar geworden. Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat keine der Fiktionswirkungen begründet. Der zum Familiennachzug ohne das gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 (EG-Visa-VO) erforderliche Visum eingereiste türkische Antragsteller hielt sich zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf und hatte niemals einen Aufenthaltstitel (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) inne, so dass weder § 81 Abs. 3 noch § 81 Abs. 4 AufenthG eingreift.

Dem Widerspruch kommt auch nicht gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung zu, die durch einen feststellenden Ausspruch festzustellen wäre. Eine aufschiebende Wirkung ist gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen. Dessen Anwendung steht im Gegensatz zur Ansicht des Antragstellers nicht § 11 Abs. 1 FreizügG/EU entgegen, der die vorgenannte Norm für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörige nicht - wie erforderlich (vgl. §§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, 1 FreizügG/EU) - für anwendbar erklärt. Denn der Antragsteller gehört nicht zu den freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers.

Der Antragsteller hat nicht - was hier allein in Betracht kommt - als Ehemann einer freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerin ein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben. Seine Ehefrau ist zwar italienische Staatsangehörige und lebt in Deutschland. Damit gehört sie zu den Personen, auf die das Freizügigkeitsgesetz/EU (vgl. dessen § 1) prinzipiell Anwendung findet. So verhält es sich hier aber nicht. Das Freizügigkeitsgesetz/EU ist auf die Ehefrau des Antragstellers nicht anzuwenden. Diese hält sich nicht - wie von § 1 FreizügG/EU verlangt - als Unionsbürgerin in einem anderen Mitgliedstaat, sondern als (zugleich) deutsche Staatsangehörige im Staat ihrer Staatsangehörigkeit auf.

Ein Unionsbürger, der - wie die Ehefrau des Antragstellers - die Staatsangehörigkeit zweier Mitgliedstaaten der Gemeinschaft besitzt und sich in einem Staat seiner durch Geburt erworbenen Staatsangehörigkeit aufhält, vermag seinem Ehegatten, der nicht Unionsbürger ist, kein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht zu vermitteln. Denn die Anwendung der nunmehr in der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29.4.2004 - Unionsbürgerrichtlinie, im Folgenden: Richtlinie 2004/38/EG - (ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 35; ber. ABl. L 229 vom 29.6.2004, S. 35) zusammengefasst enthaltenen Regelungen über die allgemeine Freizügigkeit setzt ebenso wie die durch sie abgelösten Regelungen voraus, dass ein Unionsbürger die durch die Richtlinie gewährten Freiheiten wahrgenommen hat bzw. wahrnimmt. Entsprechendes hat der EuGH zu den durch die Richtlinie 2004/38/EU abgelösten Richtlinien wiederholt entschieden. Dabei hat er ausgeführt, dass die Gemeinschaftsregelungen über die Freizügigkeit nicht auf Situationen anwendbar seien, die keinerlei Anknüpfungspunkt zu irgendeiner der durch Gemeinschaftsrecht erfassten Situationen aufweisen. Folglich könnten diese Regelungen nicht auf Situationen von Personen angewandt werden, die von den Freiheiten nie Gebrauch gemacht haben.

Vgl. EuGH, Urteile vom 11.7.2002 - C-60/00 -(Carpenter), InfAuslR 2002, 373, vom 25.7.2002 - C-459/99 - (MRAX), InfAuslR 2002, 417, und vom 14.4.2005 - C-157/03 - (Kommission gg. Spanien), InfAuslR 2005, 229.

Diese Grundsätze haben unverändert Bestand. Die Richtlinie 2004/38/EU hat insoweit keine Änderungen gebracht. Verdeutlicht wird dies bereits durch die Erwägungsgründe der Richtlinie. Schon der dritte Erwägungsgrund greift in seinem ersten Satz die vorstehend zitierte Rechtsprechung des EuGH mit der Formulierung auf, dass die Unionsbürgerschaft der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein soll, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen (Hervorhebung durch den Senat). Daran anschließend wird im nächsten Satz sowie dem folgenden vierten Erwägungsgrund deutlich, dass die Richtlinie 2004/38/EU an die bestehende Rechtslage anknüpfen will. Mit jener sollen in einem einzigen Rechtsakt die bis dahin in verschiedenen Regelungen enthaltenen bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze der Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte überwunden und die Ausübung dieser Rechte erleichtert werden.

Schließlich und vor allem setzt die Richtlinie 2004/38/EU nach ihrem Wortlaut im Art. 3 Abs. 1 die Inanspruchnahme der gemeinschaftlichen Freiheiten voraus. Dort wird in dem hier interessierenden Teil bestimmt, dass die Richtlinie für jeden Unionsbürger gilt, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält.

Davon ausgehend beurteilt sich der Rechtsstatus der Ehefrau des Antragstellers und damit auch der seinige nicht nach dem Gemeinschaftsrecht, weil jene seit ihrer Geburt (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und sie deshalb zu keinem Zeitpunkt die Freizügigkeitsrechte für Unionsbürger beanspruchen musste, um nach Deutschland einzureisen, sich hier aufzuhalten und sich hier frei zu bewegen zu können. Dies alles ermöglichte ihr bereits die deutsche Staatsangehörigkeit.

Allgemeine Rechtsgrundsätze stehen dem hier gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf den Antragsteller ergibt sich insbesondere nicht aus dem Gesichtspunkt einer sogenannten "Inländerdiskriminierung" oder daraus, dass der Antragsteller andernfalls unter Verstoß gegen Art. 3 GG schlechter gestellt würde als ein Ausländer, der mit einem nicht-deutschen Unionsbürger verheiratet ist.

In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass kein Verstoß gegen das europarechtliche Diskriminierungsverbot - wie es in Art. 12 EGV seine allgemeine Regelung gefunden hat - vorliegt, wenn drittstaatsangehörige Familienangehörige von Deutschen mit Aufenthalt in Deutschland von aufenthaltsrechtlichen Vergünstigungen ausgeschlossen werden, die drittstaatsangehörige Familienangehörige von Unionsbürgern nach Gemeinschaftsrecht genießen. Denn wenn ein deutscher Staatsangehöriger sein Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft nicht in Anspruch genommen hat, liegt - wie ausgeführt - kein Sachverhalt vor, der in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Darüber hinaus verstößt in Fällen der vorliegenden Art der Ausschluss drittstaatsangehöriger Familienangehöriger eines deutschen Staatsangehörigen von aufenthaltsrechtlichen Vergünstigungen nach Gemeinschaftsvertragsrecht auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der nationale Gesetzgeber ist danach nicht verpflichtet, solche Privilegierungen in das nationale Recht zu übernehmen. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung liegt darin, dass das Gemeinschaftsrecht die Familienangehörigen von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern privilegiert.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 4.9.2007 - 1 C 43.06 -, DVBl. 2008, 108; OVG NRW, Urteil vom 20.12.1988 - 18 A 750/87 -, InfAuslR 1989, 201 sowie Beschlüsse vom 10.8.2005 - 17 B 1300/05 - und vom 2.11.2007 - 18 B 229/07 -; Hamb. OVG, Beschluss vom 3.8.1993 - Bs VII 90/93 -, EZAR 022 Nr. 4 und Juris, VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7.8.1995 - 13 S 329/95 -, NJW 1996, 72; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 3.7.2001 - 10 B 10646/01 -, InfAuslR 2001, 429.

Wenn sich somit die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ordnungsverfügung nach dem allgemeinen Ausländerrecht beurteilt, dann muss das Aussetzungsbegehren hinsichtlich der weiter verfügten Ausweisung ungeachtet der Beschwerdebegründung schon deshalb erfolglos bleiben, weil insoweit jedenfalls die allgemeine Interessenabwägung zu Ungunsten des Antragstellers ausfällt. Sein Interesse an einer Vollziehungsaussetzung in Bezug auf die Ausweisung ist schon deshalb gering zu veranschlagen, weil er mangels Besitzes des für ihn erforderlichen Aufenthaltstitels ausreisepflichtig ist (§§ 50 Abs. 1 AufenthG) und seine Ausreisepflicht wegen seiner infolge des Verstoßes gegen die Visumspflicht illegalen Einreise gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbar ist.

Eine Aussetzung der Vollziehung in Bezug auf die verfügte Ausweisung wäre unter diesen Umständen für den Antragsteller nicht von Nutzen. Auch bei einem Erfolg des Antrags wäre er wegen der ohnehin bestehenden vollziehbaren Ausreisepflicht gezwungen, sein Begehren auf Aufhebung der Ausweisung mit dem dafür in der Hauptsache gegebenen Rechtsbehelf vom Ausland aus zu verfolgen.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 19.8.2002 - 18 B 1353/01 -, vom 30.4.2007 - 18 B 454/07 - und vom 13.7.2007 - 18 B 911/07 - m.w.N.

Eine auf die Ausweisung beschränkte Vollziehungsaussetzung könnte auch nicht etwa seine Rechtsposition in Bezug auf die Ablehnung des Aufenthaltserlaubnisantrags verbessern. Die Schranke des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG besteht auch dann, wenn die verfügte Ausweisung nicht sofort vollziehbar ist. Das folgt aus der insoweit eindeutigen Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

So schon zu der wortgleichen Regelung in § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG OVG NRW, Beschluss vom 25.4.1995 - 18 B 3183/93 -, NWVBl. 1995, 438 = EZAR 030 Nr. 2 = NVwZ-RR 1996, 173; vgl. zuletzt OVG NRW, Beschluss vom 7.3.2008 - 18 B 149/08 -.

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