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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 15.04.2004
Aktenzeichen: 19 A 2115/01
Rechtsgebiete: SchFG NRW, SchfkVO, SchfkVO NRW


Vorschriften:

SchFG NRW § 1 Abs. 3 Satz 2
SchFG NRW § 2
SchFG NRW § 7
SchFG NRW § 7 Abs. 1 Satz 1
SchfkVO § 1
SchfkVO § 2 Abs. 1
SchfkVO § 4
SchfkVO § 5 Abs. 1
SchfkVO § 5 Abs. 2
SchfkVO § 9 Abs. 3
SchfkVO NRW § 2 Abs. 1 Satz 1
1. Schüler mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in einem an Nordrhein-Westfalen angrenzenden EG-Mitgliedstaat (hier: Belgien) haben Anspruch auf Übernahme von Schülerfahrkosten nach nordrhein-westfälischem Landesrecht, soweit sie vom persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 erfasst sind. Die landesrechtliche Anspruchsvoraussetzung eines Wohnsitzes oder eines gewöhnlichen Aufenthaltes in Nordrhein-Westfalen wird für diese Schüler durch Art. 73 VO Nr. 1408/71 verdrängt.

2. Die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 setzt nicht eine Zu- oder Abwanderung in Ausübung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten voraus.

3. Die Übernahme der Schülerfahrkosten nach nordrhein-westfälischem Landesrecht ist eine Familienleistung im Sinne des Art. 73 VO Nr. 1408/71.


Tatbestand:

Die 1979 geborene Klägerin und ihre Eltern sind deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in Belgien. Die Klägerin lebt dort mit vier Geschwistern im Haushalt ihrer Eltern. In den Schuljahren 1998/1999 und 1999/2000 besuchte sie eine Fachschule für Sozialpädagogik in Nordrhein-Westfalen, die als die ihrem Wohnsitz in Belgien nächstgelegene Schule den Berufsabschluss "Staatlich anerkannte Erzieherin" anbot. Die Eltern der Klägerin waren zu keiner Zeit außerhalb Deutschlands erwerbstätig. Den Antrag der Klägerin auf Übernahme der Schülerfahrkosten für beide Schuljahre lehnte der Beklagte mit dem Hinweis auf das Erfordernis eines Wohnsitzes in Nordrhein-Westfalen ab. Die Klage blieb erstinstanzlich erfolglos. Das OVG gab der Klage für die Zeit vom 25.10.1998 bis zum 31.7.2000 statt.

Gründe:

Anspruchsgrundlage für die Übernahme der für die Klägerin in der Zeit vom 25.10.1998 bis zum 31.7.2000 angefallenen Schülerfahrkosten sind §§ 1 Abs. 3 Satz 2, 2 und 7 SchFG NRW in der im hier maßgeblichen Zeitraum geltenden Fassung der Änderungen vom 25.11.1997 (GV NRW S. 430) und vom 12.5.1998 (GV NRW S. 750) i.V.m. §§ 1, 2 Abs. 1, 4, 5 Abs. 1 und 2, 9 Abs. 3 SchfkVO NRW i.d.F. der Änderung vom 25.11.1997 (GV NRW S. 430). Die Anspruchsvoraussetzungen nach diesen Vorschriften sind, wie in dem angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt und zwischen den Beteiligten unstreitig ist, mit Ausnahme des Erfordernisses gemäß §§ 1 Abs. 3 Satz 2, 7 Abs. 1 Satz 1 SchFG NRW sowie § 2 Abs. 1 Satz 1 SchfkVO NRW, dass die Klägerin in der Zeit vom 25.10.1998 bis zum 31.7.2000 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen hatte, erfüllt. Der Wohnsitz und gewöhnliche Aufenthalt der Klägerin in Belgien steht ihrem Anspruch auf Übernahme von Schülerfahrkosten jedoch nicht entgegen. Diese landesrechtliche Anspruchsvoraussetzung für die Übernahme von Schülerfahrkosten wird im vorliegenden Fall durch Art. 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. EWG Nr. L 149 vom 5.7.1971, S. 2), geändert durch Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2.12.1996 (ABl. EG L 28 vom 30.7.1997 S. 1) und Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29.6.1998 (ABl. EG L 209 vom 25.7.1998, S. 1), - im Folgenden: VO Nr. 1408/71 - verdrängt. Das Erfordernis eines Wohnsitzes oder eines gewöhnlichen Aufenthalts in Nordrhein-Westfalen gilt deshalb für die Klägerin nicht.

Nach Art. 73 VO Nr. 1408/71 hat ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI der Verordnung, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten. Die Vorschrift selbst gibt keinen Anspruch auf Familienleistungen. Sie knüpft vielmehr daran an, dass Familienleistungen nach nationalem Recht gewährt werden und modifiziert die nationalen Vorschriften, soweit sie Regelungen enthalten, die mit Art. 73 VO Nr. 1408/71 nicht in Einklang stehen.

EuGH, Urteil vom 12.6.1997 - C-266/95 -, Rdn. 29.

Letzteres ist hier der Fall. Das Erfordernis eines Wohnsitzes oder eines gewöhnlichen Aufenthaltes in Nordrhein-Westfalen gemäß §§ 1 Abs. 3 Satz 2, 7 Abs. 1 Satz 1 SchFG NRW sowie § 2 Abs. 1 Satz 1 SchfkVO NRW steht mit der im vorliegenden Fall anzuwendenden Vorschrift des Art. 73 VO Nr. 1408/71 nicht in Einklang. Mit Art. 73 VO Nr. 1408/71 sind nationale Regelungen nicht vereinbar, die Personen, die in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallen, von der Gewährung nach nationalem Recht vorgesehener Familienleistungen ausschließen, weil diese Personen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht in dem Staat haben, in dem die Familienleistungen gewährt werden.

Die Klägerin fällt in den persönlichen Anwendungsbereich des Art. 73 VO Nr. 1408/71. Sie ist Familienangehörige im Sinne des Art. 1 Buchstabe f Ziffer i VO Nr. 1408/71 und kann sich als solche selbst auf Art. 73 VO Nr. 1408/71 berufen. Die Vorschrift begünstigt nicht nur den Arbeitnehmer, sondern auch seine Familienangehörigen.

EuGH, Urteile vom 7.11.2002 - C-333/00 -, Rdn. 33, 5.2. 2002 - C-255/99 -, Rdn. 35 bis 37 und 50 f., 15.3.2001 - C-85/99 -, Rdn. 34 f., 10.10.1996 - C-245 und 312/94 -, Rdn. 31 ff., und 16.7.1992 - C-78/91 -, Rdn. 26.

Auch die weiteren Voraussetzungen für die Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs des Art. 73 VO Nr. 1408/71 sind erfüllt. Denn jedenfalls der Vater der Klägerin unterlag in dem gesamten noch streitgegenständlichen Zeitraum vom 25.10.1998 bis zum 31.7.2000 im Sinne des Art. 73 VO Nr. 1408/71 als Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, nämlich den deutschen Rechtsvorschriften, wohnte aber, wie die Klägerin, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates, nämlich in Belgien.

Der in Art. 73 und anderen Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 verwendete Begriff des Arbeitnehmers ist in Art. 1 Buchstabe a VO Nr. 1408/71 definiert. Er bezeichnet jede Person, die im Rahmen eines der in Art. 1 Buchstabe a VO Nr. 1408/71 aufgeführten Systeme der sozialen Sicherheit gegen die in dieser Vorschrift angegebenen Risiken unter den dort genannten Voraussetzungen pflichtversichert oder freiwillig versichert ist.

Vgl. auch EuGH, Urteile vom 11.6.1998 - C-275/96 -, Rdn. 20 f., und 12.5.1998 - C-85/96 -, Rdn. 36, jeweils m. w. N.

Aufgrund der Änderung durch die Verordnung Nr. 1606/98 (ABl. EG Nr. L 209 vom 25.7.1998 S. 1) unterfallen der Verordnung Nr. 1408/71 gemäß Art. 95 c Abs. 1 VO Nr. 1408/71 für die Zeit ab dem 25.10.1998 auch Personen, die von einem Sondersystem für Beamte (Art. 1 Buchstabe a Ziffer i VO Nr. 1408/71) erfasst werden. Dies gilt auch, soweit die Gewährung von Familienleistungen durch einen deutschen Träger in Rede steht. Die frühere im Anhang I der Verordnung 1408/71, Teil I C, enthaltene Einschränkung des Begriffs "Arbeitnehmer" im Bereich der Gewährung von Familienleistungen durch einen deutschen Träger, nach der Beamte in Bezug auf Familienleistungen durch einen deutschen Träger von dem persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen waren, vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 5.3.1998 - C-194/96 -, Rdn. 35 bis 38, m. w. N., gilt mit dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1606/98 für die Zeit ab dem 25.10.1998 nicht mehr. Die fortbestehenden Sonderregelungen für Beamte im allein Deutschland betreffenden Anhang VI zur Verordnung Nr. 1408/71, Teil I C, gelten nur noch für Titel III Kapitel 1 (Krankheit und Mutterschaft) und Kapitel 4 (Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten) der Verordnung Nr. 1408/71, nicht aber für die in Titel III Kapitel 7 der Verordnung Nr. 1408/71 geregelten Familienleistungen.

Nach Maßgabe der für die Zeit ab dem 25.10.1998 geltenden Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 waren der Vater der Klägerin während des gesamten Zeitraums vom 25.10.1998 bis zum 31.7.2000 und die Mutter der Klägerin vom 1.3.1999 bis zum 31.7.2000 Arbeitnehmer im Sinne der Art. 1 Buchstabe a, 73 VO Nr. 1408/71. Der Vater der Klägerin steht nämlich als Beamter auf Lebenszeit ununterbrochen seit 1993 im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Mutter der Klägerin war in der Zeit vom 1.3.1999 bis zum 30.6.1999 sowie vom 29.9.1999 bis zum 21.11.1999 und seit dem 10.1.2000 in NRW sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Auch für die Zeit der Arbeitslosigkeit vom 29.11.1999 bis zum 9.1.2000 war sie Arbeitnehmerin im Sinne der Art. 1 Buchstabe a, 73 VO Nr. 1408/71. Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschriften sind auch Arbeitslose, soweit sie, wie die Mutter der Klägerin, nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates der Europäischen Union Leistungen bei Arbeitslosigkeit erhalten.

EuGH, Urteile vom 11.6.1998 - C-275/96 -, Rdn. 20 bis 22 und 26, 12.5.1998 - C-85/96 -, Rdn. 36, 5.3.1998 - C-194/96 -, Rdn. 24, und 12.6.1997 - C-266/95 -, Rdn. 22.

Der Anwendbarkeit des Art. 73 VO Nr. 1408/71 im vorliegenden Fall steht entgegen der Auffassung des Beklagten nicht entgegen, dass die Eltern der Klägerin bis heute nur in Deutschland und nicht in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erwerbstätig waren und sind. Eine Zu- oder Abwanderung in Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV, ABl. (EG) 1997 Nr. C 340 vom 10.11.1997, = Art. 48 EGV a.F., ABl. (EG) 1992 C 224/6 vom 31.8.1992), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) oder der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) ist keine Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71.

Das vom Beklagten angeführte Urteil des EuGH vom 26.1.1993 - C-112/91 -, Rdn. 16, NJW 1993, 995 (996), und andere Entscheidungen des EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie zur Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, vgl. etwa EuGH, Urteile vom 26.1.1999 - C-18/95 -, Rdn. 26 f. 2.7.1998 - C-225/95 -, Rdn. 22 f., 5.6.1997 - C-64/96 -, Rdn. 16, 16.2. 1995 - C-29/94 -, Rdn. 9 f., 16.12.1992 - C-206/91 -, Rdn. 11, 22.9.1992 - C-153/91 -, Rdn. 8, 19.3.1992 - C-60/91 - Rdn. 7, 28.1.1992 - C-332/90 -, Rdn. 9, 23.4.1991 - C-41/90 -, Rdn. 37, 17.12.1987 - C-147/87 - Rdn. 15, 27.10.1982 - C-35 und 36/82 -, Rdn. 15, und 18.3.1980 - C-52/79 -, Rdn. 9, sind in Bezug auf die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 nicht einschlägig. In dem Urteil vom 26.1.1993 hat der EuGH die Anwendbarkeit der für Selbstständige geltenden Niederlassungsfreiheit mit der Begründung verneint, der Kläger habe seine Berufstätigkeit stets in Deutschland ausgeübt und wohne lediglich in einem anderen Mitgliedstaat. Diese Aspekte waren für den EuGH auch in anderen Entscheidungen ausschlaggebend dafür, die Anwendbarkeit europarechtlicher Grundfreiheiten zu verneinen.

Im europäischen Gemeinschaftsrecht gibt es jedoch keinen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff. Das gilt sowohl in Bezug auf das primäre wie auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht. Die Bedeutung des Begriffs "Arbeitnehmer" hängt entscheidend vom Anwendungsbereich des jeweiligen gemeinschaftsrechtlichen Regelwerks ab. Der Arbeitnehmerbegriff etwa in Art. 48 EGV a. F. (Art. 39 EGV) stimmt deshalb nicht notwendig mit dem überein, der im Bereich von Art. 51 EGV a. F. (Art. 42 EGV) und der Verordnung 1408/71 gilt.

So ausdrücklich EuGH, Urteil vom 12.5.1998 - C-85/96 -, Rdn. 31; ebenso Schlussanträge des Generalanwalts vom 30.11.2000 in den verbundenen Rechtssachen C-95 bis 98/99 und C-180/99, Rdn. 46 ff.

Der Verordnung Nr. 1408/71 liegt nämlich ein weiter Begriff des Arbeitnehmers zugrunde, der auch Personen erfasst, die, wie die Eltern der Klägerin, ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Ausübung der europäischen Grundfreiheiten in einen anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat, in dem sie erwerbstätig sind, verlegt haben.

EuGH, Urteile vom 11.10.2001 - C-95 bis 98/99 und C-180/99 -, Rdn. 55, und 5.3.1998 - C-194/96 -, Rdn. 27 bis 30; in dem Urteil vom 10.10.1996 - C-245 und 312/94 -, NJW 1997, 43 ff., ist der EuGH in einem dem vorliegenden vergleichbaren Fall ohne nähere Begründung ebenfalls davon ausgegangen, dass allein die Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 rechtfertigt.

Für eine weite Auslegung des in Art. 1 Buchstabe a VO Nr. 1408/71 definierten Begriffs "Arbeitnehmer" spricht der Wortlaut dieser Vorschrift. Nach ihrem Wortlaut erfasst die Vorschrift "jede" Person, die unter den in Art. 1 Buchstabe a VO Nr. 1408/71 genannten Voraussetzungen als Arbeitnehmer tätig ist. Eine Zu- oder Abwanderung in Ausübung der europäischen Grundfreiheiten ist dagegen nach dem Wortlaut des Art. 1 Buchstabe a VO Nr. 1408/71 keine Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Vorschrift.

Ebenso EuGH, Urteil vom 5.3.1998 - C-194/96 -, Rdn. 28.

Die vierte und fünfte Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1408/71 sprechen ebenfalls für eine weite Auslegung des Begriffs Arbeitnehmer. Sie lassen erkennen, dass die Verordnung ohne Einschränkung für sämtliche Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Geltung beansprucht.

So auch EuGH, Urteil vom 5.3.1998 - C-194/96 -, Rdn. 27 und 30.

In der vierten Begründungserwägung heißt es, es sei besser, grundsätzlich davon auszugehen, dass die Verordnung für "alle" Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gelte, die im Rahmen der für Arbeitnehmer geschaffenen Systeme versichert seien. In der fünften Begründungserwägung wird darauf abgestellt, dass die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 sicherstellen sollen, dass "alle" Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gleich behandelt werden und die Arbeitnehmer und ihre anspruchsberechtigten Angehörigen "unabhängig von ihrem Arbeits- und Wohnort" in den Genuss der Leistungen der sozialen Sicherheit kommen.

Darüber hinaus spricht der Zweck des Art. 42 EGV (= Art. 51 EGV a. F.) für eine weite Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71. Art. 42 EGV (Art. 51 EGV a. F.) dient wie die Verordnung Nr. 1408/71 der Koordination der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Die Wirksamkeit der bezweckten Koordinierung wäre aber nicht gewährleistet, wenn die Anwendung der genannten Regelungen allein den Arbeitnehmern vorbehalten wäre, die zur Ausübung ihrer Beschäftigung innerhalb der Gemeinschaft gewandert sind.

EuGH, Urteil vom 11.10.2001 - C-95 bis 98/99 und C-180/99 -, Rdn. 55.

Dementsprechend ist der EuGH bereits hinsichtlich der Vorschriften in der Verordnung Nr. 3 des Rates über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 25.9.1958 (ABl. Nr. 30 vom 16.12.1958 S. 561), an deren Stelle die Verordnung Nr. 1408/71 getreten ist, davon ausgegangen, dass sich der Arbeitnehmerbegriff in diesen Vorschriften nicht auf "die Wanderarbeitnehmer stricto sensu oder auf Ortsveränderungen, die mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang stehen", beschränkte.

EuGH, Urteil vom 11.10.2001 - C-95 bis 98/99 und C 180/99 -, Rdn. 55, und 5.3.1998 - C-194/96 -, Rdn. 29, jeweils m. w. N.

Die Verordnung Nr. 1408/71 zielt weiter darauf ab zu verhindern, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen im Sinne der Verordnung 1408/71 davon abhängig macht, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen im Mitgliedstaat der Leistung wohnen, und dadurch der Mitgliedstaat Erwerbstätige davon abhält, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen.

EuGH, Urteile vom 7.11.2002 - C-333/00 -, Rdn. 34, 12.6.1997 - C-266/95 -, Rdn. 28, 10.10.1996 - C-245 und 312/94 -, Rd. 34, und 5.10.1995 - C-321/93 -, Rdn. 21.

Auch mit diesem Zweck ist es nicht vereinbar, die Anwendbarkeit der Verordnung 1408/71 davon abhängig zu machen, dass von der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder anderen gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten bereits Gebrauch gemacht worden ist. Durch die Verordnung soll vielmehr sichergestellt werden, dass ein Mitgliedstaat durch die Gewährung von sozialen Leistungen im Sinne der Verordnung 1408/71 nicht negativ auf die Bereitschaft zur Ausübung der gemeinschaftsrechtlichen Freiheiten einwirkt.

Der sachliche Anwendungsbereich des Art. 73 VO Nr. 1408/71 ist ebenfalls eröffnet. Die begehrte Übernahme der Schülerfahrkosten ist eine Familienleistung im Sinne des Art. 73 VO Nr. 1408/71.

Familienleistungen werden in Art. 4 Abs. 1 Buchstabe h VO Nr. 1408/71 den Leistungen der sozialen Sicherheit zugeordnet. Art. 1 Buchstabe u Ziff. i VO Nr. 1408/71 definiert Familienleistungen als alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburts- oder Adoptionsbeihilfen.

Als Leistung der sozialen Sicherheit setzt das Vorliegen einer Familienleistung wie das Vorliegen aller anderen in Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 genannten Leistungen der sozialen Sicherheit voraus, dass sie den Empfängern unabhängig von einer auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung gewährt wird.

Vgl. EuGH, Urteile vom 7.11.2002 - C-333/00 -, Rdn. 22, 24, 28.3.1996 - C-243/94 -, Rdn. 16, 2.8.1993 - C-66/92 -, Rdn. 14, und 16.7.1992 - C-78/91 -, Rdn. 15.

Das ist in Bezug auf die Übernahme der Schülerfahrkosten nach nordrhein-westfälischen Recht der Fall. Sie wird unabhängig von der Bedürftigkeit des Schülers oder seiner Eltern gewährt.

Die Übernahme der Schülerfahrkosten ist auch, wie in Art. 1 Buchstabe u Ziff. i VO Nr. 1408/71 vorausgesetzt, zum Ausgleich von Familienlasten bestimmt. Mit dem Begriff "Ausgleich von Familienlasten" sollen staatliche Beiträge zum Familienbudget erfasst werden, durch die die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringert werden.

EuGH, Urteile vom 7.11.2002 - C-333/00 -, Rdn. 25 f., 5.2. 2002 - C-255/99 -, Rdn. 31 f., 15.3.2001 - C-85/99 -, Rdn. 38 f. und 41, sowie 16.7.1992 - C-78/91 -, Rdn. 19 bis 21.

Dabei kann dahinstehen, ob es genügt, dass durch die nationale Leistung tatsächlich eine Entlastung des Familienbudgets erfolgt, oder ob es erforderlich ist, dass die staatliche Leistung diesem Zweck dient. Für Letzteres spricht, dass es für den Charakter der nationalen Leistung als soziale Leistung und damit auch als Familienleistung nicht darauf ankommt, wie der jeweilige Mitgliedstaat die Leistung bezeichnet hat, sondern dass im Wesentlichen auf die grundlegenden Merkmale der Leistung, insbesondere ihren Zweck und die Voraussetzungen ihrer Gewährung, abzustellen ist.

EuGH, Urteile vom 5.2. 2002 - C-255/99 -, Rdn. 50, 15.3.2001 - C-85/99 -, Rdn. 27, 2.8.1993 - C-66/92 -, Rdn. 14, und 16.7.1992 - C-78/91 -, Rdn. 15.

Die Übernahme von Schülerfahrkosten nach nordrhein-westfälischem Recht entlastet das Familienbudget tatsächlich und hat jedenfalls auch den Zweck, die Kosten des Unterhalts von Kindern zu verringern. Die tatsächliche Entlastung des Familienbudgets folgt daraus, dass der für die Übernahme von Schülerfahrkosten zuständige Schulträger der besuchten Schule (§ 4 Abs. 1 SchfkVO NRW) mit der Übernahme den unterhaltspflichtigen Eltern einen (kleinen) Teil der Lebenskosten und der Unterhaltspflicht abnimmt, den die Eltern zu tragen hätten, wenn der Schulträger sie nicht übernehmen würde.

Vgl. auch zum hessischen Recht der Schülerfahrkosten: HessStGH, Beschluss vom 25.7.1984 - P. St. 997 -, SPE, Schülerbeförderungskosten 670, Nr. 23, S. 17 (20).

Diese zwangsläufige Folge der Übernahme von Schülerfahrkosten lag für den nordrhein-westfälischen Gesetz- und Verordnungsgeber auf der Hand, so dass die Übernahme der Schülerfahrkosten nach dem Willen des nordrhein-westfälischen Gesetz- und Verordnungsgebers jedenfalls auch dem Zweck dient, das Familienbudget zu entlasten. Eine andere Beurteilung ist entgegen der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geäußerten Auffassung des Vertreters des Beklagten nicht deshalb geboten, weil mit der Übernahme von Schülerfahrkosten (auch) die Erfüllung der Schulpflicht erleichtert wird. Dass die Übernahme von Schülerfahrkosten nicht allein der Erleichterung der Erfüllung der Schulpflicht dient und in keinem ausschließlichen Zusammenhang mit der Schulpflicht steht, folgt schon daraus, dass Schülerfahrkosten auch für Schüler gewährt werden, die die regelmäßige Vollzeitschulpflicht von zehn Schuljahren (§ 5 Satz 1 SchPflG NRW) erfüllt haben und nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht etwa die Jahrgangsstufen 11 bis 13 der gymnasialen Oberstufe oder, wie die Klägerin in den Schuljahren 1998/1999 und 1999/2000, eine Fachschule (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 SchFG NRW, § 2 Abs. 1 SchfkVO NRW) besuchen.

Die Anwendung des Art. 73 VO Nr. 1408/71 ist entgegen der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geäußerten Auffassung des Vertreters des Beklagten schließlich nicht auf soziale Leistungen beschränkt, die für den jeweiligen Mitgliedstaat einheitlich, bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland also bundesweit, gewährt werden. Weder den Begründungserwägungen der Verordnung 1408/71 noch den Vorschriften der Verordnung lässt sich entnehmen, dass die Anwendbarkeit der Verordnung voraussetzt, dass die jeweilige nationale Rechtsvorschrift über die Gewährung von Familienleistungen in dem gesamten Gebiet des betreffenden Mitgliedstaates der Europäischen Union gilt. Die bereits dargelegten Zwecke der Art. 42 EGV (51 EGV a. F.) und der Verordnung Nr. 1408/71, die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit zu koordinieren und die Mitgliedstaaten daran zu hindern, durch die Gewährung von sozialen Leistungen negativ auf die Bereitschaft zur Ausübung der europäischen Grundfreiheiten einzuwirken, erfordern vielmehr, auch solche nationalen sozialen Leistungen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 einzubeziehen, die lediglich in Teilgebieten des jeweiligen Mitgliedstaates gewährt werden. Schon dann besteht ein Koordinierungsbedarf, um durch die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 die Gefahr, dass der staatliche Träger der sozialen Leistung negativ auf die Bereitschaft zur Ausübung der europäischen Grundfreiheiten einwirken könnte, auszuschließen.

Ende der Entscheidung

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