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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 20.05.2009
Aktenzeichen: 19 B 1362/08
Rechtsgebiete: SchulG NRW, GG


Vorschriften:

SchulG NRW § 43 Abs. 3
GG Art. 4 Abs. 1
GG Art. 4 Abs. 2
GG Art. 6 Abs. 2
GG Art. 7 Abs. 1
1. Eine strenge Auslegung der Glaubensquellen des Korans innerhalb einer muslimischen Familie rechtfertigt für sich genommen nicht die Befreiung ihrer Kinder vom Schwimmunterricht.

2. Ein wichtiger Grund hierfür im Sinne § 43 Abs. 3 SchulG NRW liegt vielmehr erst dann vor, wenn sowohl die Schule als auch die Eltern und ihr Kind den Konflikt zwischen dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG einerseits und dem Elternrecht auf religiöse Kindererziehung aus Art. 6 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG andererseits im konkreten Einzelfall auch durch zumutbare Maßnahmen nicht zu einem schonenden Ausgleich führen können (Grundsatz der praktischen Konkordanz).

3. Für muslimische Mädchen im Grundschulalter gehört zu den zumutbaren Maßnahmen in diesem Sinn grundsätzlich auch das Tragen einer den islamischen Bekleidungsvorschriften entsprechenden Schwimmkleidung.


Tatbestand:

Die 9-jährige Tochter der Antragsteller besucht die 4. Klasse der Grundschule. Sie beantragten bei deren Leiterin, der Antragsgegnerin, ihre Tochter aus Gründen ihres muslimischen Glaubens von der Teilnahme am Schwimmunterricht zu befreien. Sie beriefen sich auf die islamischen Bekleidungsvorschriften (Koransure 24, Verse 30 und 31), die sie als streng gläubige Muslime strikt beachten müssten; es dürfe keinen Zutritt und Einblick der Schüler des jeweils anderen Geschlechts beim Schwimmunterricht geben. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit der Begründung ab, bis zum Alter von 12 Jahren sei für muslimische Mädchen die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht zumutbar. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhoben die Antragsteller Klage und beantragten vorläufigen Rechtsschutz. Das VG lehnte diesen Antrag ab. Das OVG wies die Beschwerde zurück.

Gründe:

Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Insoweit ist die Prüfung des Senats auf diejenigen Gründe beschränkt, die die Antragsteller innerhalb der einmonatigen Begründungsfrist nach § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO dargelegt haben (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Diese Gründe rechtfertigen es nicht, den angefochtenen Beschluss zu ändern und der Antragsgegnerin aufzugeben, die 9-jährige Tochter R. der Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorläufig von der Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht in der 4. Klasse der Grundschule zu befreien.

Ohne Erfolg erneuern die Antragsteller in der Beschwerdebegründung zunächst ihre Rechtsauffassung, der wichtige Grund für die Befreiung liege unter anderem in der von ihnen befürworteten strengen Auslegung der islamischen Glaubensquellen, wonach ihnen geboten sei, ihre Tochter schon ab dem 7. Lebensjahr, also vor der Pubertät vorsorgend vor Versuchungen in sexueller Hinsicht zu bewahren. Sollten sie damit meinen, ein wichtiger Grund im Sinne des § 43 Abs. 3 SchulG NRW könne sich allein schon daraus ergeben, dass sie den islamischen Glauben in einer besonders strengen Form praktizieren, so wäre dies rechtlich unzutreffend. Ein wichtiger Grund im Sinne dieser Vorschrift liegt vielmehr erst dann vor, wenn sowohl die Schule als auch die Eltern und ihr Kind den Konflikt zwischen dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG einerseits und dem Elternrecht auf religiöse Kindererziehung aus Art. 6 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG andererseits im konkreten Einzelfall auch durch zumutbare Maßnahmen nicht zu einem schonenden Ausgleich führen können (Grundsatz der praktischen Konkordanz). Das hat im Ansatz bereits das VG zutreffend ausgeführt und hierfür auf die höchstrichterliche Rechtsprechung und diejenige des Senats Bezug genommen.

Außerdem BVerwG, Beschluss vom 8. 5. 2008 - 6 B 64.07 -, NWVBl. 2009, 12, juris, Rdn. 4; Beschluss vom 7. 10. 2003 - 6 B 41.03 -, juris, Rdn. 6.

Jedenfalls für muslimische Mädchen im Grundschulalter gehört zu den zumutbaren Maßnahmen in diesem Sinn entgegen der Auffassung der Antragsteller grundsätzlich auch das Tragen einer den islamischen Bekleidungsvorschriften entsprechenden Schwimmkleidung. Auch dies hat das VG bereits zutreffend ausgeführt. Die Rügen, die die Antragsteller in ihrer Beschwerdebegründung hiergegen erheben, greifen nicht durch.

Nicht realitätsgerecht ist zunächst ihr Einwand, eine ihren religiösen Bekleidungsvorschriften gemäße Körperbedeckung sei im Schwimmunterricht nicht möglich, da entsprechende Schwimmbekleidung beim Schwimmen ein Hindernis und zudem, mit Wasser voll gesogen, eine zusätzliche Gefahr für Leib und Leben darstelle. Sowohl in islamisch geprägten Ländern als auch in Deutschland ist es inzwischen nichts Ungewöhnliches mehr, dass muslimische Frauen und Mädchen beim Schwimmen eine den islamischen Bekleidungsvorschriften als konform angesehene Schwimmbekleidung tragen. Jedenfalls seit einigen Jahren gibt es als taugliche Bade- und Schwimmbekleidung für muslimische Mädchen und Frauen etwa einen zweiteiligen Badeanzug mit hoch geschlossenem Kragen und fest sitzender Kopfbedeckung (u. a. sog. Burkini); er bedeckt den ganzen Körper bis auf Hände, Füße und das Gesicht, ohne das Schwimmen zu behindern. Das Textilmaterial ist aus Kunstfaser (z. B. Lycra); es verhindert auch im nassen Zustand ein enges Anhaften an der Haut und ein Abzeichnen der Körperkonturen.

Vgl. www.sueddeutsche.de/panorama/587/377394/ text/print.html; www.3sat.de/SCRIPTS/print.php? url=/kulturzeit/themen/125273/index.html; www.eslam.de/begriffe/b/burkini.htm; http://wapedia.mobi/de/Burkini.

Auch für den Schwimmunterricht der Grundschule sieht der Senat das Tragen derartiger Schwimmbekleidung grundsätzlich als eine zumutbare und diskriminierungsfreie Ausweichmöglichkeit an, die geeignet ist, einen hier im Einzelfall auftretenden Glaubenskonflikt ohne Verzicht auf dessen koedukativen Charakter und ohne Befreiung von der Teilnahme daran zu bewältigen. Der Senat findet auch keinen Anhaltspunkt dafür, hiervon für die Tochter der Antragsteller eine einzelfallbezogene Ausnahme zu machen. Insbesondere muss sie nach den Umständen des Falles nicht etwa befürchten, wegen des Tragens solcher Schwimmbekleidung von Mitschülern in eine Außenseiterrolle gedrängt oder verständnislosen, beleidigenden oder sonst diskriminierenden Reaktionen ausgesetzt zu werden. Denn nach ihren eigenen Angaben trägt sie auch im Sportunterricht und im sonstigen Unterricht eine weite, ihre Körperkonturen verhüllende Bekleidung und befolgt damit die von ihrer Familie praktizierte strenge Auslegung der Glaubensinhalte des Korans. Dies lässt den Schluss zu, dass ihre Mitschüler sie schon jetzt als ein Mädchen kennen, das die islamischen Bekleidungsvorschriften innerhalb und außerhalb der Schule konsequent befolgt. Sie hat nicht geltend gemacht, deswegen bisher unangemessen behandelt worden zu sein.

Sollte es gleichwohl aus Anlass der Teilnahme der Antragstellerin am Schwimmunterricht erstmals zu Reaktionen der genannten Art bei Mitschülern kommen, ist es selbstverständlich auch dort die Pflicht der Lehrkräfte, auf diese Mitschüler mit dem Ziel pädagogisch einzuwirken, der Tochter verständnisvoll, tolerant und respektvoll zu begegnen. Diese Pflicht ergibt sich aus dem Erziehungsauftrag der Schule zu gegenseitiger Achtung vor der Überzeugung anderer sowie zu Verständnis und Toleranz aus § 2 Abs. 2, Abs. 5 Nr. 4, Abs. 6 SchulG NRW. Je nach der religiösen Zusammensetzung der Schwimmklasse und der Stellung der Tochter im Klassengefüge kann es auch sinnvoll sein, ihre erste Teilnahme am Schwimmunterricht durch eine pädagogische Einwirkung auf Mitschüler vorzubereiten.

Die Antragsteller dringen schließlich auch nicht mit ihrem Einwand durch, der staatliche Erziehungsauftrag werde durch die begehrte Befreiung nicht gefährdet, weil diese nur den Schwimmunterricht, nicht aber auch den sonstigen Sportunterricht betreffe. Das VG hat die Ziele und den erzieherischen Stellenwert speziell des Schwimmunterrichts zutreffend aus dem Lehrplan Sport für die Grundschulen des Landes Nordrhein Westfalen vom 16.6.2008 abgeleitet (S. 8 des Beschlussabdrucks).

Hierzu auch VG Düsseldorf, Urteil vom 7. Mai 2008 - 18 K 301/08 -, juris, Rdn. 41; Nieland, Schulverwaltung NRW 2008, 282 f.

Hiergegen wenden die Antragsteller lediglich ein, diese Ziele könne die Schule auch im sonstigen Grundschulunterricht "im Rahmen des übrigen Lehrplans" realisieren. Dieser Einwand ist zu pauschal, als dass er bei der Abwägung im Rahmen der praktischen Konkordanz Berücksichtigung finden kann. Er widerspricht zudem der Entscheidung des Schulministeriums im genannten Lehrplan, jene Ziele eben nicht nur durch den sonstigen Unterricht, sondern gerade auch durch den koedukativen Schwimmunterricht zu erreichen. Mit dieser Entscheidung ist das Schulministerium seiner gesetzlichen Verpflichtung aus § 29 Abs. 1 SchulG NRW gefolgt, als Unterrichtsvorgaben unter anderem in Lehrplänen die Ziele und Inhalte der einzelnen Unterrichtsfächer festzulegen und dadurch den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu konkretisieren. Eine Befreiung würde den so konkretisierten Bildungs- und Erziehungsauftrag in Bezug auf die Tochter der Antragsteller verkürzen. Die Nichtteilnahme am koedukativen Schwimmunterricht beeinträchtigte auch ihr Recht auf Bildung, Erziehung und auf individuelle Förderung, § 1 Abs. 1 SchulG NRW, insbesondere auch auf eine Erziehung, die den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter achtet und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt, § 2 Abs. 6 Satz 2 SchulG NRW. Das Gewicht des staatlichen Erziehungsauftrags und der überfachlichen Erziehungsziele des koedukativen Schwimmunterrichts mindert sich entgegen der Auffassung der Antragsteller schließlich auch nicht dadurch, dass der Schwimmunterricht keine "Mannschaftssportart" sei. Das Einüben sozialen Verhaltens beschränkt sich nicht auf Mannschaftssport.

Die Beschwerderügen geben dem Senat keine Veranlassung zu einer näheren Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerwG aus dem Jahr 1993 zur Teilnahme am Sportunterricht. Der Senat weist insoweit lediglich darauf hin, dass auch das BVerwG einen Befreiungsanspruch im rechtlichen Ausgangspunkt für den Fall verneint hat, dass der Glaubenskonflikt mit weniger weit reichenden Maßnahmen oder Vorkehrungen vermieden oder gelöst werden könne. Als Vorkehrungen dieser Art hat es ausdrücklich auch eine besondere Sportbekleidung angesprochen.

BVerwG, Urteil vom 25. 8. 1993 - 6 C 8.91 -, juris, Rdn. 25; Urteil vom 25. 8. 1993 - 6 C 30.92 -, juris, Rdn. 24.

Ende der Entscheidung

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