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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 10.08.2006
Aktenzeichen: 19 B 1513/06
Rechtsgebiete: SchulG NRW, VwVfG NRW


Vorschriften:

SchulG NRW § 35 Abs. 2 Satz 1
VwVfG NRW § 2 Abs. 3 Nr. 3
VwVfG NRW § 24
VwVfG NRW § 26
VwVfG NRW § 24 Abs. 1
Bei der Prüfung und Feststellung der Schulfähigkeit, die in § 35 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW durch unbestimmte Rechtsbegriffe umschrieben ist, steht der Schulleiterin oder dem Schulleiter ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu.
Tatbestand:

Die Antragsteller zu 2. und 3. beantragten für ihren am 9.7.2000 geborenen Sohn, den Antragsteller zu 1., die Aufnahme in die vom Antragsgegner geleitete Grundschule vor Beginn der Schulpflicht. Nach Durchführung eines Schulreifetests nach dem "Kieler Einschulungsverfahren" lehnte der Antragsgegner die Aufnahme des Antragstellers zu 1. ab. Den Antrag der Antragsteller, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, den Antragsteller zu 1. vorläufig in die Grundschule aufzunehmen, lehnte das VG ab; das OVG wies ihre Beschwerde zurück.

Gründe:

Die Antragsteller haben auch im Beschwerdeverfahren nicht glaubhaft gemacht, dass der am 9.7.2000 geborene Antragsteller zu 1. im Sinne des § 35 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW schulfähig ist. Auf seine Schulfähigkeit kommt es auch nach dem In-Kraft-Treten der neuen Stichtagsregelung in § 35 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW in der Fassung des 2. Schulrechtsänderungsgesetzes vom 27.6.2006 (GV. NRW. S. 278) zum 1.8.2006 weiter an. Denn aus der Übergangsvorschrift in Art. 7 Abs. 2 des 2. Schulrechtsänderungsgesetzes ist zu entnehmen, dass diese Stichtagsregelung auf die Einschulung zum Schuljahr 2006/2007 noch nicht angewendet werden soll. Für den Antragsteller zu 1., der das sechste Lebensjahr nach dem 30.6.2006 vollendet hat, verbleibt es also auch nach neuem Recht bei dem Eintritt der gesetzlichen Schulpflicht erst zum 1.8.2007.

Die Entscheidung über die vorzeitige Einschulung trifft nach § 35 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW die Schulleiterin oder der Schulleiter der Grundschule unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens. Bei der Prüfung und Feststellung der Schulfähigkeit, die in § 35 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW durch unbestimmte Rechtsbegriffe umschrieben ist, steht ihr oder ihm ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Ein gerichtlich eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum kommt in Betracht, wenn eine komplexe Bewertung auf der Grundlage von Kriterien getroffen werden muss, die durch persönliche Erfahrungen geprägt und weder rechtlich zu steuern noch durch das Verwaltungsgericht, auch nicht durch Hinzuziehung von Sachverständigen, zu ersetzen sind.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.10.1993 - 6 C 12.92 -, BayVBl 1994, 443 (443); OVG NRW, Beschluss vom 3.7.2006 - 19 A 5051/05 -; Niehues, Prüfungsrecht, 4. Auflage, 2004, Rdn. 642 und 847, m. w. N.

Das ist bei der Entscheidung über die Schulfähigkeit im Sinne des § 35 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW der Fall. Die Schulleiterin oder der Schulleiter haben zu prüfen, ob das Kind im Sinne des § 35 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW die für den Schulbesuch erfor-derlichen körperlichen und geistigen Voraussetzungen besitzt und in seinem sozialen Verhalten ausreichend entwickelt ist, um in der Schule erfolgreich erzogen und gebildet werden zu können. Dabei hat sie oder er die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW). Das erfordert die pädagogische Prognose, ob das Kind bei der gebotenen und möglichen Förderung der Grundschule die Erziehungs- und Bildungsziele gemäß § 2 SchulG NRW erreichen kann. Insbesondere ist zu prüfen, ob eine vorzeitige Einschulung die für eine erfolgreiche Erziehung und Bildung in der Schule unerlässliche Erhaltung und Förderung der Lernfreude des Kindes (§ 2 Abs. 8 Satz 1 SchulG NRW) möglicherweise beeinträchtigt. Für die Anwendung und Prüfung dieser Beurteilungskriterien ist neben der schulärztlichen Begutachtung (§ 35 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW) ganz wesentlich die persönliche Erfahrung der Schulleiterin oder des Schulleiters, die sie aufgrund ihrer Unterrichtstätigkeit in der Schule gewonnen haben. Diese persönlichen Erfahrungen kann das Verwaltungsgericht auch nicht mit Hilfe von Sachverständigen ersetzen.

Vgl. zum Beurteilungsspielraum bei der Prognose erfolgreicher Mitarbeit in der nächsthöheren Klasse OVG NRW, Beschlüsse vom 23.12.2003 - 19 B 2561/03 - und 22.4.2002 - 19 B 575/02 - sowie bei Anwendung und Auswahl von Schulordnungsmaßnahmen OVG NRW, Beschluss vom 7.8.2006 - 19 E 799/06 - .

Die gerichtliche Überprüfung der Beurteilung der Schulfähigkeit durch den Schulleiter beschränkt sich nach allgemeinen Grundsätzen dem gemäß darauf, ob Verfahrensfehler oder Verstöße gegen anzuwendendes Recht vorliegen, ob der Schulleiter von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, gegen allgemeine Bewertungs-grundsätze verstoßen hat, sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen oder sonst willkürlich gehandelt hat.

Dies zugrunde gelegt ist die Beurteilung des Antragsgegners, dass der Antragsteller zu 1. nicht schulfähig ist, auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens der Antragsteller nicht zu beanstanden.

Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist. Abgesehen von der Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens geben schulrechtliche Rechtsvorschriften dem Schulleiter weiter nicht vor, wie er den für die Beurteilung der Schulfähigkeit erheblichen Sachverhalt zu ermitteln hat. Die Sachverhaltsermittlung richtet sich daher nach den - gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 3 VwVfG NRW für den Bereich der Schule anwendbaren - allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 24, 26 VwVfG NRW. Danach ermittelt die Behörde - hier der Schulleiter - den Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen (§ 24 Abs. 1 VwVfG NRW); sie bedient sich der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält (§ 26 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW). Darin liegt die - von den Antragstellern zu Unrecht vermisste - gesetzliche Grundlage dafür, dass der Antragsgegner den Schulreifetest am 1.3.2006 nach dem "Kieler Einschulungsverfahren" durchgeführt hat. Daran war der Antragsgegner nicht durch die von den Antragstellern im Beschwerdeverfahren vorgelegte Publikation des Ministeriums für Schule und Weiterbildung für das Land Nordrhein-Westfalen im "Bildungsportal. NRW" gehindert; diese enthält lediglich Hinweise auf Entscheidungs- und Orientierungshilfen und entfaltet als Empfehlung so schon aus sich heraus für den Antragsgegner keine Bindung. Es ist auch nicht aufgezeigt oder sonst ersichtlich, dass das dort als Handreichung angesprochene Schulfähigkeitsprofil eine dem vom Antragsgegner herangezogenen "Kieler Einschulungsverfahren" derart überlegene und diesem gegenüber eindeutig tauglichere Grundlage für die Beurteilung der Schulfähigkeit ist, dass die Prüfung der Schulfähigkeit im vorliegenden Fall nicht mehr ermessensgerecht ist. Die Prüfung der Schulfähigkeit anhand des "Kieler Einschulungsverfahrens" ist im Übrigen auch nicht wegen Ermessensunterschreitung deshalb ermessensfehlerhaft, weil es, wie der Antragsgegner mit der Beschwerdeerwiderung anführt, vom Schulamt für den Rhein-Erft-Kreis "angeordnet" worden ist. Es kann dahinstehen, ob das Schulamt die Verwendung dieses Verfahrens verbindlich angeordnet hat und ob dies bejahendenfalls zulässig wäre. Der Antragsgegner hat jedenfalls, wie seine Beschwerdeerwiderung zeigt, das "Kieler Einschulungsverfahren" verwendet, weil es ihm aufgrund seiner eigenen pädagogischen Einschätzung und Erfahrung die erforderlichen Erkenntnisse verschafft, um seinen Beurteilungsspielraum gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW fehlerfrei ausüben zu können. Das Verfahren biete nachweislich gesicherte Erkenntnisse und sei als Gruppentest, in dem die Kinder in einer die Situation in einer Schulklasse möglichst vergleichbar simulierenden Gruppensituation getestet würden, dem Einzeltest überlegen, indem der Gruppentest nicht nur kognitive Funktionen prüfe, vielmehr das Sozial- und Gruppenverhalten in den Vordergrund rücke.

Diese durch die Verwaltungsgerichte eingeschränkt überprüfbare Einschätzung, dass das "Kieler Einschulungsverfahren" eine taugliche Grundlage für die Prüfung der Schulfähigkeit sei, ist weder willkürlich noch sonst zu beanstanden. Nach dem im - auszugsweise vorgelegten - Beiheft zum "Kieler Einschulungsverfahren" wiedergegebenen Konzept fußt das Verfahren auf in der pädagogischen Wissenschaft anerkannten Erkenntnissen zur Schuleingangsdiagnostik und deckt es die für die Schulfähigkeit (auch) im Sinne von § 35 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW wesentlichen Bereiche ab wie Wahrnehmung, Denkfähigkeit, Gedächtnis, Sprache (Sprach- und Sprechverhalten, Sprach- und Anweisungsverständnis), Motorik, Leistungsmotivation und Selbstständigkeit, Arbeitsverhalten (Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer, Belastbarkeit), Sozialverhalten (Ansprechbarkeit, Kontaktaufnahme) und den emotionalen Bereich (Spannungen, Ängstlichkeit). Dass das Verfahren nicht den Testvorgaben entsprechend im vorliegenden Fall durchgeführt worden ist, machen die Antragsteller nicht geltend.

Ein Fehler der Sachverhaltsermittlung ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen, der Antragsteller zu 1. sei am 1.3.2006 gesundheitlich "nicht in guter Verfassung" gewesen bzw. habe sich in einem "schlechten Gesundheitszustand" befunden und die Antragstellerin zu 2. habe den Antragsgegner "wegen des damals schlechten Gesundheitszustandes" gebeten, den Termin für die Durchführung des Schulreifetests zu verschieben. Hätten die Antragsteller rechtzeitig und hinreichend konkret und substantiiert unter Vorlage etwa einer aussagekräftigen ärztlichen Bescheinigung geltend gemacht, der Antragsteller zu 1. sei krankheitsbedingt nicht in der Lage, sich dem Schulreifetest zu unterziehen, wäre der Antragsgegner allerdings gehalten gewesen, den Termin für den Gruppentest, wenn er an dieser Testform festgehalten hätte, zu verschieben oder einen späteren Termin für einen Einzeltest anzusetzen; denn es liegt auf der Hand, dass bei einer krankheitsbedingten "Prüfungsunfähigkeit" der Schulreifetest seinen Zweck verfehlt hätte, Aufschluss über die Schulfähigkeit des Kindes zu geben. Die Antragsteller haben aber eine krankheitsbedingte Verhinderung des Antragstellers zu 1., an dem Gruppentest am 1.3.2006 teilzunehmen, nicht hinreichend konkret und substantiiert geltend gemacht. (Wird ausgeführt)

Die Antragsteller haben weiter nicht glaubhaft gemacht, dass der Antragsgegner sonst bei der Beurteilung der Schulfähigkeit gegen allgemeine Beurteilungsgrundsätze verstoßen hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen. Die Beurteilung des Antragsgegners, dass der Antragsteller zu 1. nicht die erforderliche Schulfähigkeit besitzt, ist anhand der mit "Beobachtung" überschriebenen handschriftlichen Aufzeichnung des Antragsgegners selbst nachvollziehbar; in dieser Aufzeichnung ist die Beurteilung der einzelnen Testergebnisse aus sieben Testaufgaben zu den Kriterien bzw. Beurteilungsbereichen Motorik, Emotionalität, Kontakt zu anderen Kindern in der Gruppe, Sprach- und Sprechverhalten, Deutfähigkeit/Logik, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Anweisungsverständnis, Gliederungsfähigkeit und Arbeitstempo zusammengefasst worden. Diese Beurteilung hat der Antragsgegner in der Beschwerdeerwiderung ebenfalls nachvollziehbar und willkürfrei dahin erläutert, dass der Antragsteller zu 1. lediglich zu den Merkmalen Gedächtnis und Gliederungsfähigkeit altersentsprechende Leistungen gezeigt habe; in den sonstigen Beurteilungsbereichen seien aber elementare, für das erfolgreiche Absolvieren des Schulalltags erforderliche Verhaltensmerkmale nur in unzureichendem Maße festzustellen. Der Antragsteller zu 1. habe sich gerade in der Gruppe sehr zurückhaltend, ja fast ängstlich verhalten, sodass zu erwarten sei, dass er durch dieses Verhalten in einer größeren Gruppe wie einer Schulklasse nicht die erforderliche Präsenz im Unterricht zeigen werde. Zudem ließen seine Leistungen bei einer nur 1 1/4stündigen Testdauer erheblich nach, sodass er aus pädagogischer Sicht dem wesentlich längeren Schulalltag nicht gewachsen sein werde. Diese pädagogische Beurteilung wird nicht durch die vorgelegten tabellarischen Aufzeichnungen des Antragsgegners, die dieser nach seiner Erläuterung in der Beschwerdeerwiderung zu den einzelnen Kindern und zu den einzelnen Testaufgaben als Gedächtnishilfe stichwortartig oder mit Zeichen anfertigte, durchgreifend in Frage gestellt. Nach den Erläuterungen des Antragsgegners bedeutet das wiederholt beim Antragsteller zu 1. verwendete Zeichen "+0" eine zum Testende hin immer geringere Leistungsfähigkeit, die für die Schulreife nicht ausreiche.



Ende der Entscheidung

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