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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 11.01.2008
Aktenzeichen: 19 E 726/07
Rechtsgebiete: SchulG NRW


Vorschriften:

SchulG NRW § 1 Abs. 1 Satz 1
Die Fortsetzungsfeststellungsklage gegen eine Nichtversetzung kann auch dann begründet sein, wenn ein Verfahrensfehler vorliegt, der keinen Anspruch auf Versetzung begründet.

Es spricht Überwiegendes dafür, dass der verfassungsrechtliche Anspruch auf ordnungsgemäße Erziehung und Bildung in der Schule auch ein Recht auf hinreichende individuelle Förderung in der Schule umfasst, wie es in § 1 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW normiert ist.

Der nordrhein-westfälische Runderlass des früheren Kultusministeriums vom 19.7.1991 über die Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens- und Rechtschreibens (LRS-Erlass) stellt eine sachverständige schulfachliche Konkretisierung des Anspruchs auf individuelle Förderung in der Schule dar.

Außerschulische Fördermaßnahmen, etwa im Rahmen der Eingliederungshilfe, zur Behebung einer Lese- und Rechtschreibschwäche haben grundsätzlich nicht zur Folge, dass schulische Fördermaßnahmen nach dem LRS-Erlass entbehrlich sind.

Bei einer dauerhaften Lese- und Rechtschreibschwäche ist dem Anspruch auf individuelle Förderung in der Schule nicht schon durch die Gewährung eines Nachteilsausgleichs genügt.

Fehlende schulische Kapazitäten für zusätzliche Fördermaßnahmen nach dem LRS-Erlass stehen dem Anspruch auf individuelle Förderung in der Schule allenfalls dann entgegen, wenn die Schule nachprüfbar darlegt, dass sie nicht über die erforderliche personelle und sächliche Ausstattung verfügt. Hat die Schule keine ausreichenden Kapazitäten für Fördermaßnahmen nach dem LRS-Erlass, kommt eine Verpflichtung der unteren Schulaufsichtsbehörde zur Errichtung einer schulübergreifenden Fördergruppe in Betracht.


Tatbestand:

Die Tochter D der Klägerin besuchte im Schuljahr 2005/06 die 7. Klasse der Realschule. Sie leidet an einer Lese- und Rechtschreibschwäche, die auch durch Teilnahme an außerschulischen Fördermaßnahmen nicht behoben werden konnte. In den Klassen 5 und 6 der Realschule nahm D an zusätzlichen schulischen Fördermaßnahmen auf der Grundlage des LRS-Erlasses teil. Aufgrund fehlender Kapazitäten ist die Realschule nicht in der Lage, ab Klasse 7 schulische Fördermaßnahmen anzubieten. D ist am Ende des Schuljahres 2006/07 nicht in die Klasse 8 versetzt worden. Im Schuljahr 2006/07 besuchte sie die Klasse 8 einer Waldorfschule. Nach erfolglos durchgeführtem Vorverfahren erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag festzustellen, dass die Nichtversetzung ihrer Tochter in die Klasse 8 der Realschule rechtswidrig war. Das VG lehnte den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Das OVG gab der Beschwerde statt.

Gründe:

Bei summarischer Prüfung spricht Überwiegendes für die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage. Nach der Rechtsprechung des BVerwG, Beschluss vom 24.10.2006 - 6 B 61.06 -, juris, Rdn. 5, reicht es für ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse regelmäßig aus, dass sich eine Nichtversetzung auf die weitere schulische oder berufliche Laufbahn des Schülers auswirken kann, solche Nachteile also nach gegenwärtigem Kenntnisstand jedenfalls nicht auszuschließen sind. Auf der Grundlage dieser Auffassung dürfte dem Fortsetzungsfeststellungsinteresse voraussichtlich nicht entgegenstehen, dass sich die schulische Laufbahn von D nach gegenwärtigem Kenntnisstand aufgrund der Nichtversetzung im Schuljahr 2005/06 nicht verlängern wird. Denn sie hat die Klasse 7 nicht wiederholt. Vielmehr ist sie zum Schuljahr 2006/07 zur Waldorfschule in B gewechselt und dort in die Klasse 8 aufgenommen worden. Allerdings genügt es für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses nach der Rechtsprechung des BVerwG, dass angesichts der starken Konkurrenz auf dem Ausbildungsmarkt nicht auszuschließen ist, dass sich ein Arbeitgeber im Falle einer Bewerbung um einen Ausbildungsplatz nach der gesamten Schullaufbahn erkundigen und dabei der Nichtversetzung in die Klasse 8 einer öffentlichen Schule ein mehr oder weniger großes Gewicht beimessen könnte. Diese (hypothetische) Gefahr einer negativen Schlussfolgerung aus einer Nichtversetzungsentscheidung, mag diese im Zeitpunkt der Bewerbung auch noch so weit zurückliegen, lässt sich in keinem Fall ausschließen und damit auch in Bezug auf D nicht.

Bei summarischer Prüfung ist darüber hinaus nicht ausgeschlossen, dass die Fortsetzungsfeststellungsklage begründet ist.

Mit Blick auf die Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss des VG ist zur Klarstellung zunächst darauf hinzuweisen, dass die Klägerin die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtversetzungsentscheidung im Schuljahr 2005/06 und nicht die Feststellung begehrt, dass ihre Tochter einen Anspruch auf Versetzung in die Klasse 8 hatte. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist damit auch dann begründet, wenn ein beachtlicher Verfahrensfehler der beklagten Schule vorliegt. Denn auch Verfahrensfehler, die für sich allein keinen Anspruch auf Versetzung, sondern allenfalls auf Wiederholung der bislang besuchten Klasse begründen, können die Rechtswidrigkeit der Nichtversetzung zur Folge haben.

Ein solcher Verfahrensfehler kommt hier in Betracht. Es spricht Überwiegendes dafür, dass jedenfalls der verfassungsrechtliche Anspruch der Klägerin und ihrer Tochter D auf ordnungsgemäße Erziehung und Bildung in der Schule (Art. 8 Abs. 1 Sätze 1 und 2 LV NRW, Art. 2 Abs. 1 und 6 Abs. 2 Satz 1 GG) auch ein subjektives Recht auf hinreichende individuelle Förderung in der Schule umfasst, wie es in § 1 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW in der seit dem 1.8.2006 geltenden Fassung des zweiten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes NRW normiert ist. Nach Aktenlage ist aber nicht ersichtlich, dass die beklagte Schule diesen Anspruch im Schuljahr 2005/06 hinreichend erfüllt hat.

Bei D lag unstreitig auch im Schuljahr 2005/06 eine schwere Lese- und Rechtschreibschwäche vor. Nach dem Protokoll der Klassenkonferenz vom 8.8.2006 konnte die Schwäche trotz der seit 2004 erfolgten schulischen und außerschulischen Fördermaßnahmen nicht behoben werden. Soweit ersichtlich erhält D auch weiterhin Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII in Form der Lerntherapie im Umfang von einer Behandlungsstunde (45 Minuten) pro Woche.

Welche individuellen Fördermaßnahmen aufgrund der Lese- und Rechtschreibschwäche von D im Schuljahr 2005/06 in Betracht kamen und notwendig waren, bestimmt sich nach dem nordrhein-westfälischen LRS-Erlass, der in Bezug auf die betroffenen Schüler auch eine sachverständige schulfachliche Konkretisierung des Anspruchs auf individuelle Förderung in der Schule darstellt. Dort ist sachverständig dargelegt, dass bei einer Lese- und Rechtschreibschwäche allgemeine, zusätzliche und außerschulische Fördermaßnahmen sowie ein Nachteilsausgleich bei der Leistungsfeststellung und -beurteilung in Betracht zu ziehen sind. Nach den Bestimmungen des LRS-Erlasses stehen diese Fördermaßnahmen nebeneinander, sie können sich ergänzen. So haben außerschulische Fördermaßnahmen (Nr. 2.6 des LRS-Erlasses) nicht zur Folge, dass schulische Fördermaßnahmen und der in Nr. 4 des LRS-Erlasses vorgesehene Nachteilsausgleich bei der Leistungsfeststellung und -beurteilung entbehrlich sind. Darüber hinaus hat auch ein Nachteilsausgleich, den die beklagte Schule D gewährt hat, grundsätzlich nicht zur Folge, dass daneben notwendige allgemeine (Nr. 2.2 des LRS-Erlasses) und/oder zusätzliche (Nr. 2.3 des LRS-Erlasses) Fördermaßnahmen nicht (mehr) erforderlich sind. Damit kann voraussichtlich die von den Beteiligten angesprochene Frage dahinstehen, ob der für D gewährte Nachteilsausgleich hinreichend war. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass ein erheblicher Verfahrensfehler der Schule, der die Rechtswidrigkeit der Nichtversetzung zur Folge haben kann, darin liegt, dass sie keine zusätzlichen Fördermaßnahmen für D durchgeführt hat und/oder ihr möglicherweise zuzurechnen ist, dass das Schulamt als zuständige untere Schulaufsichtsbehörde keine schulübergreifende Fördergruppe für Schüler mit einer Lese- und/oder Rechtschreibschwäche eingerichtet hat.

Nach Nr. 3. 1, 3. Spiegelstrich, des LRS-Erlasses kommen zusätzliche Fördermaßnahmen auch für Schülerinnen und Schüler der Klasse 7 in Betracht, wenn in Einzelfällen deren besondere Schwierigkeiten im Lesen oder Rechtschreiben bisher nicht behoben werden konnten; im Bedarfsfalle sollte hier eine schulübergreifende Fördergruppe eingerichtet werden. Diese Voraussetzungen für eine LRS-Förderung in der Klasse 7 lagen bei D im Schuljahr 2005/06 vor. Denn bei ihr waren nach den vorliegenden schulischen und außerschulischen Stellungnahmen weiterhin besondere Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben gegeben, die trotz der bislang erfolgten Fördermaßnahmen nicht behoben werden konnten. Ungeachtet der Frage, ob nach dem Wortlaut der Nr. 3.1, 3. Spiegelstrich, des LRS-Erlasses bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen nach Ermessen darüber zu entscheiden ist, ob zusätzliche Fördermaßnahmen durchgeführt werden, könnte bei summarischer Prüfung dieses Ermessen in Bezug auf D auf Null reduziert gewesen sein.

Angesichts des Fortbestehens der Lese- und Rechtschreibschwäche war und ist derzeit kein sachlich rechtfertigender Grund dafür ersichtlich, im Schuljahr 2005/06 keine zusätzlichen Fördermaßnahmen durchzuführen. Die Feststellung des Vorliegens eines besonders begründeten Einzelfalls im Sinne von Nr. 4 Abs. 2 des LRS-Erlasses war dafür nicht Voraussetzung. Der Nachteilsausgleich gemäß Nr. 4 des LRS-Erlasses dient als bloße Ausgleichsmaßnahme nicht der (dauerhaften) Behebung einer Lese- und Rechtschreibschwäche. Die außerschulische Förderung von D reichte (auch) im Schuljahr 2005/06 nicht aus, die vorhandene Lese- und Rechtschreibschwäche verlässlich und grundlegend zu beheben. Soweit die Schulleiterin darauf verweist, dass D ihr schulisches Lernen nicht hinreichend organisiert hatte, mag sein, dass bei einer entsprechenden Organisation D, wie die Schulleiterin geltend macht, D "das Lernen in der Schule schon ein ganzes Stück leichter gefallen" wäre. Dass eine nachhaltige Behebung der Lese- und Rechtschreibschwäche durch eine bessere Mitarbeit und Organisation des schulischen Lernens erreicht worden wäre, ist aber auch insoweit weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Dass D im Elternhaus nicht hinreichend gefördert worden ist, ist eine bloße Vermutung der Schulleiterin. Abgesehen davon ist angesichts der zahlreichen schulischen und außerschulischen Förderungen von D seit 2004 auch nicht ersichtlich, dass eine weitergehende Förderung von D im Elternhaus einen durchgreifenden Erfolg gezeigt hätte.

Ungeachtet der Frage, ob fehlende schulische Kapazitäten für zusätzliche Fördermaßnahmen im Sinne der Nr. 2.3 des LRS-Erlasses dem verfassungsrechtlichen Anspruch des Schülers und seiner Eltern auf ordnungsgemäße Erziehung und Bildung in der Schule entgegengehalten werden können, ist nach Aktenlage auch nicht ersichtlich, dass die beklagte Schule im Schuljahr 2005/06 nicht über die erforderlichen Kapazitäten zur Durchführung zusätzlicher Fördermaßnahmen verfügte. Nach den Angaben der Schulleiterin ist davon auszugehen, dass die beklagte Schule generell in oder ab Klasse 7 keine zusätzlichen Fördermaßnahmen durchführt. Nachprüfbare Unterlagen darüber, dass dies aus Kapazitätsgründen nicht möglich war und ist, liegen nicht vor. Insoweit ist es Sache der beklagten Schule, im laufenden Klageverfahren nachprüfbar darzulegen, dass die personelle und sächliche Ausstattung der Schule im Schuljahr 2005/06 nicht ausreichte, um in Einzelfällen zusätzliche Fördermaßnahmen, ggf. klassenübergreifend (Nr. 3.3 Abs. 2 des LRS-Erlasses), anzubieten.

Selbst wenn der Schule hierfür keine ausreichenden Kapazitäten zur Verfügung standen, ist damit allein der Verzicht auf zusätzliche Fördermaßnahmen nicht gerechtfertigt. Nach Nr. 3.1 bis 3.3 des LRS-Erlasses kommt auch die Einrichtung einer schulübergreifenden Fördergruppe in Betracht. Zuständig hierfür ist die untere Schulaufsichtsbehörde (Nr. 3.2 Abs. 3 des LRS-Erlasses). Dass im Zuständigkeitsbereich des Schulamtes im Schuljahr 2005/06 keine schulübergreifende Fördergruppe eingerichtet war, lässt sich den vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen. Sollte eine schulübergreifende Fördergruppe nicht eingerichtet worden sein, ist ggf. im laufenden Klageverfahren zu klären, ob in Bezug auf D ein der beklagten Schule zurechenbares Versäumnis der unteren Schulaufsichtsbehörde vorliegt. Ein solches Versäumnis kommt in Betracht, wenn der unteren Schulaufsichtsbehörde im Schuljahr 2005/06 ausreichende Mittel zur Errichtung einer schulübergreifenden Fördergruppe zur Verfügung standen oder die Beschaffung dahingehender Mittel mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Erziehungs- und Bildungsanspruch der Klägerin und ihrer Tochter erforderlich war. Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass angesichts der bekannten langjährigen Lese- und Rechtschreibschwäche von D die eventuell fehlende Einrichtung einer schulübergreifenden Fördergruppe nicht schon deshalb gerechtfertigt ist, weil nach Aktenlage die Klägerin die Einrichtung eines Förderkurses nicht im Sinne der Nr. 3.2 Abs. 6 des LRS-Erlasses bei der unteren Schulaufsichtsbehörde angeregt hat. Auch die beklagte Schule hätte dies etwa bei der nach Nr. 3.2 Abs. 5 des LRS-Erlasses vorgesehenen Meldung der geplanten zusätzlichen Fördermaßnahmen anregen können und eventuell müssen. Eine solche Anregung seitens der Schule ist aber nach Aktenlage nicht erfolgt.

Ende der Entscheidung

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