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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 01.02.2008
Aktenzeichen: 20 B 1889/07
Rechtsgebiete: GG, LuftSiG


Vorschriften:

GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2
LuftSiG § 14 Abs. 3,
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Sicherung eines Begehrens, das auf einen individuellen Rechtsanspruch darauf zielt, dass die Bundesrepublik Deutschland und ihre Organe generell, d.h. auch in Extremfällen, bei Betroffenheit des Antragstellers als Passagier eines von Terroristen entführten Flugzeuges dessen Abschuss nicht veranlasst, scheidet aus.

Es steht insoweit auch für regelmäßige Fugzeugnutzer keine irgendwie fassbare, den Erlass einer einstweiligen Anordnung unter zeitweiliger Vorwegnahme der Hauptsache erfordernde und rechtfertigende weitergehende Gefahr als das allgemeine Lebensrisiko in Rede, das jedermann erfasst und das etwa auch das Risiko einschließt, am Boden Opfer eines von Entführern herbeigeführten Flugzeugabsturzes zu werden.

Im Übrigen besteht kein Anordnungsanspruch, weil das Rechtsschutzersuchen denkbare Extremfälle umfasst, für die in Anbetracht der entstehenden Pflichtenkollision eine gerichtliche Vorabbindung der verantwortlichen staatlichen Entscheidungsträger von Verfassungs wegen nicht erlaubt ist. Es verbleibt in der Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland und der für sie handelnden Personen, ob sie sich, gegebenenfalls unter Inkaufnahme eines bloß entschuldigten Verhaltens, in den vorgestellten Extremsituationen für einen Abschuss des Flugzeuges entscheiden.


Gründe:

Die Beschwerde, mit welcher der Antragsteller seinen Antrag weiterverfolgt, der Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu untersagen, ein durch Terroristen entführtes Flugzeug, in welchem sich der Antragsteller befindet, durch Kräfte der Bundeswehr abschießen zu lassen, sofern es hierfür keine gesetzliche Grundlage gibt, der Verteidigungsfall nicht eingetreten ist und der Antragsteller seine Teilnahme an dem Flug der Antragsgegnerin mindestens zwölf Stunden vor Flugbeginn mittels Telefax angezeigt hat, hat keinen Erfolg. Denn das Verwaltungsgericht hat die begehrte einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zu Recht abgelehnt.

Der Antrag zielt auf die teilweise Erfüllung eines in der Hauptsache durch allgemeine Leistungsklage zu verfolgenden vorbeugenden Unterlassungsanspruchs. Dabei kann - was der Antragsteller mit seiner Antragsfassung berücksichtigt - schon nach dem Grundsatz des § 42 Abs. 2 VwGO von vornherein nur in Rede stehen, ein Begehren abzusichern, das auf einen nach der Rechtsordnung durchsetzbaren individuellen Rechtsanspruch darauf zielt, dass die Antragsgegnerin und ihre Organe - vorbehaltlich näher bezeichneter Fälle - generell, d.h. auch in vorgestellten Extremfällen, bei seiner, des Antragstellers, möglichen eigenen Betroffenheit als Passagier eines Flugzeuges dessen Abschuss nicht veranlassen. Ein solcher Anspruch ist angesichts des Diskussionsstandes in der Literatur im Anschluss an die genannte Entscheidung des BVerfG zu § 14 Abs. 3 LuftSiG, Urteil vom 15.2.2006 - 1 BvR 357/05 -, BVerfGE 115, 118, nicht von vornherein und nach jeder denkbaren Betrachtungsweise auszuschließen, sodass der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung im Kern statthaft ist. Indes läuft die begehrte einstweilige Anordnung, wenn auch nur für die Zeit bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren, auf die Vorwegnahme der Hauptsache hinaus, ohne dass die dafür bestehenden besonderen Anforderungen vorliegen. Der Antragsteller hat weder dargelegt noch ist sonst ersichtlich, dass unter den gegebenen Umständen ein Zuwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache für ihn unzumutbar ist. Allein der Blick und Verweis auf die Folgen einer Realisierung des durch den Abschuss eines Flugzeugs abzuwehrenden Geschehens reicht dazu nicht. Zwar beeinflusst das Gewicht eines drohenden Schadens, hier das Leben des Antragstellers als Passagier eines abzuschießenden Flugzeugs, die Anforderungen an die Nähe der Gefahr, doch kann beim vorbeugenden Unterlassungsanspruch, erst recht aber bei dessen vorläufiger Sicherung, auf eine Betrachtung der Realisierungschance nicht ganz verzichtet werden. Jedenfalls für eine im Rahmen des § 123 Abs. 1 VwGO, zumal bei zeitweiliger Vorwegnahme der Hauptsache, relevante dem Antragsteller aktuell drohende Rechtsbeeinträchtigung fehlt jeder vernünftige Anhalt. Die angeführten Äußerungen des Bundesministers der Verteidigung geben für eine besondere Aktualität der befürchteten Gefahrenlage ebenso wenig etwas her wie die allenthalben im öffentlichen Raum zitierte Terrorgefahr. Eine auf den Antragsteller zu beziehende Konkretisierung liegt völlig fern. Der Antragsteller unterliegt insoweit keiner irgendwie fassbaren weitergehenden Gefahr als dem allgemeinen Lebensrisiko, das jedermann erfasst und das etwa auch das Risiko einschließt, am Boden Opfer eines von Entführern herbeigeführten Flugzeugabsturzes zu werden. Der Umstand, dass er regelmäßig Flugzeuge nutzt, beeinflusst die Risikoeinschätzung schon deshalb nicht wesentlich, weil die auf Flughäfen weltweit zur Abwendung der in Rede stehenden Terrorszenarien ergriffenen Kontrollmaßnahmen zumindest zu einer Gefahrminimierung beitragen. Warum es dem Antragsteller unzumutbar sein sollte, die Klärung der Zulässigkeit und Begründetheit des vorbeugenden Rechtsschutzbegehrens im Hauptsacheverfahren abzuwarten, erschließt sich nicht, zumal es auch nur um einen Ausschnitt aus den vom Begehren umfassten spezifischen Gefährdungen gehen kann, nämlich diejenigen auf den Teilstrecken der Flüge des Antragstellers, die der Hoheit der Antragsgegnerin unterliegen.

Im Übrigen ist ein Anordnungsanspruch nicht dargelegt. Der geltend gemachte generelle und strikte Abwehranspruch findet in der Rechtsordnung keine Grundlage. Angesichts der Spannweite der vom Antrag trotz der vorgenommenen Einschränkung noch erfassten Szenarien lässt sich eine generelle Herleitung nicht auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG stützen. Das wäre nur der Fall, wenn der Antragsteller für jeden von seinem Antrag noch erfassten Fall aus den genannten Verfassungsnormen beanspruchen könnte, dass die Antragsgegnerin und ihre Organe einen Abschussbefehl unterlassen. Unter den denkbaren Fällen sind indes - ohne dass sie tatbestandlich umschrieben und ausgeschlossen werden könnten - auch solche, für die die zu betrachtende Pflichtenkollision keine Vorabbindung der verantwortlichen staatlichen Entscheidungsträger, wie sie der Antragsteller erstrebt, zulässt. Davon, dass es Konstellationen gibt, die sich einer normativen Regelung entziehen, aber dennoch eine Entscheidung von Verantwortungsträgern verlangen, geht auch das BVerfG in seiner oben bezeichneten Entscheidung zu § 14 Abs. 3 LuftSiG aus. Das betrifft etwa den durchaus vorstellbaren Fall, dass sicher absehbare Folgen eines terroristischen Angriffs wegen ihres Ausmaßes zum Schluss auf einen Angriff zwecks Beseitigung des Gemeinwesens und Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung führen. Entsprechendes gilt für den vom Bundesminister der Verteidigung streitanlassgebend vorgestellten Fall einer Flugzeugentführung, bei der nach menschlichem Ermessen keinerlei Zweifel daran bestehen kann, dass bei ungehindertem Kausalverlauf neben den unschuldigen Flugzeuginsassen durch die zu erwartende Vernichtung des Flugzeuges weitere unbeteiligte Personen am Boden den sicheren Tod finden werden.

Für diese Fälle ist - jedenfalls bei generalisierender Betrachtung - eine gerichtliche Verpflichtung der Antragsgegnerin, unter Ausblendung gegenläufiger Rechte und Schutzansprüche Dritter zugunsten einzelner im Flugzeug befindlicher Personen den Abschussbefehl zu unterlassen, von Verfassungs wegen nicht erlaubt. Der Antragsteller verlangt - bezogen auf die vorgestellten Extremsituationen - im Grunde nichts anderes, als dass der Staat einem konkreten terroristischen Geschehen letztlich tatenlos zusieht und ihn, den Antragsteller, als Geisel aufgrund des durch Terroristen in Gang gesetzten Kausalverlaufs zu Tode kommen läßt. Ein diesem Begehren korrespondierender Rechtsanspruch, der von vornherein jedwede Lebensinteressen vermutlich noch zu rettender Dritter ausblenden würde, lässt sich weder aus dem unbestreitbar schutzwürdigen Recht des Antragstellers ableiten, nicht Opfer einer vorsätzlichen Tötung zu werden, noch aus seinem Recht, nicht in menschenunwürdiger Weise zum Objekt staatlichen Handelns zu werden.

Vielmehr verbleibt es in der Entscheidung der Antragsgegnerin und der für sie handelnden Personen, ob sie sich, gegebenenfalls unter Inkaufnahme eines bloß entschuldigten Verhaltens, in den vorgestellten Extremsituationen für einen Abschuss entscheiden. Dabei gilt - wie der Fall Schleyer belegt -, vgl. BVerfG, Urteil vom 16.10.1977 - 1 BvQ 5/77-, BVerfGE 46, 160, dass eine solche gerichtliche Festlegung des staatlichen Handelns insbesondere deshalb nicht von Verfassungs wegen zugunsten Einzelner erfolgen darf, weil andernfalls die Reaktion des Staates und der für ihn Handelnden für Terroristen von vornherein kalkulierbar würde. Damit würde dem Staat der effektive Schutz seiner Bürger unzuträglich erschwert, was mit den Aufgaben, die ihm durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG generell gestellt sind, in unauflöslichem Widerspruch stünde. Eine derartige Lage herbeizuführen, ist den Gerichten untersagt, da sie im Verfassungsgefüge nicht befugt sind, Staat und Amtswalter aus ihrer verfassungsrechtlichen Verantwortung für das Gemeinwohl und für verfassungsmäßig verankerte Schutzansprüche der Bevölkerung allgemein zu entbinden. Deswegen kann auch der Anspruch potentieller Terroropfer am Boden auf staatliche Hilfsmaßnahmen mit Blick auf das Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht von vornherein und ohne weitere Betrachtung etwaiger Besonderheiten der je aktuellen Extremsituation generalisierend ausgeblendet werden. Auch das vitale Interesse der Bevölkerung an entschiedener Abwehr terroristischer Anschläge ist in diesem Zusammenhang zu bedenken. Schließlich liefe eine gerichtliche Festschreibung der tatenlosen Hinnahme von Terroranschlägen der vorgestellten Art auch darauf hinaus, die eventuelle Vorstellung und Bereitschaft mitbetroffener Flugzeuginsassen zu übergehen, nicht als bloßes Objekt und Mittel terroristischer Gewalt eines - zumal mit Blick auf die Folgen für weitere Menschenleben - sinnentleerten Todes zu sterben, sondern kurzfristig zwar früher, aber unter Rettung weiteren Lebens sinngebend zu sterben.

Bei alledem bestehen an der im Kern gleichwertigen Schutzwürdigkeit aller Betroffenen, die über die Verwendung des Flugzeuges als Waffe zu einer Art Gefahrengemeinschaft verbunden sind, keine Zweifel. Letztlich geht es um eine Kollision des unbedingten Anspruchs der Flugzeuginsassen auf Achtung ihrer Menschenwürde mit dem ebenso unbedingten Anspruch der sich am Zielort aufhaltenden Personen auf staatlichen Schutz davor, von den Terroristen als bloßes Mittel zur Erreichung deren terroristischer Ziele missbraucht zu werden, und den Anspruch der Bevölkerung im übrigen auf Erhalt der zentralen Werte des Staates. Dabei besteht die Besonderheit darin, dass es um keine Auswahlentscheidung im Sinne eines "entweder oder" geht. Vielmehr ist die Frage nach dem Einsatz eines einzig tauglichen Mittels zu beantworten, das diejenigen Menschenleben retten würde, die einzig zu retten sind, dies unter Inkaufnahme des Todes derjenigen, die nach dem - vorgestellten - sicheren Kausalverlauf in jedem Fall sterben würden.

Dass entsprechende Notstandsmaßnahmen privater Personen - bei gegebener Fallkonstellation je nach den Umständen des Einzelfalls - von der bestehenden Rechtsordnung akzeptiert wären, jedenfalls auf der Ebene des Schuld- bzw. Strafausschlusses, wird weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung ernsthaft in Frage gestellt. Für das Handeln staatlicher Amtswalter kann nichts anderes gelten. Denn in den vorgestellten Fällen ist der Staat unweigerlich involviert: Es geht um Fragen der öffentlichen Sicherheit und - was die Rechtsordnung vorhält - darum, im Rahmen möglicher Notstandsmaßnahmen über den Einsatz des einzig tauglichen Mittels zur Abwendung der Gefahrenlage, die von dem Flugzeug für die Bodenbevölkerung ausgeht, zu entscheiden. Dabei sind die unschuldigen Passagiere - über ihre Anwesenheit im Flugzeug - unwiederbringlich Teil der Waffe geworden.

Auch hier verbleibt allenfalls die Frage, auf welcher Ebene die Lösung einer zu Lasten des Antragstellers vorgestellten Konfliktentscheidung der Amtswalter der Antragsgegnerin zu finden wäre, nämlich auf der Ebene der Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns oder auf der Ebene des (strafrechtlichen) Schuld- bzw. Strafausschlusses. Für eine Lösung schon auf der Ebene der Rechtfertigung staatlichen Handels sprechen freilich die angeführte verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit des Staates sowie die Friedens- und Ordnungsfunktion der bestehenden Rechtsordnung. Einer weiteren Vertiefung bedarf es nicht, denn auch im anderen Fall der (bloßen) Akzeptanz einer Entscheidung allein auf der Ebene des Strafausschlusses bestünde keine tragfähige Grundlage für die begehrte Untersagung. Es ginge um einen rein akademischen Streit zu abstrakten Rechtsfragen. In den vorgestellten Extremfällen fehlt es eben wegen dieses Charakters der Situationen zwangsläufig an der (rechtstheoretischen) Herleitbarkeit eines absoluten und generellen Rechts auf Unterlassen bestimmten Verhaltens von Hoheitsträgern.

Ende der Entscheidung

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