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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 04.11.2003
Aktenzeichen: 22 B 1345/03
Rechtsgebiete: BauNVO, VwGO


Vorschriften:

BauNVO § 9
VwGO § 162 Abs. 3
1. Als Anlage für soziale Zwecke im Sinne des § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ist eine Asylbewerberunterkunft in einem Industriegebiet nicht zulässig, da sie mit der Zweckbestimmung des Gebiets nicht vereinbar ist.

2. Es entspricht nicht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten des beigeladenen Bauherrn für erstattungsfähig zu erklären, wenn die zur Kostentragung verpflichtete Baugenehmigungsbehörde für die Rechtsposition des Beigeladenen gestritten hat.


Tatbestand:

Die Beigeladenen und die Antragsteller sind Eigentümer von benachbarten Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Industriegebiet. Die Antragsteller betreiben auf ihren Grundstücken einen Speditionsbetrieb bzw. ein landwirtschaftliches Lohnunternehmen. Zu beiden Firmen gehören auch Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen. Die Antragsteller wandten sich erstinstanzlich erfolgreich gegen eine den Beigeladenen seitens des Antragsgegners erteilte Nutzungsänderungsgenehmigung für das Nachbargrundstück als Asylbewerberunterkunft. Der dagegen seitens des Antragsgegners eingelegten Beschwerde blieb der Erfolg versagt. Die Beigeladenen erklärten sich im Beschwerdeverfahren nicht.

Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung die Entscheidung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, gibt keinen Anlass, die Entscheidung des VG in Frage zu stellen. Der Senat teilt die Auffassung des VG, dass die Widersprüche der Antragsteller gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung voraussichtlich Erfolg haben wird, da diese gegen nachbarschützende, gerade zu Gunsten der Antragsteller wirkende Vorschriften verstößt. Die bei dieser Sachlage vorzunehmende allgemeine Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Antragsteller aus.

Bei der Beurteilung der hier allein in Streit stehenden bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit der beantragten Nutzung geht der Senat von der Wirksamkeit des für das Baugrundstück maßgeblichen Bebauungsplans vom 1.8.1968 aus. Dieser weist für das Baugrundstück sowie für die Grundstücke der Antragsteller ein Industriegebiet aus.

Unter dieser Prämisse verstößt die Baugenehmigung gegen den Anspruch der Antragsteller auf Einhaltung des Gebietscharakters.

Allerdings können in einem Industriegebiet gemäß § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO (in seit 1962 unveränderter Fassung) ausnahmsweise u.a. Anlagen für soziale Zwecke zugelassen werden. Bei der von den Beigeladenen geplanten Asylbewerberunterkunft dürfte es sich um eine solche Anlage handeln. Eine Wohnnutzung dürfte ausscheiden, weil deren Kriterien, eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts, vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.3.1996 - 4 B 302.95 -, NVwZ 1996, 893, nicht vorliegen. Die von den Beigeladenen nach den Vorstellungen des Antragsgegners geplante Asylbewerberunterkunft ist objektiv nicht für eine Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises geeignet und nach seinem Nutzungskonzept hierfür auch nicht bestimmt. Die Zimmer für die Asylbewerber sollen zwar mit einer Kochgelegenheit ausgestattet werden. Es fehlen in den Zimmern aber sanitäre Einrichtungen. Diese stehen allen Asylbewerbern nur zentral zur Verfügung. Sonstige Aufenthaltsräume für die Asylbewerber fehlen. Die Unterbringung der Asylbewerber ist damit ersichtlich nicht auf Häuslichkeit und Eigengestaltung angelegt. Sie erfolgt zudem zwangsweise und ist insoweit auch - anders als der Regelfall einer Wohnnutzung - von vornherein auf die Dauer des Asylverfahrens, selbst wenn dieses sich über Jahre hinziehen kann, beschränkt.

Als Anlage für soziale Zwecke im Sinne des § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO kann eine Asylbewerberunterkunft in einem Industriegebiet aber nur zulässig sein, wenn sie gebietsverträglich ist, d.h. wenn sie mit der Zweckbestimmung des Gebiets vereinbar ist. Die Gebietsverträglichkeit ergibt sich nicht bereits daraus, dass Anlagen für soziale Zwecke in Industriegebieten ausnahmsweise zulässig sind. Vielmehr besteht zwischen der jeweiligen spezifischen Zweckbestimmung des Baugebietstypus und dem jeweils zugeordneten Ausnahmekatalog ein funktionaler Zusammenhang. Daher ist auch die normierte allgemeine Zweckbestimmung eines Industriegebiets für die Auslegung und Anwendung der tatbestandlich normierten Ausnahmen bestimmend.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.3.2002 - 4 C 1.02 -, BVerwGE 116, 155, 158, Beschluss vom 13.5.2002 - 4 B 86.01 -, BauR 2002, 1499, 1500.

Industriegebiete dienen ausschließlich der Unterbringung von Gewerbebetrieben (§ 9 Abs. 1 BauNVO) und zwar vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind. Sie sind die immissionsstärksten und störungsunempfindlichsten Baugebiete, die die Bauantragsverordnung kennt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.2.2000 - 4 C 23.98 -, BRS 63 Nr. 80.

In Abgrenzung zu den anderen Baugebietsarten dienen sie mehr noch als die Gewerbegebiete der Unterbringung von gewerblichen Nutzungen. Dies ergibt sich eindeutig daraus, dass in § 9 Abs. 1 BauNVO von der ausschließlichen Unterbringung von Gewerbebetrieben die Rede ist. Jede andere Nutzung ist aus den allgemeinen Zulassungstatbeständen in § 9 Abs. 2 BauNVO ausgeschlossen. Die erheblich belästigenden Betriebe müssen im Verhältnis zu den anderen Betrieben nach Umfang und Gewicht überwiegen. Die anderen Betriebe müssen ihrerseits in einem Gewerbegebiet zulässig sein. Gewerbliche Nutzungen, die in einem Gewerbegebiet wegen ihrer Wohnartigkeit ausgeschlossen sind, sind in einem Industriegebiet erst recht unzulässig.

Vgl. Gelzer/Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 6. Auflage 2001, Rdnrn. 1732 ff.

Daraus folgt, dass das genehmigte Vorhaben in einem Industriegebiet nicht (ausnahmsweise) zugelassen werden kann. Als Unterkunft für Menschen, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben, verträgt sie sich nicht mit emissionsstarken, störungsintensiven Gewerbebetrieben, wie sie bei der gebotenen abstrakt-typisierenden Betrachtung in einem Industriegebiet zulässig sind. Selbst wenn Asylbewerberunterkünfte nicht dem Wohnen dienen, stehen sie dieser Nutzungsart erheblich näher als einer industriegebietstypischen gewerblichen Nutzung.

Dem Wohnen in einem Industriegebiet dienen zwar auch die dort ebenfalls nur ausnahmsweise zulässigen Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter (§ 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO). Ihre Errichtung ist aber nur zulässig, wenn sie Gewerbebetrieben zugeordnet sind. Außerdem müssen sie dem Gewerbebetrieb gegenüber in Grundfläche und Baumasse untergeordnet sein. Sie sind daher nur bei unabweisbaren betrieblichen Bedürfnissen oder bei persönlicher Gebundenheit des Betriebsinhabers oder -leiters an den Betrieb gerechtfertigt. Ihre Nutzung durch andere als die angeführten Personen - und ihre Familienangehörigen - ist grundsätzlich unzulässig, da es das planerische Bestreben der Bauantragsverordnung ist, Industriegebiete von einer Wohnnutzung möglichst frei zu halten. Ihnen steht auch nur ein geringerer Schutz gegen Immissionen zu als den sonstigen Wohnungen, denn sie müssen sich mit der Immissionsbelastung abfinden, die generell in einem Industriegebiet zulässig ist, so bereits BVerwG, Urteil vom 16.3.1984 - 4 C 50.80 -, BRS 42 Nr. 73.

Bei einer Asylbewerberunterkunft fehlt es ersichtlich an einem solchen funktionalen Zusammenhang zwischen der Unterbringung von Menschen und einem Gewerbebetrieb.

Mit seiner Auffassung zur Unverträglichkeit einer Asylbewerberunterkunft mit einem Industriegebiet setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zum Beschluss des 10. Senats dieses Gerichts vom 27.8.1992 im Verfahren 10 B 3439/92 (NVwZ 1993, 279), in dem nachbarliche Abwehrrechte gegen zwei Wohncontainer für Asylbewerber durch Antragsteller, deren Grundstücke in eingeschränkten Industriegebieten lagen, geltend gemacht und verneint wurden. Dieser Sachverhalt ist bereits nicht mit dem vorliegenden vergleichbar, weil der Bebauungsplan Le-2 für das Industriegebiet keine Nutzungsbeschränkungen festlegt. Die Ausführungen des 10. Senats beziehen sich außerdem ausschließlich auf das einzelfallbezogen anzuwendende Gebot der Rücksichtnahme.

Eines Eingehens auf dieses Rechtsinstitut bedarf es vorliegend nicht mehr, weil sich die Baugenehmigung bereits - wie dargelegt - unabhängig von den besonderen Umständen des Einzelfalls als mit der Zweckbestimmung des Industriegebiets nicht vereinbar erweist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, entspricht nicht der Billigkeit im Sinne des § 162 Abs. 3 VwGO. Die Beigeladenen waren im Beschwerdeverfahren zwar notwendig beizuladen, der zur Kostentragung verpflichtete Antragsgegner stritt aber für ihre Rechtsposition, die sie selbst nicht aufgaben, so dass es nicht gerechtfertigt ist, den Antragsgegner auch mit den den Beigeladenen entstandenen Kosten zu belasten.

Ende der Entscheidung

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