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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 29.09.2004
Aktenzeichen: 3 A 1787/02
Rechtsgebiete: BBauG/BauGB, AO, prKAG, KAG NRW, GO NRW


Vorschriften:

BBauG/BauGB § 127 Abs. 1
BBauG/BauGB § 133 Abs. 3
AO § 130 Abs. 2
prKAG
KAG NRW § 26 Abs. 2
GO NRW a.F. § 56 Abs. 1
Zur Wirksamkeit eines Ablösungsbescheides über den Erschließungsbeitrag, dessen Ablösebetrag die "Missbilligungsgrenze" für Ablösungen unterschreitet (zu BVerwG, Urteil vom 9.11.1990 - 8 C 36.89 -, DVBl 1991, 447).
Tatbestand:

Der Beklagte veranlagte die Kläger mit Bescheid vom 27.10.2000 zu einem Erschließungsbeitrag von ca. 9.200 DM; hierauf rechnete er 2.050 DM an, die von der Voreigentümerin der Kläger im Jahre 1969 aufgrund eines Ablösungsbescheides gezahlt worden waren; zur Begründung führte er an, auf die Beitragsablösung im ganzen könnten sich die Kläger nicht mehr berufen, weil der im Ablösungsbescheid bestimmte Ablösebetrag die sog. Missbilligungsgrenze für Ablösungen unterschreite. Das VG gab der Klage gegen die 2.050 DM übersteigende Beitragsforderung statt; die Berufung des Beklagten wurde vom OVG zurückgewiesen.

Gründe:

Der Senat ist mit dem VG der Auffassung, dass der Beklagte durch den Ablösungsbescheid vom 4.11.1969 einen Beitragsverzicht wirksam ausgesprochen hat und dass er an diesen Verzicht weiterhin gebunden ist.

Das Schreiben des Beklagten vom 4.11.1969 an die E.-eGmbH enthält einen Verwaltungsakt, was schon die Bezeichnung als "Bescheid" und die Beifügung einer Rechtsmittelbelehrung nahelegen. Inhalt ist eine Regelung, nämlich die Entscheidung, dass das Flurstück 366 mit der Zahlung von 2.050 DM "von der Erschließungsbeitragspflicht endgültig freigestellt" wird. Die Wirksamkeit dieser Regelung hing nicht von der Beachtung der Formvorschriften ab, die für Verpflichtungserklärungen der Gemeinde gelten (§ 56 Abs. 1 GO a.F.: Doppelzeichnung durch den Gemeindedirektor oder seinen Stellvertreter und einen vertretungsberechtigten Beamten oder Angestellten): Weil für den Eintritt der Ablösungswirkung ausweislich des Bescheides kein (weiteres) Handeln des Beklagten, sondern lediglich ein Handeln der damaligen Grundstückseigentümerin erforderlich sein sollte (die Zahlung des Ablösebetrages), begründete der Bescheid keine Verpflichtung der Gemeinde, sondern bestimmte im voraus (i. S. einer bedingten Verfügung) das Nichtentstehen des künftigen Erschließungsbeitragsanspruchs der Stadt E.. Da der Ablösebetrag weniger als die Hälfte des später festgestellten Erschließungsbeitrags ausmacht, vertritt der Beklagte die Auffassung, dass dieser Beitragsverzicht nach Maßgabe der Rechtsprechung zur sog. Missbilligungsgrenze zu beurteilen ist, die das BVerwG in Auslegung des § 127 Abs. 1 BBauG/BauGB konkretisiert hat (Urteil vom 9.11.1990 - 8 C 36.89 -, DVBl 1991, 447). Ob dies der Fall ist mit der Folge, dass der Ablösungsbescheid vom 4.11.1969 (nunmehr) rechtswidrig wäre, kann aber offenbleiben (wie sich aus Nachfolgendem ergibt).

Die Frage, ob ein etwaiger Rechtsverstoß des Ablösungsbescheides dessen Nichtigkeit oder (allenfalls) dessen Aufhebbarkeit zur Folge hat, beantwortet sich allerdings nicht aus § 125 AO (wie das VG annimmt). Bei Erlass des Ablösungsbescheides im Jahre 1969 galten nämlich weder die Abgabenordnung 1977 noch die Neufassung des § 12 KAG NRW, auf der die entsprechende Anwendung der neuen Abgabenordnung und insbesondere des § 125 AO beruht. Ausdrückliche Regelungen der Fehlerfolgen sind im vormaligen Kommunalabgabenrecht nicht zu finden, insbesondere nicht in dem am 1.1.1970 außer Kraft getretenen preußischen Kommunalabgabengesetz vom 14.7.1893 (- GS 152 -, vgl. § 26 Abs. 2 KAG NRW vom 21.10.1969, GV NW 712). Diese Frage ist somit zu beantworten in Anwendung ungeschriebener Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts, die insbesondere durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind. Diese Grundsätze fungieren hier als Teil des Landesrechts.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.10.1983 - 8 C 174.81 -, DVBl 1984, 192.

Ihre Anwendung ist nicht durch § 127 Abs. 1 BBauG/BauGB ausgeschlossen, dessen Regelung einer Beitragserhebungspflicht gegenteiligem Landesrecht vorgeht, welches eine Gemeinde daran hindern könnte, den noch nicht durch einen Beitragsbescheid erfassten Teil eines Erschließungsbeitragsanspruchs im Wege der Nacherhebung auszuschöpfen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.3.1988 - 8 C 92.87 -, DVBl 1988, 899 (zu §§ 172 ff AO); vgl. aber auch das Urteil des Senats vom 19.7.1990 - 3 A 2934/86 -, NVwZ-RR 1991, 265 (zu § 128 AO).

Denn die hier heranzuziehenden ungeschriebenen Grundsätze stehen nicht der Durchsetzung eines bestehenden Beitragsanspruchs im Weg, sondern beantworten die sich vorab ergebende Frage, ob ein Erschließungsbeitragsanspruch überhaupt zur Entstehung gelangt ist angesichts der Erfüllung eines Tatbestandes, der nicht im Bundesbaugesetz bzw. Baugesetzbuch geregelt ist. Diese Frage ist ebenso vom Landesrecht zu beantworten wie die insoweit vergleichbaren Fragen der Verjährung oder der Verwirkung der gemeindlichen Erschließungsbeitragsansprüche.

Vgl. zu Letzterem BVerwG, Beschluss vom 26.2.1991 - 8 B 25.91 -, Buchholz 406.11 § 133 BauGB Nr. 111, sowie Urteil vom 14.8.1987 - 8 C 60.86 -, KStZ 1987, 211. Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 21.10.1983, a.a.O.: Vorausverzicht auf Kanalherstellungsbeitrag durch gesetzwidrigen, aber nicht nichtigen Verwaltungsakt steht einer Beitragsveranlagung entgegen; vgl. ferner Nds. OVG, Urteile vom 11.6.1985 - 9 A 5/82 -, NVwZ 1986, 780, und vom 2.11.2000 - 9 L 2432/99 -, NVwZ-RR 2001, 599 (zum Vorausverzicht).

Nach den somit hier anzuwendenden ungeschriebenen Grundsätzen führte nicht allein schon das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage zur Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes; diese Rechtsfolge trat vielmehr nur ein, wenn ein besonders schwerer Form- oder Inhaltsfehler vorlag, der zudem für einen "urteilsfähigen" Bürger offensichtlich sein musste.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 7.10.1964 - VI C 59.63 - 64.63 -, DVBl 1965, 159 = BVerwGE 19, 284, und vom 22.2.1985 - 8 C 107.83 -, DVBl 1985, 624 (jeweils m.w.N.); vgl. zur sog. Evidenztheorie Redeker/v. Oertzen, VwGO-Komm., 5. Aufl. 1975, § 42 Rn. 110, sowie Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, § 51 I c) 4 (jeweils m.w.N.); vgl. auch Hatschek/Kurtzig, Lehrbuch des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, 7./8. Aufl. 1931, S. 102 f.

Nach Maßgabe dieser "allgemeinen Grundsätze" wäre allenfalls "schlichte" Rechtswidrigkeit (Anfechtbarkeit) des Ablösungsbescheides anzunehmen, nicht jedoch dessen Nichtigkeit.

Indem der Stadtdirektor der Stadt E. im November 1969 die Ablösung durch Bescheid vornahm, anstatt einen Ablösungsvertrag mit der Voreigentümerin der Kläger zu schließen, hat er zwar möglicherweise einen Fehler in der Wahl der Handlungsform begangen. Ob dieser Fehler besonders schwer wiegt, kann aber offenbleiben. Denn er wäre für die Voreigentümerin, eine Baugenossenschaft eGmbH, jedenfalls nicht offensichtlich gewesen: Der Gesetzeswortlaut sagte nichts über die Handlungsform im Falle einer Ablösung (§ 133 Abs. 3 BBauG, nunmehr § 133 Abs. 3 BauGB) und die Einengung auf die Handlungsform "Vertrag" kann allenfalls späterer Rechtsprechung des BVerwG entnommen werden.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 27.1.1982 - 8 C 24.81 -, DVBl 1982, 550, und vom 1.12.1989 - 8 C 44.88 -, KStZ 1990, 89.

Bedenken gegen die Wirksamkeit des Ablösungsbescheides sind des weiteren nicht aus der Rechtsprechung herzuleiten, nach der Ablösungsverträge nur wirksam sind, wenn der Ablösebetrag in Übereinstimmung mit zuvor erlassenen wirksamen Ablösungsbestimmungen ermittelt wurde,

vgl. Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 7. Aufl., § 22 Rn. 11 ff. (m.w.N.).

Solche Bestimmungen waren in § 13 der Erschließungsbeitragssatzung (EBS) 1962 enthalten. Der Stadtdirektor hat gemäß § 13 Abs. 3 EBS 1962 den voraussichtlichen Aufwand anhand der damaligen Kosten vergleichbarer Straßen ermittelt und (mit Rücksicht auf eingeschossige Bebauung auf allen Grundstücken) nach den Grundstücksflächen verteilt. Da insoweit ein Fehler nicht ersichtlich ist, kann offenbleiben, ob die genannte Rechtsprechung zur Handlungsform und zur notwendigen Übereinstimmung einer Ablösung mit Ablösungsbestimmungen (§ 133 Abs. 3 BauGB/BBauG) auf den hier vorliegenden Ablösungsbescheid zu übertragen ist und welche rechtlichen Folgen ein ggf. anzunehmender Rechtsverstoß haben würde.

Schließlich ist als Inhaltsfehler des Ablösungsbescheides in Betracht zu ziehen, dass der durch ihn festgesetzte Ablösebetrag die sog. Missbilligungsgrenze deutlich unterschreitet. Auch insoweit ist schon zweifelhaft, ob dies als besonders schwerer Inhaltsfehler im Sinne der dargestellten "allgemeinen Grundsätze" anzusehen wäre, da das Abgabenrecht mit Rücksicht auf Belange des Abgabenpflichtigen und der Allgemeinheit (Rechtssicherheit und Vertrauensschutz) durchaus "irreguläre" Wege eröffnet, auf denen eine Gemeinde trotz Beitragserhebungspflicht ihren Beitragsanspruch verlieren kann (z.B. durch Verjährung oder Verwirkung).

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.2.1991 - 8 B 25.91 -, a.a.O.

Denn ein solcher Inhaltsfehler wäre jedenfalls für die Adressatin des Ablösungsbescheides nicht offensichtlich gewesen: Da der Beklagte den Ablösebetrag an den nach damaligem Ausbaustandard zu erwartenden Herstellungskosten orientiert hatte, konnte die Baugenossenschaft nicht ohne weiteres vorhersehen, dass ein deutliches Missverhältnis zwischen dem festgesetzten Ablösebetrag und dem über 30 Jahre später im Jahre 2000 errechneten Erschließungsbeitrag eintreten würde. Schon gar nicht konnte sie ahnen, dass der Ablösebetrag eine Grenze unterschreiten würde, welche von dem für das Erschließungsbeitragsrecht zuständigen 8. Senat des BVerwG über 20 Jahre nach der Ablösung außerhalb des geschriebenen Gesetzes richterrechtlich gefunden worden ist und sich bis heute noch nicht zu einer Rechtsprechung gefestigt hat, die allgemein (auch vom nunmehr zuständigen 9. Senat) anerkannt wäre.

Aus Vorstehendem geht hervor, dass die Stadt E. durch den Ablösungsbescheid vom 4.11.1969 wirksam auf weitergehende Erschließungsbeitragsansprüche verzichtet hat. Wie sich schon aus der Fassung des Bescheides ergibt, wirkt dieser Verzicht für die Baugenossenschaft und danach auch zu Gunsten der Kläger als Grundstückseigentümer. Da mit dem VG anzunehmen ist, dass die in § 130 Abs. 2 AO geregelten Voraussetzungen für eine Rücknahme dieses verzichtenden Verwaltungsakts nicht erfüllt sind, und zudem der Beklagte (von der Nichtigkeit des Ablösungsbescheides ausgehend) keinen Rücknahmewillen hatte, kann unerörtert bleiben, ob der angefochtene Beitragsbescheid unter anderen Voraussetzungen im Sinne einer stillschweigenden Rücknahme des Ablösungsbescheides hätte ausgelegt oder umgedeutet werden können.



Ende der Entscheidung

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