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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 31.08.2007
Aktenzeichen: 6 A 2321/06
Rechtsgebiete: LBG NRW, BVO NRW


Vorschriften:

LBG NRW § 88
BVO NRW § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Buchstabe e)
§ 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Buchstabe e) BVO NRW in der in den Jahren 2004 bis 2006 geltenden Fassung schließt Aufwendungen für Arzneimittel, die überwiegend der Behandlung der erektilen Dysfunktion dienen, nicht wirksam von der Beihilfefähigkeit aus. Er ist wegen fehlender gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig.
Tatbestand:

Nach einer Prostataoperation leidet der beihilfeberechtigte Kläger an erektiler Dysfunktion. Fachärztlich wurde ihm Alprostadil ("MUSE"; ähnlich wirkend: "Caverject", "Viridal") verordnet. Wie die zur Wirkstoffgruppe der Phosphodiesterase-5-Hemmer zählenden Medikamente "Viagra", "Levitra", "Cialis" dient es überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion. Das beklagte Land lehnte eine Beihilfe zu den für das Medikament entstandenen Aufwendungen ab. Nach dem von 2004 bis 2006 geltenden § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Buchstabe e) BVO NRW seien Medikamente, die überwiegend der Behandlung der erektilen Dysfunktion dienten, von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen. Das VG gab der Klage statt. Es stützte sich auf eine fehlende Ermächtigungsgrundlage für den Beihilfeausschluss und den Verstoß gegen die aus Art. 33 Abs. 5 GG folgende Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Das beklagte Land berief sich im Berufungsverfahren darauf, auch in der gesetzlichen sozialen Krankenversicherung seien diese Medikamente von der Leistung ausgeschlossen. Außerdem ergäben sich Regelungsschwierigkeiten, weil die Häufigkeit der Anwendung allein vom Beihilfeberechtigten bestimmt werde. Die Berufung hatte keinen Erfolg.

Gründe:

§ 88 Satz 1 und 2 LBG NRW verleiht den Beihilfeberechtigten unter anderem in Krankheitsfällen einen gesetzlichen Anspruch auf Beihilfe zu ihren notwendigen und angemessenen Aufwendungen. Dem beihilfeberechtigten Kläger steht zu seinen Aufwendungen für das Medikament "MUSE" nach § 88 Satz 1 und 2 LBG ein Beihilfeanspruch zu, weil sie in diesem Sinne notwendig und angemessen sind. Bei der erektilen Dysfunktion handelt es sich im Fall der Klägers um ein in Folge der Prostataoperation aufgetretenes krankhaftes Leiden, das mit dem ärztlich verordneten Arzneimittel "MUSE" zeitweise gelindert wird. Eine preiswertere Ersatzbehandlung ist nicht erkennbar.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 30.10.2003 - 2 C 26.02 -, BVerwGE 119, 168; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 15.12.2006 - 2 A 1115/06 -, ZBR 2007, 170.

§ 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Buchstabe e) BVO NRW in der in den Jahren 2004 bis 2006 geltenden Fassung schließt zwar i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 7 und 8 SGB V Aufwendungen für Arzneimittel, die überwiegend der Behandlung der erektilen Dysfunktion dienen, von der Beihilfefähigkeit aus. Die Ausschlussregelung ist jedoch unwirksam. Sie beruht nicht auf einer gesetzlichen Ermächtigung und entspricht damit nicht den Anforderungen des Art. 70 Verf. NRW an eine Rechtsverordnung. § 88 Satz 4 und 5 LBG NRW stellen insofern keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage dar.

§ 88 Satz 4 LBG NRW ermächtigt das Finanzministerium, das Nähere durch Rechtsverordnung zu regeln. Nach § 88 Satz 5 LBG NRW kann in der Rechtsverordnung unabhängig von der Notwendigkeit und Angemessenheit der Kosten die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen bei zahnärztlichen Leistungen, bei Beschäftigung von Pflegekräften und Hauspflegekräften, bei Hilfsmitteln, bei Aufenthalten in Sanatorien und Heimen, bei Heilkuren, bei Behandlungen außerhalb des Wohnortes des Beihilfeberechtigten sowie in Todesfällen begrenzt werden; daneben kann der Beihilfeberechtigte über die Eigenvorsorge hinaus zu einer vertretbaren Selbstbeteiligung an den Kosten herangezogen werden.

Der Beihilfeausschluss lässt sich nicht auf die spezielle Ermächtigung des § 88 Satz 5 Halbsatz 1 LBG NRW stützen. Dort ist im Einzelnen aufgeführt, zu welchen Aufwendungsarten die Beihilfe unabhängig von Notwendigkeit und Angemessenheit begrenzt werden kann. Aufwendungen für Arzneimittel gehören nicht dazu. Angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift ist die Aufzählung der Begrenzungsmöglichkeiten abschließend und kann nicht im Wege der erweiternden Auslegung auf Arzneimittel ausgedehnt werden. Im Übrigen darf der Verordnungsgeber die Beihilfe für die in § 88 Satz 5 Halbsatz 1 LBG NRW aufgeführten Aufwendungsarten lediglich begrenzen, aber nicht vollständig ausschließen.

Vgl. VG Arnsberg, Urteil vom 19.12.2006 - 13 K 3613/06 -.

Die Regelung des § 88 Satz 5, 2. Halbsatz LBG NRW kommt als Ermächtigungsgrundlage ebenfalls nicht in Betracht. Sie gestattet lediglich die Heranziehung der Beihilfeberechtigten zu einer vertretbaren Selbstbeteiligung; die Norm ist auf die Einführung der Kostendämpfungspauschale (vgl. § 12a BVO NRW) zugeschnitten und erlaubt keine Ausschlussregelung für einzelne Aufwendungen.

Vgl. LT-Drs. 12/3300 S. 54, 57; LT-Drs. 12/3400; LT-Vorlage 12/2301; LT-Vorlage 12/2404; LT-Drs. 13/2800 S. 35; Ausschussprotokoll 13/695 S. 16.

Die Ausnahme der umstrittenen Arzneimittelgruppe von der Beihilfefähigkeit lässt sich auch nicht als nähere Regelung der notwendigen und angemessenen Aufwendungen im Sinne von § 88 Satz 2 Halbsatz 1 LBG NRW verstehen, zu der § 88 Satz 4 LBG NRW allgemein ermächtigt.

Ob Aufwendungen notwendig und damit dem Grunde nach beihilfefähig sind (vgl. auch § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO NRW), richtet sich danach, ob sie medizinisch geboten sind.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23.5.2007 - 6 A 1959/05 -.

Dies richtet sich in aller Regel nach der Beurteilung des behandelnden Arztes.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.6.1995 - 2 C 15.94 -, NJW 1996, 801.

Ohne Einfluss auf das medizinische Gebotensein und damit die Notwendigkeit der Aufwendungen bleibt die Möglichkeit des Erkrankten zu vermeiden, dass sein ansonsten körperlich beschwerdefreier Zustand in ein aktuelles Leiden umschlägt und damit konkret behandlungsbedürftig wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn er dadurch - wie hier - im Kernbereich der Entfaltung seiner Persönlichkeit berührt würde. Die Möglichkeit, dauerhaft sexuell enthaltsam zu leben, stellt die Behandlungsbedürftigkeit der erektilen Dysfunktion und damit die Notwendigkeit der Aufwendungen zu ihrer Linderung demnach nicht in Frage.

Weil § 4 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 Buchstabe e) BVO NRW nicht an die medizinische Indikation anknüpft, sondern unabhängig davon Arzneimittel, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion dienen, in jedem Fall von der Beihilfe ausschließt, erweist sich die Vorschrift nicht als nähere Bestimmung der Notwendigkeit von Aufwendungen im Sinne des § 88 Satz 2 LBG NRW.

Der Ausschlusstatbestand kann auch nicht als nähere Regelung des Merkmals "angemessen" aufgefasst werden. Nach dem in § 3 Abs. 1 Einleitungssatz BVO NRW bestätigten Verständnis von § 88 Satz 2 Halbsatz 1 LBG NRW sind auch die notwendigen Aufwendungen nur "in angemessenem Umfange" beihilfefähig. Zur näheren Bestimmung der Angemessenheit darf der Verordnungsgeber auf der Grundlage von § 88 Satz 4 LBG NRW Kriterien aufstellen, nach denen er die Beihilfefähigkeit notwendiger Aufwendungen quantitativ begrenzt. Bezugspunkt ist dabei nach der Vorgabe von § 88 Satz 2 LBG NRW, der im Hinblick auf die Angemessenheit Inhalt, Zweck und Ausmaß dieser Ermächtigungsnorm festlegt, die einzelne Aufwendung. Ein vollständiger Ausschluss der Beihilfefähigkeit notwendiger Aufwendungen überschreitet diesen vorgegebenen Rahmen jedoch, weil er keine quantitative Regelung darstellt. Werden notwendige Aufwendungen in jedem Umfang für unangemessen erklärt, liegt darin bereits begrifflich keine Regelung der Angemessenheit mehr.

Ende der Entscheidung

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