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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 02.02.2007
Aktenzeichen: 6 B 2767/06
Rechtsgebiete: VO, GG


Vorschriften:

VO über die Ausbildung und die II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen § 21 Abs. 3
GG Art. 3 Abs. 1
1. Der krankheitsbedingte Rücktritt von der Laufbahnprüfung ist auch ohne ausdrückliche Regelung in der für den Rücktritt maßgeblichen Vorschrift des § 21 Abs. 3 der Verordnung über die Ausbildung und die II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen unverzüglich zu erklären. Diese Obliegenheit des Prüflings zur Mitwirkung findet ihren Rechtsgrund in dem auch im Prüfungsrechtsverhältnis geltenden Grundsatz von Treu und Glauben in Verbindung mit dem Gebot der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG).

2. Müssen sich dem Prüfling nachträglich Zweifel hinsichtlich seiner - für ihn zunächst nicht erkennbaren - Prüfungsfähigkeit in einer zurückliegenden Prüfung einstellen, so ist er verpflichtet, sich unverzüglich Klarheit über seine damalige Prüfungsfähigkeit zu verschaffen und im Falle der Bestätigung dieser Zweifel umgehend den Rücktritt von der Prüfung zu erklären. Diese Verpflichtung ergibt sich aufgrund der auf dem Grundsatz von Treu und Glauben beruhenden Obliegenheit zur Mitwirkung an der Prüfung.


Tatbestand:

Die Antragstellerin ist Polizeibeamtin im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen und begehrte im Wege der einstweiligen Anordnung ihre vorläufige Zulassung zur Wiederholungsklausur im Fach "Verkehrslehre/Verkehrsrecht" im Rahmen der II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordhrein-Westfalen. Den Erstversuch der Klausur am 26.6.2006 hatte sie ausweislich einer zahnärztlichen Stellungnahme wegen einer akuten Entzündung eines Backenzahnes unter dem Einfluss von Medikamenten mit erheblichen Nebenwirkungen absolviert. Auf eine möglicherweise bestehende Prüfungsunfähigkeit berief sich die Antragstellerin weder am Prüfungstag noch in den darauf folgenden Wochen. Erst nach Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse am 14.8.2006 erklärte sie den Rücktritt von der Prüfung, den der Antragsgegner mangels Unverzüglichkeit nicht genehmigte. Das VG lehnte den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Mit der dagegen eingelegten Beschwerde machte die Antragstellerin geltend, sie habe aufgrund der erheblichen Nebenwirkungen der Medikamente ihre Leistungsfähigkeit nicht zutreffend einschätzen können, so dass ihr ihre Prüfungsfähigkeit erst mit Bekanntgabe der Ergebnisse bewusst geworden sei. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Die Antragstellerin hat auch im Beschwerdeverfahren keinen Anordnungsanspruch gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 ZPO glaubhaft gemacht, der gegebenenfalls in der sich aus dem erstinstanzlich gestellter Antrag ergebenden Form zu sichern wäre.

Das VG ist davon ausgegangen, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf Genehmigung des Rücktritts von der schriftlichen Prüfung im Fach Verkehrslehre/Verkehrsrecht glaubhaft gemacht habe. Zwar spreche Vieles dafür, dass sie zum Zeitpunkt der Anfertigung der Klausur prüfungsunfähig gewesen sei. Einen Rücktritt von der Klausur könne sie darauf jedoch nicht stützen, weil sie sich an ihrer auf einer bewussten Risikoübernahme beruhenden Entscheidung, die Prüfung gleichwohl abzulegen, festhalten lassen müsse. Unabhängig davon komme eine Genehmigung des Rücktritts nicht in Betracht, weil sie den Rücktritt nicht unverzüglich erklärt habe.

Es bedarf keiner Entscheidung, ob die Antragstellerin tatsächlich in Kenntnis ihrer krankheitsbedingt verminderten Leistungsfähigkeit die Prüfung angetreten hat und sie schon aus diesem Grund keinen Anspruch auf die Genehmigung des Rücktritts hat. Denn der Genehmigung des Rücktritts steht jedenfalls entgegen, dass die Antragstellerin die Rücktrittserklärung nicht unverzüglich abgegeben hat. Die gegen diese Annahme des VG mit der Beschwerde geltend gemachten Einwände greifen nicht durch.

Nach § 21 Abs. 3 der Verordnung über die Ausbildung und die II. Fachprüfung für den Laufbahnabschnitt II der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen können Kandidatinnen oder Kandidaten in besonderen Fällen mit Genehmigung des Prüfungsamtes von der Prüfung zurücktreten. Der Rücktritt ist - auch wenn dieses Erfordernis in der zitierten Regelung nicht ausdrücklich genannt ist - unverzüglich zu erklären. Diese Obliegenheit des Prüflings zur Mitwirkung findet ihren Rechtsgrund in dem auch im Prüfungsrechtsverhältnis geltenden Grundsatz von Treu und Glauben in Verbindung mit dem Gebot der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG).

BVerwG, Urteil vom 7.10.1988 - 7 C 8.88 -, BVerwGE, 80, 282, und Beschlüsse vom 3.1.1994 - 6 B 57.93 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 327, sowie vom 27.1.1994 - 6 B 12.93 -, DVBl. 1994, 640.

Der Grundsatz der Chancengleichheit bestimmt die Voraussetzungen, die an die Zulässigkeit eines Rücktritts zu stellen sind, aus zwei entgegengesetzten Richtungen. Einerseits gebietet er, dass dem Prüfling nicht in gleichheitswidriger Weise die Möglichkeit genommen werden darf, seine tatsächliche, von erheblichen Beeinträchtigungen unbeeinflusste Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Andererseits darf der Prüfling mit dem Rücktritt seine Chancen gegenüber seinen Mitbewerbern nicht gleichheitswidrig verbessern, indem er sich eine ihm nicht zustehende weitere Prüfungschance verschafft.

BVerwG, Urteil vom 7.10.1988, aaO.

Ein Prüfungsrücktritt ist danach nicht mehr unverzüglich, wenn der Prüfling die Rücktrittserklärung nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt abgegeben hat, zu dem sie von ihm zumutbarer Weise hätte erwartet werden können. Das hängt allein davon ab, wann der Prüfling den Rücktritt ohne schuldhaftes Zögern hätte erklären können und müssen. Ob ein Prüfling den Rücktritt unverzüglich erklärt hat, kann nur unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgestellt werden.

BVerwG, Urteil vom 7.10.1988 und Beschluss vom 3.1.1994, jeweils aaO.

Müssen sich bei dem Prüfling nachträglich Zweifel hinsichtlich seiner Prüfungsfähigkeit in einer zurückliegenden Prüfung einstellen, so ist er verpflichtet, sich unverzüglich Klarheit über seine damalige Prüfungsfähigkeit zu verschaffen und im Falle der Bestätigung dieser Zweifel umgehend den Rücktritt von der Prüfung zu erklären. Diese Verpflichtung ergibt sich aufgrund der auf dem Grundsatz von Treu und Glauben beruhenden Obliegenheit zur Mitwirkung an der Prüfung, zu der gehört, dass er sich im Krankheitsfall selbst um die Frage seiner Prüfungsfähigkeit und eines eventuell erforderlichen Rücktritts kümmert.

Vgl. entsprechend zu Zweifeln an früheren ärztlichen Äußerungen zur Prüfungsfähigkeit aufgrund einer neuen ärztlichen Diagnose: BVerwG, Urteil vom 15.12.1993 - 6 C 28.92 -, NVwZ-RR 1994, 442.

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Rücktrittserklärungen der Antragstellerin (vom 14.8.2006 oder vom 11.9.2006) hinsichtlich der am 26.6.2006 im Fach Verkehrslehre/Verkehrsrecht angefertigten Klausur nicht mehr als unverzüglich anzusehen. Dabei unterstellt der Senat zu Gunsten der Antragstellerin, dass sie aufgrund der akuten Entzündung eines unteren Backenzahns einschließlich des umgebenden Knochengewebes sowie der Einnahme starker, mit erheblichen Nebenwirkungen verbundener Schmerzmittel im Wege der Selbstmedikation am Prüfungstag nicht in der Lage war, ihren Gesundheitszustand realistisch wahrzunehmen und entsprechend zu handeln. Infolgedessen durfte unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten die Erklärung des Rücktritts bereits am Prüfungstag nicht von ihr verlangt werden. Der Antragstellerin hätten sich aber nach dem Abklingen der Schmerzen sowie der (Neben-)Wirkungen der Medikamente Zweifel aufdrängen müssen, ob ihre am Prüfungstag getroffene Einschätzung über die eigene Prüfungsfähigkeit zutreffend war. Ausweislich ihres Vortrags im Beschwerdeverfahren war die Antragstellerin zwei Tage nach dem fraglichen Klausurtag, das heißt am 28.6.2006, wieder in der Lage, Prüfungen zu absolvieren, weil bis dahin die Schmerzen und die Nebenwirkungen (Benommenheit, Störung der Wahrnehmungsfähigkeit, "nahezu euphorische Stimmung") abgeklungen waren. Mit der Normalisierung ihres Gesundheitszustandes hätte sie sich Klarheit über ihre Prüfungsfähigkeit am Klausurtag verschaffen müssen. Dies wäre ihr auch möglich und zumutbar gewesen. Dem steht nicht entgegen, dass sie sich nach ihrem subjektiven Empfinden am Prüfungstag gesundheitlich für voll leistungsfähig gehalten hatte. Denn ihr waren die wesentlichen, ihre mutmaßliche Prüfungsunfähigkeit begründenden Umstände bekannt, so dass sie nach dem Abklingen der Nebenwirkungen zu einer abweichenden Einschätzung ihrer Leistungsfähigkeit am Prüfungstag hätte gelangen müssen. Sie wusste schon zu diesem Zeitpunkt, dass sie während der Anfertigung der Klausur unter einer schweren Entzündung des Backenzahns gelitten und bereits in der Nacht vor der Prüfung verschiedene starke Schmerzmittel eingenommen hatte. Ferner konnte sie offenbar erinnern, dass ihr ein Dozent der Fachhochschule, ihr Zahnarzt sowie ihr Freund von der Teilnahme an der Prüfung dringend abgeraten hatten. Angesichts dieser besonderen Umstände hätten sich der Antragstellerin im Nachhinein Bedenken hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit aufdrängen müssen. Soweit sie persönlich nicht in der Lage gewesen sein sollte, die Auswirkungen der genannten Umstände auf ihre Prüfungsfähigkeit im Einzelnen richtig einzuschätzen, wäre sie verpflichtet gewesen, dem nachzugehen und sich um Aufklärung zu bemühen. Das war ihr auch zuzumuten und wäre mit keinem besonderen Aufwand verbunden gewesen. Nach dem Abklingen der Krankheitssymptome und dem Nachlassen der Nebenwirkungen hatte sie genügend Zeit, sich über die Auswirkungen von Krankheit und Medikamenten Klarheit zu verschaffen. Zu diesem Zweck hätte sie lediglich ihren Zahnarzt zu Rate ziehen müssen. Stattdessen hat sie, obwohl sie Zweifel hätte haben müssen, zunächst das Ergebnis der Prüfung abgewartet. Dass der Antragstellerin ausweislich ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 7.1.2007 erst am Tag der Bekanntgabe der Klausurergebnisse tatsächlich "erstmals bewusst geworden" ist, dass sie am 26.8.2006 nicht in der Lage gewesen war, an einer Klausur teilzunehmen, ist daher nicht von Belang.

Ende der Entscheidung

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