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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 19.06.2007
Aktenzeichen: 6 B 383/07
Rechtsgebiete: SGB IX, SchwbG 1979, SchwbG 1986


Vorschriften:

SGB IX § 95 Abs. 2
SchwbG 1979 § 22 Abs. 2
SchwbG 1986 § 25 Abs. 2
1. Die Auswahlentscheidung im Beförderungsverfahren ist fehlerhaft, wenn die nach § 95 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX erforderliche Anhörung der Schwerbehindertenvertretung nicht erfolgt ist (Abweichung von BVerwG, Beschluss vom 25.10.1989 - 2 B 115.89 -, ZBR 1990, 180).

2. Der Dienstherr kann einen Zeitpunkt wählen, bis zu dem die Beförderungsbewerber alle Tatsachen, die nur sie geltend machen können, vorgetragen haben müssen. Verspätetes Vorbringen kann er unberücksichtigt lassen.

3. Fehlt eine solche Bestimmung und beruft sich der Beförderungsbewerber erstmals im Widerspruchsverfahren auf seine Schwerbehinderung, kann die dadurch nötig werdende Anhörung der Schwerbehindertenvertretung im Widerspruchsverfahren vorgenommen werden.


Tatbestand:

Im Widerspruch gegen die ihre Bewerbung ablehnende Konkurrentenmitteilung eröffnete eine Beamtin erstmals ihre Schwerbehinderung und berief sich darauf. Der Dienstherr beteiligte die Schwerbehindertenvertretung im Widerspruchsverfahren nicht. Den auf Erlass einer Sicherungsanordnung gerichteten Antrag der Beamtin lehnte das VG ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hatte Erfolg.

Gründe:

1. Nach § 95 Abs. 2 SGB IX hat der Arbeitgeber - wozu nach § 71 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX auch der Dienstherr eines Beamten zählt - die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören; er hat ihr die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen. Die Durchführung oder Vollziehung einer ohne Beteiligung nach Satz 1 getroffenen Entscheidung ist auszusetzen, die Beteiligung ist innerhalb von sieben Tagen nachzuholen; sodann ist endgültig zu entscheiden.

Die Bescheidung des Beförderungsantrags eines dem Schutz des Sozialgesetzbuches - Neuntes Buch - unterfallenden Beamten stellt eine Entscheidung in diesem Sinne dar. Genügt der Dienstherr im Beförderungsverfahren der aus § 95 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX folgenden Pflicht zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung nicht, ist die Auswahl fehlerhaft und die hierauf gestützte Ablehnung des Beförderungsantrags des schwerbehinderten Beamten rechtswidrig.

Die allgemeine Pflicht zur Anhörung des damaligen Vertrauensmanns der Schwerbeschädigten vor Entscheidungen, die den geschützten Personenkreis betrafen, fand sich bereits in § 13 Abs. 2 Satz 6 des Schwerbeschädigtengesetzes vom 16.6.1953 (BGBl. I S. 389). Unverändert wurde § 13 Abs. 2 Satz 6 in das Schwerbeschädigtengesetz vom 14.8.1961 (BGBl. I S. 1234) übernommen. Im Wesentlichen inhaltsgleich führte § 22 Abs. 2 des Schwerbehindertengesetzes vom 8.10.1979 (BGBl. I S. 1649) die Anhörungspflicht fort. Mit § 25 Abs. 2 des Schwerbehindertengesetzes in der ab dem 1.8.1986 geltenden Fassung (BGBl. I S. 1421, 1550) fand erstmals die auch heute noch geltende Formulierung des § 95 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX mit ihren besonderen Verfahrenvorschriften Eingang in das Gesetz.

Zu § 13 Abs. 2 Satz 6 SchwerbeschädigtenG 1961 hat das BVerwG entschieden, wegen der Unbestimmtheit der Angelegenheiten, in denen der Vertrauensmann der Schwerbeschädigten bei dienstrechtlichen Maßnahmen zu beteiligen sei, trete "die schwerwiegende Folge der Rechtswidrigkeit" bei unterbliebener Anhörung nur ein, wenn es sich "um eine in die Rechtsverhältnisse und die Sphäre des Beamten einschneidend eingreifende Maßnahme" handele. Das sei nicht der Fall, wenn das statusrechtliche Amt und das funktionelle Amt im abstrakten Sinne unberührt bleibe, etwa bei einer Umsetzung, die nicht in die Privatsphäre des Beamten eingreife.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.4.1977 - VI C 154.73 -, Buchholz 232 § 26 BBG Nr. 18.

Unter Berufung auf dieses Urteil hat das BVerwG zu der Nachfolgeregelung des § 22 Abs. 2 SchwbG 1979, der "inhaltlich keine Veränderung erkennen" lasse, die Auffassung bekräftigt, dass die unterbliebene Anhörung nur bei einer "in die Sphäre des Beamten einschneidend eingreifenden Maßnahme" zu deren Rechtswidrigkeit führe.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 C 40.82 -, ZBR 1986, 274; Beschluss vom 10.7.1985 - 2 B 75.84 -, Buchholz 232 § 26 BBG Nr. 24.

Ohne sich mit dieser früheren Rechtsprechung auseinanderzusetzen, hat das BVerwG zu § 25 Abs. 2 SchwbG 1986 entschieden, dass eine Verletzung der Anhörungspflicht nicht die Rechtswidrigkeit der getroffenen Maßnahme nach sich ziehe. Die anderslautende Bewertung für "in die Späre des Beamten einschneidend eingreifende Maßnahmen" hat es dabei nicht aufrecht erhalten.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 25.10.1989 - 2 B 115.89 -, ZBR 1990, 180, und vom 17.8.1998 - 2 B 61.98 - (juris).

Dieser jüngeren Rechtsprechung folgt der Senat für die Auswahlentscheidung in einem Beförderungsverfahren nicht. § 95 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX unterscheidet sich ebenso wie § 25 Abs. 2 SchwbG 1986 von seinen Vorgängernormen nur dadurch, dass das Verfahren zur Heilung einer unterbliebenen Anhörung nunmehr ausdrücklich geregelt ist, indem die Aussetzung der Vollziehung und die Nachholung der Beteiligung vor der endgültigen Entscheidung angeordnet wird. Eine weitergehende Regelung der Fehlerfolgen, insbesondere der Frage, ob die ohne Anhörung getroffene Entscheidung zunächst rechtswidrig ist, lässt sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen.

Im Wesentlichen nichts anderes gilt für die Entstehungsgeschichte: Der federführende Ausschuss des Bundestages war zwar mehrheitlich der Auffassung, dass eine ohne Anhörung getroffenen Entscheidung nicht als unwirksam behandelt werden dürfe, weil dies zu Rechtsunsicherheit führe und mögliche Auswirkungen auf die Rechte Dritter nicht vertretbar seien. Beratungsgegenstand waren aber erkennbar nur privatrechtliche Arbeitsverhältnisse.

Vgl. BT-Drs. 10/5701 S. 7 f.

Die Ablehnung der zivilrechtlichen Unwirksamkeit einer Arbeitgebermaßnahme lässt nicht den Schluss zu, dass der Gesetzgeber bei dienstrechtlichen Maßnahmen im Beamtenverhältnis nicht nur die Unwirksamkeit (Nichtigkeit), sondern auch deren bloße Rechtswidrigkeit ausschließen wollte. Den Materialien lässt sich hierzu nichts entnehmen. Die Gesetz gewordene Regelung entspricht vielmehr im Gegenteil strukturell der Heilung einer unterbliebenen Verfahrenshandlung wie sie § 45 Abs. 1 VwVfG für formell rechtswidrige Verwaltungsakte allgemein vorsieht. Eine solche Heilung des Anhörungsmangels setzt aber voraus, dass die Maßnahme bis zur Nachholung der Anhörung rechtswidrig ist und - solange die Nachholung nicht stattfindet - rechtswidrig bleibt.

Der Senat legt daher für Beförderungsentscheidungen weiter die Rechtsprechung des BVerwG zu § 22 Abs. 2 SchwbG 1979 und dessen Vorläufern zugrunde. Die Ablehnung eines Beförderungsantrags betrifft den Beamten nicht nur als Amtswalter, sondern greift in seine persönliche Rechtsstellung ein. Sie ist demzufolge rechtswidrig, wenn die Schwerbehindertenvertretung unter Verstoß gegen die gesetzliche Vorgabe des § 95 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX nicht vorher angehört worden ist.

2. Die Pflicht zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung und damit die Rechtswidrigkeit der ohne Anhörung getroffenen Entscheidung entfallen nicht deswegen, weil der Beamte sich erst im Widerspruchsverfahren auf seine Schwerbehinderung beruft. Ergeht im Beamtenverhältnis die Entscheidung im Sinne des § 95 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX durch Verwaltungsakt, ist sie, jedenfalls wenn sie mit einem Widerspruch angegriffen wird, erst mit dessen Bescheidung getroffen (vgl. §§ 79 Abs. 1 Nr. 1, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht sind Rechts- und Tatsachenänderungen, die bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids eintreten, von der Widerspruchsbehörde zu berücksichtigen, wenn das materielle Recht nichts anderes vorsieht.

§ 95 Abs. 2 Satz 2 SGB IX lässt sich eine Ausnahme von diesem Berücksichtigungsgebot nicht entnehmen. Es ist allerdings bei Beförderungsentscheidungen ein legitimes - öffentliches - Interesse des Dienstherrn an einer zügigen Stellenbesetzung anzuerkennen. Daher ist es dem Dienstherrn unbenommen, einen Zeitpunkt zu wählen, bis zu dem Tatsachen, die nur von dem Beförderungsbewerber selbst geltend gemacht werden können, vorgetragen sein müssen. Verspätetes Vorbringen muss der Dienstherr nicht berücksichtigen.

Vgl. zu Bewerbungsfristen OVG NRW, Beschlüsse vom 24.6.2004 - 6 B 1114/04 - (juris), und vom 5.4.2002 - 1 B 1133/01 -, NVwZ-RR 2003, 52.

Entscheidet sich der Dienstherr im Rahmen seiner organisatorischen Dispositionsbefugnis gegen ein solches Verfahren, so hat er auch späteren Vortrag zu berücksichtigen, und zwar selbst dann, wenn seine Auswahlentscheidung bereits gefallen ist und es nur noch um deren Aufrechterhaltung gehen kann.

Hiermit tritt der Senat der Rechtsprechung des BVerwG, die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung sei im Widerspruchsverfahren nicht nachholbar, nicht entgegen. Der vorliegende Streitfall weicht nämlich wesentlich von dem ab, der dem Urteil des BVerwG zugrunde lag.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.1963 - VI C 203.61 -, BVerwGE 17, 279.

Dort war dem Dienstherrn erst im Laufe des Widerspruchsverfahrens aufgefallen, dass er die bereits bei der Ausgangsentscheidung notwendige Anhörung unterlassen hatte. Davon unterscheidet sich der Fall, dass der Beamte sich erst im Widerspruchsverfahren zur Aufdeckung und Geltendmachung seiner Schwerbehinderung entschließt.

Ende der Entscheidung

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