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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 03.05.2007
Aktenzeichen: 7 A 2364/06
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 73
1) Bestimmt eine bauordnungsrechtliche Regelung selbst, wann und unter welchen Voraussetzungen von ihr abgewichen werden darf, kann eine Abweichung von der bauordnungsrechtlichen Regelung auch dann in Betracht kommen, wenn keine atypische Grundstückssituation gegeben ist. In die nach § 73 BauO NRW dann erforderliche Ermessensentscheidung sind die nachbarlichen Interessen einzubeziehen.

2) Gestaltungsvorschriften haben regelmäßig keine nachbarschützende Wirkung. Dies gilt auch dann, wenn zur Festsetzung eingeschossiger Atriumbauweise eine Flachdachfestsetzung hinzutritt, der Satzungsgeber aber bestimmt, dass ausnahmsweise Dächer mit einer Neigung bis 20° errichtet werden dürfen.


Tatbestand:

Die Kläger sind Eigentümer von jeweils einem Wohngrundstück, das mit eingeschossigen Flachdachwohnhäusern in Atriumbauweise bebaut ist. Auch das Grundstück der Beigeladenen wurde mit einem eingeschossigen Flachdachwohnhaus bebaut. Die Kläger wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Erweiterung ihres Einfamilienhauses um ein Dachgeschoss mit geneigten Dachflächen.

Die fünf Grundstücke der Beteiligten sind mit einem weiteren Grundstück durch Bebauungsplan einem eingeschossig bebaubaren reinen Wohngebiet zugeordnet. Für den Bereich dieser Grundstücke setzt der Bebauungsplan "Atriumbauweise" und "Flachdach" fest. Der Bebauungsplan bestimmt ferner die "Baugestaltung (gemäß § 103 BauO NRW)" betreffende textlichen Festsetzungen:

"1. In den Gebieten mit Atriumbauweise können Dächer bis max. 20° Neigung als Ausnahme zugelassen werden. ..."

Antragsgemäß erteilte der Beklagte der Beigeladenen mit Bescheid vom 19.3.2003 die Baugenehmigung zur Erweiterung ihres Einfamilienhauses. Genehmigt ist die (zwischenzeitlich verwirklichte) Errichtung eines Daches über dem zum Grundstück der Kläger zu 1., zu 2. und zu 3. grenzständig errichteten Wohnhausteil, das nach Norden, Westen und Osten mit einer Dachneigung von 20° abgewalmt ist. Das Dach schließt in südlicher Richtung an ein über dem südlichen Wohnhausschenkel errichtetem Pultdach an, das von der westlichen Traufseite des Wohnhauses mit einer Neigung von 20° in Richtung Osten ansteigt. Über der östlichen Außenwand, die zum Grundstück der Kläger zu 3. weist, erreicht es eine Höhe (Schnittpunkt der Außenwand mit der Dachhaut) von 6,04 m. Die nördliche Außenwand des durch das Pultdach überspannten Dachraums hält in nördlicher Richtung einen Grenzabstand von etwa 4,75 m. In der nach Osten gerichteten Außenwand des Obergeschosses sind keine Fenster eingebaut. Der Dachraum ist über eine Innentreppe zu erreichen. Die Nutzung ist mit einem Bad sowie einem Wohnraum angegeben, der durch Fenster in der Südwand sowie über eine 2,5 m breite Loggia, die nach Westen ausgerichtet ist, belichtet wird.

Die Widersprüche der Kläger blieben ebenso erfolglos wie - in zweiter Instanz - ihre Klage.

Gründe:

Das Vorhaben der Beigeladenen widerspricht den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht (vgl. § 30 Abs. 1 BauGB; hierzu im Folgenden unter 1.). Die Abweichung von den in den Bebauungsplan aufgenommenen örtlichen Gestaltungsvorschriften ist rechtmäßig und verletzt keine Rechte der Kläger (hierzu unter 2.).

1) Die Festsetzungen des Bebauungsplans sind inhaltlich bestimmt. Mit der Festsetzung "Atriumbauweise" ist bauplanungsrechtlich die Errichtung von Gebäuden vorgegeben, die den jeweiligen Häusern zugeordnete (Garten-)höfe in einer Weise (teilweise) umschließen, dass sie vor fremder Einsicht grundsätzlich geschützt sind. § 17 Abs. 2 BauNVO in der für den Bebauungsplan maßgebenden Fassung der Bekanntmachung vom 26.11.1968, BGBl. I 1968 S. 1237 (BauNVO 1968), ermöglichte für diesen Haustyp die Festsetzung einer Grundflächenzahl und einer Geschossflächenzahl von 0,6. § 17 Abs. 2 BauNVO 1968 legte jedoch weder die Dachform noch die Eingeschossigkeit für Atriumhäuser fest.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.9.1984 - 4 B 202.84 -, NVwZ 1985, 748 = BRS 42 Nr. 123.

Mit der Festsetzung "I" (eingekreist) hat der Bebauungsplan die Zahl der zulässigen Vollgeschosse festgesetzt (vgl. § 16 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 BauNVO 1968), und zwar, wie sich aus der Umkreisung der römischen Ziffer 1 ergibt, als zwingende Höchstgrenze. Ein Dachausbau oberhalb des einen Vollgeschosses, der selbst die Dimensionen eines Vollgeschosses nicht erreicht, widerspricht einer solchen Bebauungsplanfestsetzung nicht.

Der Bebauungsplan ist auch insoweit bestimmt, als in ihn gemäß § 4 der Ersten Durchführungsverordnung zum Bundesbaugesetz vom 29.11.1960, GV. NRW. S. 433, in der Fassung der Änderungsverordnung vom 21.4.1970, GV. NRW. S. 299, in Verbindung mit § 103 Abs. 3 Satz 4 BauO NRW in der Fassung der Bekanntmachung vom 27.1.1970, GV. NRW. S. 96, auf § 103 Abs. 1 Nr. 1 BauO NRW 1970 gestützte Gestaltungsvorschriften aufgenommen worden sind. Ob die Bestimmtheit einer Gestaltungsvorschrift für die Bestimmtheit des Bebauungsplans im Übrigen von Belang sein kann, ist hier nicht entscheidungserheblich, denn die Gestaltungsvorschrift ist bestimmt. Nr. 1 der Gestaltungsfestsetzungen bestimmt, dass in den Bereichen des Bebauungsplans, in denen bauplanungsrechtlich die Atriumbauweise vorgegeben ist, ausnahmsweise Dächer mit einer Neigung von max. 20° zugelassen werden können. Demnach sind Dächer ohne Neigung sowie solche, wenngleich nur ausnahmsweise, zulässig, die den in Nr. 1 der Gestaltungsfestsetzungen angegebenen Höchstneigungsgrad nicht überschreiten.

Mängel des Bebauungsplans, die seine Unwirksamkeit begründen könnten, sind nicht ersichtlich. (wird ausgeführt)

2) Von den in den Bebauungsplan aufgenommenen Gestaltungsfestsetzungen hat der Beklagte rechts- und ermessensfehlerfrei durch Erteilung der Baugenehmigung eine Abweichung zugelassen.

Regelungen der Dachform sind keine städtebaulichen Festsetzungen des Bebauungsplans. Es handelt sich um örtliche Gestaltungsvorschriften, die aus-schließlich auf landesrechtlicher Grundlage des Bauordnungsrechts getroffen werden.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 5.11.1993 - 7a D 192/91.NE -, und vom 3.8.2000 - 7 A 4704/99 -.

Für die auf landesrechtlicher Grundlage getroffene Festsetzung der Dachform entscheidet sich nach § 73 BauO NRW, nunmehr in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.12.2006, GV. NRW. S. 615, ob von der Festsetzung abgewichen werden kann.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 25.8.1999 - 7 A 4459/96 -, BRS 62 Nr. 155.

Soweit § 73 BauO NRW eine Abweichung von bauaufsichtlichen Anforderungen aufgrund der Bauordnung erlassener Vorschriften zulässt, erfasst er damit sowohl solche Fälle, in denen das Gesetz oder aufgrund des Gesetzes erlassene Vorschriften bereits selbst bestimmen, wann und unter welchen Voraussetzungen von dem Gesetz oder den Vorschriften abgewichen werden kann, als auch solche Fälle, in denen die Vorschriften zwingend sind. Nach früheren Fassungen der Bauordnung sind dieser Unterscheidung entsprechend Ausnahmen (von den nicht zwingenden Vorschriften) bzw. Befreiungen (von den zwingenden Vorschriften) in Betracht gekommen (vgl. § 68 BauO NRW in der Fassung der Bekanntmachung vom 26.6.1984, GV. NRW. S. 419). Mit dem Begriff der Abweichung ist die Unterscheidung zwischen Ausnahme und Befreiung aufgegeben worden.

Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Stand September 2001, § 73 Rdnr. 1.

Von Belang ist hingegen weiterhin, ob eine Abweichung von zwingendem Recht in Rede steht, die eine atypische Grundstückssituation voraussetzt, vgl. hierzu in einem die Abstandanforderungen des § 6 BauO NRW betreffenden Fall: OVG NRW, Beschluss vom 2.3.2007 - 10 B 275/07 -, oder ob die bauordnungsrechtliche Regelung eine Ausnahme von vornherein zulässt; in diesem Fall verbleibt es bei der Anforderung an eine ermessensgerechte Entscheidung, in die die nachbarlichen Interessen einzubeziehen sind. Diesen Anforderungen hat der Beklagte durch Erteilung der Baugenehmigung im Ergebnis genügt. Auf das Ergebnis seiner Ermessensentscheidung ist auch ohne in der Baugenehmigung ausdrücklich verlautbarte Ermessenserwägungen abzustellen, da die Nachbarklage nur dann Erfolg haben kann, wenn eine Abweichung nicht ermessensgerecht erteilt werden kann. Für die Gewichtung der in die Ermessensentscheidung einzustellenden Belange ist von besonderer Bedeutung, ob die Abweichung nachbarschützende Rechte der Kläger betrifft. Solche Rechte stehen hier jedoch nicht in Rede. Insbesondere hat die Flachdachfestsetzung keine nachbarschützende Wirkung.

Wie das VG bereits zutreffend dargelegt hat, kommt Gestaltungsvorschriften regelmäßig keine nachbarschützende Wirkung zu. Auch § 17 Abs. 2 BauNVO 1968, der der festgesetzten Atriumbauweise zugrunde liegt, besitzt selbst keine nachbarschützende Wirkung.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 20.9.1984 - 4 B 202.84 -, a.a.O., und vom 5.5.1994 - 4 NB 16.94 -, Buchholz 406.12 § 17 BauNVO Nr. 6.

Die nachbarschützende Wirkung der Gestaltungsvorschrift ergibt sich hier aber auch nicht aus dem mit den Festsetzungen des Bebauungsplans im Übrigen verfolgten Anliegen. Ob Festsetzungen eines Bebauungsplans, die nicht generell nachbarschützende Bedeutung haben, nachbarschützende Wirkung nach dem Willen des Plangebers haben sollen, kann sich im Einzelfall aus Inhalt und Reichweite der Festsetzung, ihrem Zusammenhang mit den anderen Regelungen des Bebauungsplans, der Planbegründung oder anderen Unterlagen und Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung ergeben. Hierbei ist insbesondere von Bedeutung, ob die Nachbarn durch die Festsetzung im Sinne eines "Austauschverhältnisses" rechtlich derart verbunden werden, dass sie zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet sind oder eine "Schicksalsgemeinschaft" bilden, aus der keiner der Beteiligten ausbrechen darf. Anhaltspunkte für eine nachbarschützende Wirkung der Festsetzung ergeben sich hier jedoch weder aus dem Inhalt der Akten über das Bebauungsplanverfahren noch aus anderen Umständen. Den Akten über das Bebauungsplanverfahren ist kein Hinweis darauf zu entnehmen, der Flachdachfestsetzung habe nachbarschützende Wirkung beigemessen werden sollen. Selbst wenn die Ausnahmeregelung dadurch motiviert gewesen sein sollte, dass geneigte Dächer (ausnahmsweise) zugelassen werden sollten, um bauphysikalischen Problemen von Flachdächern bautechnisch begegnen zu können, ergibt sich hieraus keine nachbarschützende Wirkung der Festsetzung selbst. Vielmehr ist eine Flachdachfestsetzung grundsätzlich ein Gestaltungsmittel, wie es die Ermächtigungsnorm des § 103 BauO NRW 1970 auch voraussetzt.

Auch verbindet die Flachdachfestsetzung als solche die Nachbarn des Plangebiets nicht zu einer Schicksalsgemeinschaft dahingehend, dass alle Eigentümer an die Flachdachfestsetzung gebunden sein sollten, weil auch alle anderen sich an diese Festsetzung halten müssen. Denn die Flachdachfestsetzung selbst ist bereits mit einer Ausnahmeregelung verknüpft und damit nach eindeutiger Vorstellung des Normgebers eben gerade nicht einschränkungslos beachtlich. Zumindest in Fällen bauphysikalischer Notwendigkeiten mussten alle Grundstückseigentümer des Plangebiets damit rechnen, dass auf dem Nachbargrundstück ein geneigtes Dach mit einer Neigung bis 20° errichtet wird.

Gerade die Ausnahmemöglichkeit zeigt auf, dass der Plangeber die Flachdachfestsetzung nicht als eine solche angesehen hat, auf deren Einhaltung der Nachbar in dem Sinne sollte vertrauen dürfen, dass es nicht zur Erteilung einer Ausnahme (Abweichung) kommen dürfe. Denn anders als in Fällen einer Befreiung bedenkt die Gemeinde bei einer Ausnahme Art und Umfang der Ausnahme mit; die Ausnahme ist - wenn sie voraussetzungsgemäß in Maßen angewandt wird - eine die Plankonzeption nicht berührende Maßnahme, denn sie ist vom planerischen Willen umfasst.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1998 - 4 C 16.97 -, BVerwGE 108, 190 = BRS 60 Nr. 71; Berliner Kommentar, Baugesetzbuch, § 31 BauGB Rdnr. 2.

Allenfalls nach Maßgabe dieses durch die Ausnahme mitbestimmten Plankonzepts könnte zu erwägen sein, ob den Eigentümer des Plangebiets durch die Festsetzung Nachbarschutz eingeräumt werden sollte, der der Genehmigung von Dächern mit einer größeren Neigung entgegengestellt werden kann; um einen solchen Fall geht es hier aber nicht.

Soweit die Bausenate des OVG einem Bebauungsplan nachbarschützende Wirkung beigemessen haben, wenn zur Festsetzung eingeschossiger Atriumbauweise eine Flachdachfestsetzung mit der Folge hinzutrat, dass in dem Planbereich nur Häuser mit Flachdächern zulässig sind und diese Festsetzungen für die von ihnen erfassten Grundstücke eine durchgängige und insbesondere Schutz vor Einsichtnahme gewährleistende bauliche Nutzung vorgaben, vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.2.1997 - 10a B 3010/96.NE -; Urteil vom 25.8.1999 - 7 A 4459/96 -, BRS 62 Nr. 155, betrafen diese Entscheidungen anders gelagerte Sachverhalte. Die Flachdachfestsetzung beansprucht hier keine ausnahmslose Geltung, sondern lässt Ausnahmen für Dachneigungen bis 20° zu.

Die Ermessensausübung des Beklagten, die der erteilten Baugenehmigung der Sache nach zugrunde liegt, hatte nach alledem keine nachbarschützenden Rechte der Kläger in Rechnung zu stellen, wohl aber nachbarliche Belange zu berücksichtigen. Nachbarliche Belange werden durch die Baugenehmigung nicht in einer derartigen Weise berührt, dass die Baugenehmigung als ermessenswidrig, insbesondere den Klägern gegenüber als mit den Anforderungen des Gebots der Rücksichtnahme unvereinbar anzusehen wäre. (wird ausgeführt)

Ende der Entscheidung

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